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cc) Zurechnung des Verschuldens

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Verbreitet[233] wird dem Verband nicht nur das Handeln (Rn. 59), sondern auch das („originäre“) Verschulden seiner Leitungspersonen als „eigenes“ zugerechnet und am herkömmlichen Schuldbegriff festgehalten. Der Verband kann damit für jede verbandsbezogene Straftat, die eine Leitungsperson verwirklicht hat, verantwortlich gemacht werden. Zudem kann dem Verband ein Überwachungsverschulden einer Leitungsperson vorgeworfen werden, wenn eine ihr unterstellte Person eine betriebsbezogene Straftat begangen hat. Für Rogall[234] handelt es sich nicht um eine „Zurechnung von Fremdverantwortung“, sondern um eine „Eigendelinquenz des Verbands“, eine Form der „Selbstbegehung“, eine „organschaftliche Verbandstäterschaft“; dem Verband werde das schuldhafte Verhalten wegen der besonderen Stellung seiner Repräsentanten als „eigenes“ zugerechnet; in den Handlungen gelange nicht nur eine fehlerhafte individuelle, sondern vor allem auch „fehlerhafte kollektive Sinnsetzung“ zum Ausdruck. Weitergehend will Engelhart[235] einem Unternehmen die schuldhaften Handlungen aller Personen zurechnen, die ihm angehören, soweit diese durch Compliance-Programme verhindert oder wesentlich erschwert worden wären, also diesbezüglich ein Organisationsverschulden vorliegt.

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Scharfe Kritik an dieser Zurechnungslösung hat vor allem Schünemann[236] geübt, ihr „Schlichtheit“ und „geringsten argumentativen Aufwand“ attestiert; sie bestehe in nichts anderem als einer „quaternio terminorum“ des Handlungs- wie des Schuldbegriffs: Zurechnung einer fremden Handlung sei keine Handlung, Zurechnung fremder Schuld könne eine fehlende Schuldvoraussetzung nicht ersetzen, sei eine „Überstülpung zivilrechtlicher Zurechnungsmodelle auf das Strafrecht“, ein primitives Abreagieren der „Frustration nach unerfreulichen Ereignissen durch wildes Um-sich-Schlagen“.[237] Frisch[238] wendet ein, die Zurechnungslösung missachte wichtige Prinzipien und Grenzen der strafrechtlichen Zurechnung, verkenne deren „Tiefenstruktur“; zugerechnet werden müssten die subjektiven Grundlagen (Vorsatz; Absichten) und damit etwas, was niemals Gegenstand, sondern selbst Grundlage der Zurechnung sei; außerdem gehe es allenfalls um „Teilnahmeunrecht“, da der juristischen Person nur vorgeworfen werden könne, durch ihre Existenz, durch bestimmte Strukturen und durch fehlende Vorkehrungen die Begehung der Straftat einer natürlichen Person ermöglicht oder erleichtert zu haben; dem Teilnehmer könne aber das Unrecht der Tat nicht als eigene Straftat zugerechnet werden; es handele sich um eine „Begriffsvertauschung“, „Begriffsvermengung“, möglicherweise partiell einen „Begründungstrick“.

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Diese Kritik verkennt, dass es nicht darum geht, ob bereits de lege lata eine strafrechtliche Zurechnung erfolgen kann, sondern ob diese de lege ferenda normier- und legitimierbar ist. Im geltenden Kriminalstrafrecht ist die Zurechnung der Schuld von Menschen an Verbände „als eigene“ bislang ausgeschlossen, da eine entsprechende Strafvorschrift nicht existiert. Dies heißt aber nicht, dass der Gesetzgeber sie nicht normieren könnte. Denn wenn er juristischen Konstrukten die Rechtsfähigkeit verleihen kann, kann er ihnen auch die schuldhaften Handlungen von Menschen „als eigene“ zurechnen.[239] Wie Vogel[240] es provokativ formuliert hat, darf der Gesetzgeber „in den Grenzen der Grund- und Menschenrechte und des Willkürverbots“ ein Unternehmensstrafrecht einführen, kann „selbstherrlich“ bestimmen, wer Zurechnungsendpunkt eines strafrechtlich relevanten Verhaltens ist, „ohne an eine bestimmte Dogmatik gebunden zu sein“. Mit anderen Worten: Er kann eine neue Dogmatik erschaffen bzw. die bisherige erweitern, solange dies nicht gegen die Verfassung verstößt. Schünemann[241] hat diese Sichtweise als „erzpositivistisch“ bzw. „neopositivistisch“ angeprangert, gegen ein Tätigwerden des Gesetzgebers wäre aber grds. nichts einzuwenden, da die Normierung einer Verbandsstrafe weder ethisch bzw. moralisch fragwürdig noch ungerecht wäre – im Gegenteil:

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Erstens kann der Vorwurf des Andershandelnkönnens auch gegenüber Verbänden erhoben werden, da sie „originär“ durch ihre Leitungspersonen und damit einsichtsfähige Menschen handeln, die in der Lage sind, sich am Recht zu orientieren.[242] In der Rechtspraxis wird der Verband gerade mit diesen Menschen, auf deren Handeln er angewiesen ist, identifiziert. Genauso wie ihr Handeln nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Bedeutung hat, hat auch die Schuld individuelle und kollektive Bedeutung. Das schuldhafte Verhalten der Leitungsperson verletzt nicht nur eigene Pflichten, sondern auch Pflichten des Verbands. Leitungs- und Verbandsverschulden können „in eins gesetzt“[243] werden. Zu weit dürfte es gehen, wenn Engelhart einem Unternehmen die schuldhaften Handlungen aller Unternehmensangehörigen zurechnet. Damit die Verantwortlichkeit nicht nur eine Zufallshaftung (hierzu Rn. 121) darstellt, muss er begrenzend ein Organisationsverschulden fordern, das aber nur den Leitungspersonen, die das Unternehmen organisieren, vorgeworfen werden kann. Im Übrigen würde in diesem „gemischt individuell-kollektiven Modell“[244] eine Verantwortlichkeit des Unternehmens streng genommen ausscheiden, wenn eine Leitungsperson eine Straftat begeht, die durch Compliance-Programme nicht hätte verhindert oder zumindest erschwert werden können.

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Zweitens kann wegen der Verletzung strafbewehrter Pflichten auch gegenüber Verbänden ein sozialethischer Schuldvorwurf erhoben werden. So hat Hirsch[245] darauf aufmerksam gemacht, dass in der „sozialen Wirklichkeit“ von der „Schuld“ eines Unternehmens gesprochen und damit ein sozialethischer Vorwurf erhoben wird. Hinzuweisen ist weiter darauf, dass der BGH bereits 1954[246] die Beleidigungsfähigkeit juristischer Personen anerkannt hat; zuvor war diese vereint worden, weil die Ehre allein auf den sittlichen Wert des Menschen gegründet sein sollte – ein Argument, das offenbar auch in diesem Bereich nicht mehr überzeugen konnte. Wer aber als Träger einer Ehre einen sozialethischen Wert für sich in Anspruch nehmen kann, dem kann auch bei Vornahme einer Straftat dieser Wert abgesprochen werden.[247] Treffend hat Kubiciel formuliert, dass die Schuldfähigkeit „keine natürliche Eigenschaft, sondern eine (rechts-)kulturelle“ ist: „Sie wird zugeschrieben, wobei sich diese Zuschreibung an sozialen Anschauungen orientiert“; die Gesellschaft habe sich mittlerweile daran gewöhnt, „Unternehmen Verantwortung für betriebsbezogene Straftaten zuzuweisen“.[248]

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Drittens wäre eine Schuldzurechnung weder willkürlich noch ungerecht, sondern ein Gebot der Gerechtigkeit: Wenn ein rechtliches Konstrukt vermittelt durch die Handlungen seiner Leitungspersonen von eröffneten Freiheiten rechtswirksam Gebrauch macht, muss das Konstrukt umgekehrt, wenn die Leitungspersonen diese Freiheit durch schuldhafte Handlungen missbrauchen, ebenso die damit verbundenen negativen Konsequenzen und damit eine Verbandsstrafe tragen.[249] Warum Unternehmen, die etwa als Kapitalgesellschaften verfasst sind, in dieser Hinsicht gegenüber Einzelunternehmern privilegiert sein sollen, ist nicht einsichtig. Den Unternehmen bzw. ihren Anteilseignern und Leitungspersonen mag diese Privilegierung zwar entgegenkommen, sie stellt aber einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil dar. Die durchgängige Beseitigung der Privilegierung juristischer Personen und Personenvereinigungen im Verhältnis zu natürlichen Personen war seinerzeit der Grund für die Einführung der Verbandsgeldbuße (Rn. 21). Diesbezüglich ist ebenso auf die mittlerweile zahlreichen Auslandsrechte hinzuweisen, in denen Unternehmen strafrechtlich verantwortlich gemacht werden können (Rn. 92). Der Einwand, wer ein „qualifiziertes Bild von der Strafe und ihrem Anknüpfungspunkt, der Straftat“ hat, könne die Strafe nicht gegenüber juristischen Personen einsetzen,[250] ist daher umzukehren.

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Viertens ist darauf hinzuweisen, dass die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG der Zurechnung der Schuld eines Menschen an den Verband nicht entgegensteht.[251] Zwar kann ein Verbandsstrafrecht aufgrund der Verankerung des Schuldgrundsatzes in der Menschenwürde nicht an ein nicht existentes „originäres“ Organisationsverschulden des Verbands anknüpfen (Rn. 67). Der normativen Zurechnung der „originären“ Schuld eines Menschen an den Verband steht die Menschenwürdegarantie aber gerade nicht entgegen, da sie wegen des Wesensvorbehaltes des Art. 19 Abs. 3 GG „juristischen Personen“ – worunter auch alle teilrechtsfähigen Personenmehrheiten und Organisationen zu fassen sind[252] – nicht zukommt. Insoweit besteht nur eine Bindung an Art. 2, 12 und 14 GG, wobei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die entscheidende Schranke bildet.[253]

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Fünftens ist festzustellen, dass der Gesetzgeber die Zurechnung der Schuld von Menschen an Verbände sogar partiell bereits normiert hat. Soweit hierfür auf § 31 BGB[254] oder § 25 StGB verwiesen wird, verfängt dies wiederum ebenso wenig wie bei der Frage der Handlungsfähigkeit (Rn. 59). Überzeugend ist erneut der Verweis auf § 30 OWiG,[255] da die Verbandsgeldbuße voraussetzt, dass dem Verband eine „vorwerfbare“ Handlung zur Last fällt (vgl. § 1 Abs. 1 OWiG). Der Schuldgrundsatz gilt jedoch sowohl im Straf- als auch im Ordnungswidrigkeitenrecht (Rn. 26). Der Unterschied, der zwischen Ordnungswidrigkeiten und Straftaten besteht, rechtfertigt keine abweichende Bewertung: Ordnungswidrigkeiten sind ethisch nicht völlig „wertneutral“, sondern es wird ebenfalls ein – wenn auch schwacher – sozialethischer Vorwurf erhoben.[256]

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Dem Verband wird daher bereits im geltenden Recht das schuldhafte (Straftat) bzw. vorwerfbare (Ordnungswidrigkeit) Verhalten einer Leitungsperson zugerechnet. Wenn aber § 30 OWiG keinen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz begründet, dann verstößt hiergegen auch eine parallel konstruierte strafrechtliche Regelung nicht. Im Übrigen kann auf die Strafvorschrift des § 74e StGB[257] hingewiesen werden, durch die dem Verband ein schuldhaftes Handeln seiner Organe und Vertreter ausdrücklich „zugerechnet“ wird. Schließlich ist erneut das BVerfG im Bertelsmann-Lesering-Beschluss von 1966 zu zitieren: „Wird sie [die juristische Person] für schuldhaftes Handeln im strafrechtlichen Sinne in Anspruch genommen, so kann nur die Schuld der für sie verantwortlich handelnden Personen maßgebend sein.“[258] Diese Aussage wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass das BVerfG in einem Beschluss von 1997 angeführt hat, dass die Geldbuße des § 30 OWiG „weder einen Schuldvorwurf noch eine ethische Mißbilligung enthält, sondern einen Ausgleich für die aus der Tat gezogenen Vorteile schaffen soll“.[259] Denn bei § 30 OWiG geht es eben nicht bloß um den Vorteilsausgleich (§ 17 Abs. 4 OWiG), sondern auch um die Ahndung[260] (Rn. 34). In anderer Hinsicht ist der Beschluss ebenfalls kritikwürdig, da er juristischen Personen die Berufung auf den Nemo-tenetur-Grundsatz im Hinblick auf deren fehlende Menschenwürde versagt hat, ohne zu berücksichtigen, dass dieser Grundsatz gleichfalls auf das Rechtsstaatsprinzip, die allgemeine Handlungsfreiheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und Art. 6 Abs. 1 EMRK gestützt werden kann, also Rechte, die auch juristischen Personen zustehen.

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