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III. Kontrollanspruch des BVerfG seit 1993

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Ausbrechende Rechtsakte

Zeitnah zur Intensivierung der deutschen Diskussion über die europäische Kompetenzreichweite erhob der Zweite Senat des BVerfG im Maastricht-Urteil 1993 in einem Obiter dictum erstmals den Anspruch, Kompetenzüberschreitungen der europäischen Einrichtungen und Organe festzustellen und entsprechende europäische Rechtsakte („ausbrechende Rechtsakte“) für in Deutschland unanwendbar zu erklären.[208] Die Kompetenzdebatte der damaligen Zeit legt nahe, dass hier vor allem europäische Gesetzgebung gemeint war.

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Grenzen der Hoheitsrechtsübertragung

Ausgangspunkt ist dabei die Behauptung des BVerfG, lediglich das Grundgesetz auszulegen und zu bestimmen, wie weit das auf dem Grundgesetz beruhende Zustimmungsgesetz die Mitwirkung in der EU trägt.[209] Um den Vorranganspruch des Europarechts geht es zunächst nicht. Die Frage ist gleichsam vorgelagert: ob überhaupt bestimmte Hoheitsrechte übertragen sind und Europarecht besteht. Dieser Zugriff ermöglicht es, dann eben doch das Europarecht auszulegen – was eigentlich nach den Verträgen letztverbindlich dem EuGH vorbehalten ist. Erzeugt wird eine Art Parallelversion des Europarechts durch die Karlsruher Brille.

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Ultra-vires-Kontrolle

Mit dem Lissabon-Urteil 2009 wurde nach 16 Jahren die „Ultra-vires-Kontrolle“ – eigentlich ohne konkreteren Anlass – reanimiert[210] und im Zuge einer umfassenden Absicherung nationaler Verfassungsgehalte neben eine Identitätskontrolle[211] gestellt. Ergänzt wurde diese Absicherung durch eine gleichsam europarechtsfeste Liste an Sachbereichen, die als wesentlich für die demokratische und politische Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse in den Mitgliedstaaten anzusehen sein sollen.[212]

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Deeskalation im Honeywell-Beschluss

Wohl auf die Kritik an der überzogenen Abwehrhaltung im Lissabon-Urteil hin ruderte der Zweite Senat 2010 mit dem Honeywell-Beschluss[213] alsbald deutlich zurück und stellte bei grundsätzlichem Beharren auf der Möglichkeit einer Ultra-vires-Kontrolle für eine entsprechende Feststellung hohe Hürden auf. In dieser Version konnte man der Möglichkeit einer Ultra-vires-Kontrolle sogar stabilisierende Züge für das Gesamtgefüge in einem nicht-hierarchischen Verfassungsmodell im Sinne gegenseitiger Stabilisierung zuschreiben,[214] eine Art Vorwirkung auf die europäische Kompetenzhandhabung.

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Ultra-vires-Feststellung im PSPP-Urteil

Mit Urteil vom 5. Mai 2020 hat der Zweite Senat des BVerfG mit einer Mehrheitsentscheidung diese Schwebelage zerstört und erstmals eine Ultra-vires-Feststellung getroffen, allerdings nicht im Hinblick auf europäische Gesetzgebung, sondern betreffend ein Anleihekaufprogramm der EZB („PSPP“) und ein diesbezügliches EuGH-Urteil.[215] Die Entscheidung ist auf breite Kritik gestoßen, hat aber auch vereinzelt Zuspruch erhalten.[216]

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Risiken eines überzogenen Kontrollanspruchs

Es lässt sich zeigen, dass die Senatsmehrheit im Zweiten Senat der Sache nach einen Ultra-vires-Akt im weiten Sinne beanstandet, was gegenüber der europäischen Ebene auf eine allgemeine Rechtskontrolle hinausläuft.[217] Dies ist mit den vertraglichen Verpflichtungen aus den Gründungsverträgen nicht vereinbar.[218] Das PSPP-Urteil missachtet letztlich eine alte Klugheitsregel im Recht: „Was, wenn das jeder täte?“. Schließlich könnten auch Höchstgerichte, Parlamente und andere Akteure in allen anderen Mitgliedstaaten eine eigene Verhältnismäßigkeitssicht zur EZB und Anderem einnehmen. So lassen sich sämtliche europarechtlichen Verpflichtungen vom Kartell- und Beihilfenrecht über das Umweltrecht bis hin zum Binnenmarktrecht in Frage stellen.[219] Dies birgt das Potenzial zur Destabilisierung des gesamten Europarechts.

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