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b) Das wegweisende Beispiel der Europäischen Agentur für die Grenz-
und Küstenwache
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Modell gemeinsamer Verantwortung
Ein wegweisendes Modell schafft in diesem Zusammenhang die Verordnung über eine Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache.[121] Die Migrationskrise im Jahr 2015 hatte die Defizite des Vorgängers Frontex aufgezeigt. Die neue Agentur, die freilich noch immer als Frontex bezeichnet wird, schafft ein Modell gemeinsamer Verantwortung für integriertes Grenzmanagement[122], im Rahmen dessen die Mitgliedstaaten ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips die primäre Verantwortung für ihren Teil der europäischen Außengrenze behalten. Ein funktionierendes und damit wirksames Grenzmanagement liegt aber nicht nur im Interesse des Mitgliedstaats an der Außengrenze, sondern im Interesse aller Mitgliedstaaten, die im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gemäß Art. 67 AEUV, dem sog. Schengen-Raum, die Kontrollen an ihren Binnengrenzen abgeschafft haben. Dies bedeutet dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend, dass immer dann, wenn ein Mitgliedstaat nicht fähig oder nicht willens ist, seine nationalen Außengrenzen zu Drittstaaten effektiv zu schützen und damit zugleich das „europäische Interesse“ an einem wirksamen Außengrenzschutz beeinträchtigt, der EU eine im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips graduell abgestufte Auffangverantwortung zukommt.[123]
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Auffangverantwortung
In Anwendung des auf das europäische Interesse bezogenen Solidaritätsprinzips kann die Agentur Empfehlungen aussprechen und finanzielle, personelle oder technische Unterstützung leisten. Wenn aber die nationalen Behörden nicht kooperieren, dann kann sie – legitimiert durch einen Ratsbeschluss mit qualifizierter Mehrheit – als ultima ratio auch ohne vorherige Anfrage seitens des betroffenen Mitgliedstaats, und damit gegen dessen Willen, im Sinne einer Auffangverantwortung selbst einschreiten. Voraussetzung ist konkret, dass aufgrund von Mängeln beim Vorgehen gegen einen das Funktionieren des Schengen-Raums potenziell gefährdenden Migrationsdruck dringender Handlungsbedarf besteht und den ausgesprochenen Empfehlungen der europäischen Ebene seitens der nationalen Behörden nicht nachgekommen wurde (Art. 42 VO (EU) 2019/1896). Die derzeitige Verordnung sieht als Reaktion zwar noch kein Selbsteintrittsrecht dergestalt vor, dass die Agentur den Schutz der Außengrenze im Zuge einer Auffangverantwortung, ermächtigt durch den Rat der EU, selbstständig übernimmt. Jedoch erlaubt sie dem Rat bereits jetzt ein Verschieben der Außengrenzen des Schengen-Raums an die Binnengrenzen des nicht kooperierenden Mitgliedstaats mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen. De facto würde der nicht kooperierende Mitgliedstaat damit aus dem Schengen-Raum ausgeschlossen.[124]
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Grenzen
Basierend auf der bereits erwähnten Meroni-Rechtsprechung,[125] die der EuGH mit dem ESMA-Urteil[126] ein wenig öffnete, setzt das Unionsrecht der Delegation von Befugnissen an Agenturen jedoch bestimmte Grenzen. Demnach ist eine Delegation im Rahmen des vertraglich geschaffenen institutionellen Gleichgewichts möglich. Konkret bedeutet dies: Innerhalb der Kompetenzordnung der Verträge (vgl. Art. 5 EUV) können nur klar umrissene Ausführungsbefugnisse übertragen werden, deren Kontrolle dem EuGH unterliegt. Nach dem ESMA-Urteil können einer Agentur auf Basis von Art. 114 AEUV aber auch direkte Überprüfungs- und Durchsetzungszuständigkeiten, einschließlich der Befugnis, Bußgelder zu verhängen, übertragen werden. Es dürfen jedoch weiterhin keine eigenständigen Zuständigkeiten der Agentur begründet werden; ihr Handlungsspielraum muss durch den zugrunde liegenden Rechtsakt klar begrenzt sein.[127] Wenn eine Rückbindung von Entscheidungen der Agentur an die europäischen Institutionen, vor allem an den Rat, erfolgt, können einer Agentur darüber hinausgehende Befugnisse übertragen werden, die in die Souveränität von Mitgliedstaaten eingreifen.
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Auffangverantwortung
Das vorstehende Beispiel verdeutlicht, dass vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips die Einrichtung europäischer Agenturen mit Vollzugszuständigkeiten vor allem dann in Betracht kommen kann, wenn das Handeln (oder Nichthandeln) eines primär für den Vollzug zuständigen Mitgliedstaats (negative) Auswirkungen auf andere Mitgliedstaaten oder die Union als Ganze haben kann. In Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wiederum sind die Zuständigkeiten der Union in diesen Fällen eng umgrenzt und beschränken sich beispielsweise auf ein Einschreiten im Sinne einer Auffangverantwortung, verstanden als ultima ratio.