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Die Straße nach Norden

Nördliche Königreiche, jenseits des Qiu, ebenfalls im Herbst

des Jahres 471 der Blauen Götter

»Wasser!« Etwa fünfzig Schritt weiter gab es irgendeinen Aufruhr. Eine Sänfte war angekommen, von vier weißen Pferden getragen. Die Sklaventreiber, die eben noch bäuchlings am Boden gelegen hatten, liefen eilfertig herum und schrien: »Los, ihr nichtswürdigen Tiere! Schafft Wasser her!« Dabei schlugen sie mit den Geißeln auf jeden Sklaven ein, der sich in ihrer Reichweite befand.

Der Stiernackige, der am Abschnitt das Kommando hatte und vor dem auch die Sklaventreiber buckelten, war unvermutet selbst zum Wurm geworden. Das Gefährt war zu breit – oder vielmehr die Straße zu schmal. Die Arbeiter hatten noch Steinplatten auf der Straße gelagert, die in den nächsten Stunden verlegt werden sollten. Der Stiernackige wand sich wie ein Aal vor dem Würdenträger in der Sänfte, von dem lediglich die rechte Hand mit dem beeindruckenden, drei Finger bedeckenden Ringsiegel und eine hochrote Stirn zu sehen waren.

Strolch atmete auf. Wie jedem Sklaven war ihm jegliche Unterbrechung der Arbeit nur recht. Seite an Seite standen sie seit Wochen im Lehm und verbreiterten die Trasse, verlegten die Reismatten und richteten die Steinplatten darauf aus. Einige tausend Sklaven waren es gewiß – jedenfalls so viele, daß die Reihen von Strolchs Arbeitsplatz aus in beiden Richtungen bis zum Horizont reichten. Die Kataueken schienen beinahe alles in unüberblickbaren Scharen anzugehen. Früher hatte Strolch geglaubt, es könne niemals mehr Menschen geben, als sich im stolzen Maganta, der Hauptstadt des Merkantilischen Imperiums, zum Fest der Entrückung Gottes versammelten.

Aber gleichgültig, wie viele Arbeiter die Sklaventreiber zur Verfügung hatten: Strolch blieb immer der Ajunäer. Einen Kopf größer, mit abartig hellem, kurzem Haar und einer langen Nase, die zum Draufschlagen einlud. Was auch immer in seinem Glied falsch lief: Strolch bekam Knute oder Geißel dafür zu schmecken. Und abends, wenn die Aufseher besoffen vom Reisbier durch die Reihen der angepflockten Sklaven wankten, war es einerlei, wie finster es war oder wie sehr es regnete: Strolchs Haar war zwischen den schwarzen Zöpfen weithin zu erkennen und schien unwiderstehlich dazu aufzufordern, ihm mit Tritten, Flüchen und perversen Spielchen klarzumachen, daß er selbst unter Sklaven noch Abschaum war.

»Wasser, ihr Ratten!«

Wahrscheinlich wollten sie zumindest die Pferde tränken, wenn der Bonze schon warten mußte. So nannten die Kataueken ihre rotgesichtigen Schreiber.

Strolch setzte sich in Bewegung und versuchte zu erraten, wo die Aufseher sie hintrieben. Dann erwischten ihn die ersten Schläge. Strolch wurde mit den anderen zum Strom hinunter geprügelt. Sie waren mindestens hundert Mann, die als Kette ins Schilf getrieben wurden. Der Boden wurde sumpfig. Schilfstoppeln zerstachen ihnen die bloßen Füße, Blutegel krochen schleimig an ihren Waden hoch.

»Nimm das, Mißgeburt!« Natürlich war es der Ajunäer, dem sie den Eimer in die Hand drückten und den sie mit einem Geißelhieb über die Schultern zum Wasser jagten. Strolch füllte den Eimer und reichte ihn dem nächsten Sklaven. Dann schlug er um sich in dem Versuch, sich die Stechmücken und die Blutegel vom Leib zu halten. Wenn man schnell genug zugriff, bissen sie nicht. Zuschlagen und klauben, zuschlagen und klauben. Zwischendurch kamen noch einige Eimer.

Dann biß der erste Egel. Strolch ging in die Knie, um ihn sich vom Fuß zu reißen. Während er im schmutzigen Wasser kniete und im Schlamm wühlte, um den Egel an seinem Rist zu packen, wurde ihm klar, daß die Sklaventreiber dieses Problem nicht hatten. Von denen war nämlich keiner im Schilf Mindestens fünfzig Schritt trennten ihn von den Prügelknechten. So weit waren sie sonst nur abends weg, wenn er angepflockt war. Fünfzig Schritt durch kniehohen Schlamm und brusthohes Röhricht und durch mindestens ebenso viele Sklaven.

Strolch ließ sich ins Wasser fallen. Der Sklave hinter ihm kämpfte ebenfalls mit einem Egel. Zwei kräftige Ruderbewegungen mit den Armen. Strolch war in Maganta immer ein guter Taucher gewesen. Schilfstoppeln und Flußmuscheln zerkratzten ihm Bauch und Beine, als er losschwamm.

Dann fühlte er die Strömung. Wenn jetzt bloß nicht einer der anderen Sklaven schrie! Den Ajunäer verpfeifen, damit du nicht selbst den Stock zu spüren bekommst. Aber selbst wenn einer der Sklaven Alarm gegeben hätte, so hätte Strolch es unter Wasser nicht gehört. Und zurück konnte er ohnehin nicht. Ich wurde abgetrieben, Euer Blutrünstigkeit. Ehrlich, ich wollte nicht fliehen. Warum sollte ich? Es geht mir doch gut als Sklave. Nein, Strolchs Hafengaunereien zogen nicht bei dieser dünkelhaften Rasse, deren Sprache er kaum sprach.

Er tauchte erst auf, als Funken vor seinen Augen tanzten. Dann schwamm er mit der trägen Strömung weiter. Mindestens eine Viertelstunde an einförmigen Reihen von Sklaven entlang, die hundertfünfzig Schritt entfernt an der Straße schufteten. Möglichst weit hinaus in die Strömung, um schnell hier wegzukommen, aber nicht so weit, daß man seinen Kopf jenseits des Schilfes gesehen hätte.

Kurz erwog er, den Strom zu überqueren, aber der war so gigantisch wie alles in Serkan Katau. Dabei war es nur ein Zufluß des riesigen Stromes, den sie Qiu nannten. Das andere Ufer war ein verwischter gelber Strich am wolkenverhangenen Horizont.

Endlich war er frei – das erste Mal frei, seit er auf diesen gleichermaßen sagenhaften wie verfluchten Kontinent gekommen war! Der Blutegel an seinem Rist war inzwischen feist wie eine Pflaume. Und dem jungen Ajunäer wurde klar, daß sich ein, zwei Monde Fußmarsch in jede Richtung eine Kultur erstreckte, deren Volk ihn immer hassen, jagen und demütigen würde.

Himmlisches Feuer

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