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Hunger

Im einem nahen Wäldchen, in den Abendstunden

Das mußten sie sein! Strolch hörte fröhliche Stimmen im Unterholz. Es roch betäubend stark nach Melisse und Salbei. Sein Magen knurrte so laut, daß er glaubte, einen Tiger hinter sich zu haben. Entgegengehen oder warten? Egal, sie werden dich sowieso wie Abschaum behandeln. Hauptsache, was zu fressen.

Strolch bog die fremdartigen Farnwedel seines Verstecks zur Seite und bewegte sich auf die Gruppe zu, die sich aus der Abenddämmerung schälte. Narbenfresse ging vorneweg, Kudung scherzte gerade mit Schlampe. Keiner würdigte ihn eines Blickes. Sie stapften ins Innere des Wäldchens, wo sie den Buchsbaum ausgeholzt hatten. Einer nach dem anderen ließen sie sich hinfallen. Strolch suchte mit begehrlichen Blicken nach der Beute. Zwei der Strauchdiebe trugen ein zusammengerolltes Tuch schräg über dem Leib, in dem Strolch runde Formen auszumachen glaubte.

Einauge hatte orangefarbenes Fruchtfleisch im Bart hängen. Sie hatten also schon gegessen! Er wandte sich um und besah sich die anderen genauer. Auch Narbenfresse schien satt zu sein.

»Was willst du?« herrschte Kudung ihn auf katauekisch an. Strolch bemerkte, daß er in der Mitte des Lagers stand. Unwillkürlich hatte er sich breitbeinig aufgebaut. Doch jetzt wagte er nicht, Kudung in die Augen zu sehen, daher irrte sein Blick über die bronzegelben Gesichter der anderen.

»Essen«, sagte er, »Obst!«

Kudung gab eine abfällige Antwort, die Strolch nicht ganz verstand. Früh weglaufen? Narbenfresse knurrte irgend etwas wie üblich Unverständliches und deutete vorwurfsvoll auf sein Tragetuch. Zu wenig Beute? Wollten sie ihm jetzt einreden, er sei zu früh geflohen? Strolch fühlte die Schwellung auf seiner Schulter pochen.

»Ich essen«, wiederholte Strolch und riskierte einen Blick auf Kudungs kräftiges Kinn. »Gesetz.« Einauge stimmte ein höhnisches Gelächter an. Klar, falsches Wort bei einem Gesetzlosen. »Bande Gesetz«, verbesserte sich Strolch.

»Hy’ä!« herrschte ihn Kudung mit der Geste eines Gutsbesitzers an, der einen Sklaven entläßt. Dann griff er nach Schlampe, die zu kichern begann. Er vergrub seinen Kopf an ihrer Schulter und tat etwas, das sie quieken ließ. Als er sich umblickte, schien er überrascht, daß Strolch noch immer da stand.

»Narbenfresse!« rief er befehlerisch. Narbenfresse tat kurz so, als ob er bereits eingeschlafen wäre. Als Kudung nichts weiter sagte, hob er vorsichtshalber den Kopf. Kudung nickte in Strolchs Richtung. Grunzend griff der Kataueke in sein schmutziges Tragetuch. Dann warf er Strolch eine bräunliche Mandarine zu, die in seinen Händen sofort zerplatzte.

»Mehr!« rief Strolch. Narbenfresse gab wieder ein Geräusch von sich wie eine Sau am Trog und griff betont widerwillig in das Tuch. Dann überlegte er es sich, warf Strolch den Beutel vor die Füße und drehte sich zur Seite.

Strolch lauschte in seinen Bauch hinein, in diesen dumpfen Knoten aus Hunger, Demütigung, Wut und Verzweiflung. Zwei zermatschte Mandarinen und eine steinhart getrocknete Kante Reisbrot, die Narbenfresse wohl nach dem Einbruch in der Windmühle vor zwei Wochen einfach vergessen hatte – und dafür hatte der junge Abenteurer sich anderthalb Stunden angeschlichen, mit Steinen bewerfen lassen und dann bis zur Dämmerung auf die anderen gewartet. Vor Verzweiflung hatte er angefangen, mit befeuchteten Fingern Ameisen aufzupicken und zu schlucken.

Strolch konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal wirklich satt gegessen hatte. Narbenfresse konnte halbwegs mit Schlingen umgehen und brachte, wenn sie einige Tage verweilten, manchmal ein Kaninchen, ein Moschustier oder eine Springratte mit – aber sie verweilten selten länger als bis zum ersten Überfall. Einauge behauptete, Fische speeren zu können, aber die zwei Mal, da er einen erlegt hatte, hatte er nur Kudung etwas abgegeben.

Wiederholt hatten sie Schlangen mit Steinen erschlagen. Schlampe hatte sie geöffnet, ausgenommen, mit Steinen gefüllt und dann in die Glut eines verlöschenden Feuers geschoben. Irgendwie garten die heißen Steine dann das Fleisch. Aber auch davon hatte Strolch stets nur die Schwanzenden mit Unmengen von Wirbeln abbekommen.

Und nun lag der Winter vor ihnen. Strolch war sich angesichts der fremden Pflanzen und der unbekannten Feldfrüchte nicht sicher, was sie erwartete, aber es war deutlich, daß es kälter und trockener wurde. Jedenfalls kälter als in Maganta um diese Zeit. Die Baumreihen, die die Pflücker an diesem Tag abgeräumt hatten, waren die letzten der Plantage gewesen und die Früchte durchwegs überreif. Nicht, daß es im Herbst so viel einfacher gewesen wäre, an Nahrung zu gelangen: Die Kataueken hatten überall Feldhüter stehen, und ständig waren berittene Aufseher unterwegs, um entlaufene Sklaven aufzuspüren.

Genau das war er: ein entlaufener Sklave. Auch wenn sie ihn auf dem Schiff nicht gebrandmarkt hatten, genügte sein Aussehen, um ihn zu verraten. Seit er bemerkt hatte, wie die Kataueken auf sein straßenköterblondes Stoppelhaar reagierten, versuchte er es morgens stets mit der Kohle des Lagerfeuers zu schwärzen. Aber seine Nase – für hiesige Verhältnisse ein echter Zinken – und sein langes, hageres Gesicht konnte er ebensowenig verbergen wie seine langen Arme und Beine, die selbst für einen Ajunäer schlaksig wirkten. Ganz davon zu schweigen, daß er größer war als Kudung, der in der kleinen Bande durchaus als kräftig gewachsen galt.

Was hast du Esel erwartet? Wie jeden Abend zermarterte Strolch sich den Kopf. Was, bei der Kakerlakenkutsche des Buckligen, hatte ihn dazu gebracht, sich auf die Nauke zu schleichen? Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Dabei hatte er es über Wochen hinweg geplant. Damals hatte das sagenhafte Serkan Katau in buntesten Bildern vor seinem geistigen Auge gestanden. Aber Strolch konnte die Bilder nicht mehr sehen. Alles, was er sah, wenn er nun die Augen schloß, waren die vertrauten Gassen von Magantas Hafen, die ihm noch vor einem Jahr so unerträglich erschienen waren.

Es war nicht der Schmutz gewesen und nicht einmal der Hunger, dem er hatte entfliehen wollen. Nein, was er nicht ertragen hatte, war der Spott gewesen. Daß die Burger, Handwerker und Soldaten ihn wie einen Straßenhund betrachteten, daran hatte er sich gewöhnt. Aber daß ihn selbst die anderen Tagelöhner und Tagediebe stets nur Strolch genannt hatten ...

Am schlimmsten war sein Vater gewesen. Wenn er überhaupt sein leiblicher Vater war! Das hatte ihm der alte Hurenbock immer wieder hinterhergeschrien, seit Verachtung, Haß und Prügel Strolch keinen Laut mehr hatten entlocken können.

Nun gut, seine Mutter hatte mit anderen Männern geschlafen – bisweilen auch für Brot, Wein oder einige ungelochte Münzen. Meistens war es im Winter gewesen. Er zitterte beim Gedanken an die Kälte ... wie sie ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und er sich zu seinen zwei Schwestern ins andere Bett gedrückt hatte. Und während ihn Ellbogen und Knie in eine fügsame Wurst verwandelt hatten, die halb aus dem Bett gehangen und sich halb an die Schwester geklammert hatte, hatte er gelauscht. Seine Schwestern hatten stets behauptet, nichts davon zu wissen, aber er kannte den fremdartigen Klang, den Hunger und Schnaps und eine seltsame Erregung der Stimme seiner Mutter verliehen hatten. Und obwohl die fremden Männer meist nur gegrunzt und gestöhnt hatten, hatte sie leise zu ihnen mit dieser seltsamen Stimme gesprochen.

Nein, die meisten waren gar keine fremden Männer gewesen. Dann und wann hatte sie einen katauekischen Seemann mitgebracht, der stets einige gelochte Münzen dagelassen hatte. Einmal war es auch ein Bürger in feinem Tuch gewesen; aber da hatte es gleich Streit gegeben, weil er der Frau nichts hatte geben wollen. »Ich habe schon den Braten bezahlt«, hatte er immer wiederholt. Doch die anderen Männer waren Schauerleute und Träger wie sein Vater gewesen.

Im Herbst, wenn die Nauken zurück nach Serkan Katau segelten, verödete der große Hafen von Maganta. Die Krämer der Nachbarstädte und die einheimischen Fischer hatten vergleichsweise kaum Ladung und vor allem kein Geld. Dann mußten die Männer losziehen. Manche gingen landeinwärts, um in den Bergwerken und Wäldern zu schuften. Manche hatten zu dritt oder viert ein eigenes Boot, mit dem sie auf das Weiße Meer zum Fischen hinausfuhren. Die anderen lungerten in den Tavernen und Spelunken herum und versuchten sich mit Wein zu betrinken, der so gewässert war, daß nicht einmal die Kinder davon einschliefen, wenn sie vor Hunger weinten. Und manch einer ging dann eben mit einer Frau mit, die noch einsamer war als er – auch wenn es die Frau eines Freundes war.

Und Strolchs Vater – der Hurenbock? Der Junge hatte nie erfahren, wie er diese Winter verbrachte. Die Eltern hatten ständig darüber gestritten. Im Nebelmond hatte der Vater von seinen unfehlbaren Plänen »mit den anderen Jungs« erzählt. Einmal wollten sie einen Wal fangen, dann einen Schatz heben, der nach der Götzenschlacht vergraben worden war. Dann war wieder von einer gescheiterten Nauke die Rede, deren Seidenballen, Gewürzsäcke, Haschischfladen und Zuckerkisten man nur noch am Strand einsammeln mußte. Manchmal sprachen sie darüber, sich mit den Schmugglern und Erpressern der corona einzulassen.

Aber schon im Wolkenmond war er wieder dagewesen, meist mit »guten Freunden«, die er im Vorjahr noch nicht gekannt hatte. Mutter hatte ihn angefleht, etwas zum Essen vorbeizubringen, aber meist hatte der Tag damit geendet, daß er die paar Münzen, die Mutter mit dem Gießen ranziger Talglichter verdient hatte, auch noch mitgenommen hatte. Im Schneemond war er dann wieder wochenlang unterwegs gewesen – aber die »guten Freunde« waren immer häufiger zu Besuch gekommen. Doch die einzigen, die jemals Geld ins Haus gebracht hatten, waren die Kataueken gewesen.

Strolch konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als er begriffen hatte, wie unvorstellbar reich die Fremden sein mußten ... Er war elf Jahre alt und stand mit seinen Freunden am Hafen, wo eine Nauke vor Anker lag. Bei ihnen saß der alte Stumpfbein-Mateo, der in der Flotte des Merkantilischen Imperiums als Seesoldat gedient hatte, bis er hei einem Gefecht gegen Galeeren der Ehernen Liga ein Bein verloren hatte.

Mateo erklärte Strolch, wie so eine Nauke gebaut war und wie sie betrieben wurde: der kastenförmige Rumpf mit den Aufbauten in der Mitte, die seltsamen Ausleger, die roten Pfauenfächersegel.

»Und das ist der Kapitän?« fragte Strolch, plötzlich atemlos, als ein Kataueke in weißem Leinen das Fallreep hinaufstieg. Der Junge kannte den Mann. Der schwarze Zopf, das bronzegelbe Gesicht, die schmalen Augen, die weiße Kleidung – all das wäre verwechselbar gewesen. Aber um den Hals trug der Mann ein großes Amulett aus Silber und rotem Edelholz, das ein fremdartiges Ungeheuer darstellte. Dieses Amulett kannte Strolch: Er hatte es vergangene Nacht in der Dunkelheit angestarrt, während der Mann atemlos auf seiner Mutter gelegen hatte.

»Der Kapitän?« Stumpfbein-Mateo schmunzelte. »Ach was, das ist ein einfacher Seemann.« Dabei deutete er auf den Mann, der auch schon am Hauptmast aufenterte, um die Vertäuung der gerefften Pfauensegel zu überprüfen.

Doch Strolch hatte nur das glückliche Lächeln seiner Mutter vor Augen, die in der Früh mit drei achteckigen Silbermünzen gespielt hatte, in der Mitte gelocht wie alle katauekischen Münzen. Und als er mittags nach Hause gekommen war, hatte die ganze Hütte geduftet von dem Eintopf, den seine Mutter gekocht hatte, mit echtem Hammelfleisch und frisch gebackenem Brot ...

Himmlisches Feuer

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