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Alte Schriften

Geheime Kammer des Himmlischen Willens, Mantikor Leng,

im Dreizehnten Mond im Jahr 471 der Blauen Götter

»Das ist unbrauchbar, ehrwürdiger Fong-Kuoy!« Hohepriester Hüang näng Lüoging rollte die Schriftrolle zusammen und warf sie routiniert in die Brandschale neben sich. »Prophezeiungen, Aberglauben, seltsame Traditionen, einige bemerkenswerte Vorkommnisse. Amüsant, gewiß – aber nichts, aus dem sich mehr machen ließe, als eine einzelne Eroberung zu beeindrucken.« Mit einem hörbaren Ploppen griffen die Flammen auf das Reispapier über.

»Wie bedauerlich, höchstehrwürdiger Hüang«, antwortete der feiste Priestergesandte. »Die Gesandte Daido hat fast die Hälfte der nasenberingten Häuptlinge der Turga besucht, um diesen Bericht zu erstellen. Damit scheint auch die Idee mit den Nachbarvölkern im Sande zu verlaufen.«

Hüang näng Lüoging blickte angestrengt auf den schwarzen Aschehaufen, der die glühenden Kohlen einen Finger hoch bedeckte. Drei Stunden Lesen hatten nicht einmal einen Ansatzpunkt erbracht. Ganz zu schweigen davon, daß die Berichte die vergeblich gesammelte Arbeit von drei Dutzend Vertrauten, Fachleuten und Spitzeln waren.

»Es ist das gleiche wie mit deinen Berichten«, wechselte der Hohepriester zu einem Unterton, in dem Anerkennung und Tadel einander erwürgten. »Du hast mir von der Mangalischen Küste wertvolle politische Informationen geliefert: Einschätzung der Ambitionen des Statthalters und einiger Präfekten, Schwachpunkte unmoralischer Generäle oder bestechlicher Nautiker und Stimmungsbilder der Bevölkerung der großen Hafenstädte.«

»Ja«, antwortete Fong-Kuoy eine Spur zu eifrig, »aber die mangalische Seefahrerkultur mit ihren teils barbarischen, teils raffinierten Bräuchen und Überlieferungen zeigte keine einzige erhoffte Augenfälligkeit.«

»Jetzt bleiben noch die Expeditionen in den Norden.« Hüang stellte nebenbei fest, daß Fong-Kuoy erstaunt die Augenbrauen hob. Ja, es war wichtig, auch diesen Mann immer wieder darauf hinzuweisen, daß Hüang stets noch einige Pläne auf Vorrat besaß. »Aber weder der Geomant, dessen Expedition in die Weltenmauer vorgedrungen ist, noch der Nautiker, der auf dem östlichen Seeweg über das Rochland versuchen sollte, die Länder jenseits der Weltenmauer zu erreichen, haben seit Monden ein Lebenszeichen von sich gegeben.« Hüang griff nach einem Schürhaken und zerkleinerte die letzten Aschefetzen. »Es mag sein, daß all ihre Brieftauben Raubvögeln zum Opfer gefallen sind – aber wahrscheinlicher ist, daß die Raubvögel bereits an meinen Kundschaftern nagen ...«

Hüang näng Lüoging stellte fest, daß er nervös zu fächeln begonnen hatte. Ja, langsam hatte er Grund, nervös zu werden. Er blickte auf die merkantilische Pendeluhr, eine Kostbarkeit, die Hüangs Zeit in einer Genauigkeit einteilte, die kaum sonst jemand kannte. Aber es waren nicht die Stunden, die ihm davonliefen, es waren die Monde!

»Wir benötigen dringend ein Zeichen des Himmlischen Willens.« Hüang sprach nichts Neues aus – aber er pflegte seine Ziele stets zu formulieren, wenn er ein neues Netz knüpfen mußte, um noch tiefer im Trüben zu fischen. »Es muß zumindest in Mantikor Leng für große Teile der Priester und Bonzen unübersehbar sein. Die Tugendwächter, Lebensdeuter und Astrologen, die Alchimisten und Architekten, die Dammwarte, Kanalmeister und Straßenwarte – sie alle müssen den Eindruck gewinnen, daß die Entscheidung des Herrn der Unwandelbaren Ordnung ein Akt der Offensichtlichkeit ist.«

Fong-Kuoy nickte. »Ja, sie alle müssen erfüllt und begeistert sein von der Erkenntnis, daß das Unglaubliche glaubhaft geworden ist. Daß es nicht nur möglich, sondern vorbestimmt ist ... daß die Menschen ausziehen und die Götter erschlagen.« Selbst das Gesicht dieses rücksichtslosen Karrieristen aus dem Westen zuckte, als er den Plan in Worte faßte.

»Wir haben dem Reich der Tugend befohlen, ein Heer zu versammeln, dessen Stärke sich erstmals in der Geschichte der Unversammelbaren Zahl annähert. Wir haben den Müttern und Frauen befohlen, all ihre Söhne und Männer in den Krieg ziehen zu lassen. Aber wenn das Länder überspannende Feld der Krieger zuschlägt, dann muß jedem Menschen, der Macht über einen anderen hat, klar sein, daß dies ein Akt unbezweifelbarer Weisheit und Wahrheit ist.«

Hüang klatschte mit dem Fächer in die offene Hand. »Bei so einer Angelegenheit, ehrwürdiger Fong-Kuoy, genügt es nicht, wenn ein Adler dem Herrn der Unwandelbaren Ordnung im Garten einen Fisch aus dem tausend Läng entfernten Ozean auf den Tisch wirft oder wenn die Rösser des Höchsten Gestütes blutige Tränen weinen ...«

»Diese Expeditionen in die Weltenmauer«, kam Fong-Kuoy auf die vorige Enthüllung zurück. Hüang sah ihm an, daß er beunruhigt war über die Erkenntnis, daß noch ein weiteres Spitzelnetz für den Hohepriester tätig war. »Ich nehme an, es geht um die Verlorenen Städte? Shaitang mit den Eisernen Türmen und Xang Na Tang?«

»Es geht um die Lehre der Magier der Eisernen Türme von der Acht. Das Geheimnis der Unsterblichkeit ist untrennbar mit der Acht verbunden: nur wer die acht Tugenden, die acht Elemente, die acht Wege meistert, kann die Unsterblichkeit erringen.«

»Ich verstehe«, antwortete Fong-Kuoy mit überaus konzentriertem Blick. »Du bist der Unsterblichkeitsberater des Herrn der Unwandelbaren Ordnung. Und da der Angriff auf die Blauen Götter letztlich seiner Unsterblichkeit dienen soll, sollte auch das Zeichen, das dazu aufruft, mit der Unsterblichkeit in Zusammenhang stehen.«

Fong-Kuoy verstand wie immer. Scharfsinnig hatte er Hüangs erste Maske durchschaut – doch er ahnte nicht einmal, daß dahinter die zweite Maske saß. Hohepriester Hüang näng Lüoging hatte das Amt des Unsterblichkeitsberaters nicht übernommen, weil er, wie so viele seiner Vorgänger, selbst an ein ewiges Leben glaubte.

Dieses Amt, vereint mit dem des Hohepriesters, erhob ihn über die anderen sieben Tugendwächter in der Geheimen Kammer des Himmlischen Willens. Es machte ihn, soweit das Hofzeremoniell das überhaupt zuließ, zum persönlichen Vertrauten des Herrn der Unwandelbaren Ordnung. Und es machte ihn traditionsgemäß auch noch zum Ersten Hüter der Seidenen Bibliothek.

Das Amt hatte nur einen Nachteil: Es gab ebenso traditionsgemäß einen eigenen Henker, dessen Aufgabe es war, den Unsterblichkeitsberater im Augenblick des Todes des Herrn der Unwandelbaren Ordnung hinzurichten.

»Mit der Vollkommenheit der Acht, ehrwürdiger Fong-Kuoy, läßt sich so vieles begründen. Ich wurde in die Geheime Kammer berufen, weil es mir gelang nachzuweisen, daß das Reich der Tugend und damit das älteste Reich der Menschen 4096, also acht mal acht mal acht mal acht Jahre besteht. Damals, Fong-Kuoy, stellte ich fest, daß die alten Seidenschriften den legendären Herren der Ersten Dynastie durchweg übermenschliche Lebensdauer zusprachen – nicht zuletzt um diese magische Arithmetik zu erreichen.

Ich selbst war es, der die Deutung einfügte, der zufolge eine Dynastie acht mal acht mal acht Jahre dauert. Damit steckte ich einen Rahmen, der den legendären Begründer des Reiches der Tugend und unseren Herrn der Unwandelbaren Ordnung als ersten und letzten der achten Dynastie aufzeigt.«

»Was dem Herrn der Unwandelbaren Ordnung die Gelegenheit gibt, durch einen historisch einzigartigen Akt eine neue Dynastie zu begründen.« Fong-Kuoy nickte wieder.

»Womit ich ihm zumindest historische Unsterblichkeit verschaffe.« Hüang näng Lüoging lächelte. Er liebte es, so intelligenten Gefolgsmännern wie Fong-Kuoy zwei Achtel seiner Pläne hinzuwerfen und sie die nächsten zwei Achtel vermeintlich selbst entdecken zu lassen.

»Abgesehen davon«, fügte Hüang mit diabolischem Lächeln hinzu, »daß ich deutliche Indizien dafür entdeckte, die Behauptung, unser Herrscher gehöre zur Blutlinie des Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, sei eine nachträgliche Bereinigung der Geschichte.«

»Ein Bastard?« fragte Fong-Kuoy, der schon immer eine Vorliebe für Frivolitäten gezeigt hatte. »Oder ein Usurpator?«

Hüang lachte, so laut es der Tugendhafte Weg des Himmlischen Willens einem Hohepriester überhaupt erlaubte. »Von den Lenden des Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, ehrwürdiger Fong-Kuoy, trennen ihn mindestens drei Thronräuber und zwei der Untreue bezichtigte Erste Gemahlinnen.«

Fong-Kuoy antwortete mit einem äußerst schlüpfrigen Glucksen.

»Ehrwürdiger Fong-Kuoy«, sagte Hüang nun plötzlich sehr ernst, »die Notwendigkeit eines Zeichens zwingt mich, dir als meinem wichtigsten Spitzel endlich klarzumachen, daß die Informationen, die du sammelst, nicht Teil eines Elfenbeinmosaiks sind, sondern Teil eines ... Eintopfs.«

Die Augen des Priestergesandten verengten sich; unwillkürlich verbarg er seinen Mund hinter dem Fächer.

»Fong-Kuoy, Geschichte ist nicht, was geschehen ist, sondern was die Gegenwart darüber schreibt. Der Tugendhafte Weg des Himmlischen Willens ist denn auch keine reine Offenbarung aus der Vorzeit, sondern eine Aneinanderreihung aufeinander aufbauender Interpretationen, Verzerrungen und ... glatter Fälschungen.«

Hüang erhob sich, trat zu der mit weißem Porzellan gekachelten Wand und drückte einem der zahllosen aufgemalten roten Mantikoren ins Auge. Ein Geheimfach öffnete sich. Hüang holte eine in Seide eingeschlagene Kupferplatte hervor.

»Diese Platte ist über tausend Jahre alt.« Fong-Kuoy sprang auf und nahm sie mit einer Verbeugung entgegen. »Seit dem, was wir heute die Sechste Dynastie nennen, hat niemand mehr in Kupfer graviert – von einer Ausnahme abgesehen, die ich anschließend ausführen werde.«

Der feiste Priestergesandte schlug ehrfürchtig die Seide beiseite.

»Ich habe diese Platte in den Katakomben der Seidenen Bibliothek gefunden. Das Problem, wie du weißt, ist nicht, daß dort Schriften verborgen wären. Das Problem ist, daß dort seit Jahrhunderten alles aufbewahrt wird, was die Geheimen Kammern des Reiches der Tugend irgendwann auslagern. Das Problem, Fong-Kuoy, ist, diese Platte unter einer fast Unversammelbaren Zahl anderer Dokumente zu finden.

Ich nehme an, daß dein Altkatauekisch gut genug ist, um zu erkennen, daß dies eine alte Offenbarung des Himmlischen Willens ist, welche die Welt noch als Garten mit vier Weltgegenden beschreibt. Meine persönliche Theorie, über die ich naturgemäß bisher nie mit jemandem gesprochen habe, besagt, daß die Gestalt der Welt als Kugel des Himmlischen Willens erst im Zuge der Entdeckungsfahrten der Nautiker erkannt wurde. Und wie es mir scheint, hat vor etwa 12O Jahren ein anderer Hohepriester die Anweisung gegeben, alle früheren Beschreibungen der Weltform dieser neuen Erkenntnis anzupassen. Doch haben die Schreiber, denen die buchstäblich weltumspannende Tragweite ihrer Arbeit nicht immer klar war, bisweilen Erwähnungen in älteren Texten übersehen. Und der Himmel allein weiß, welch ketzerische Kartenwerke noch in der Geheimen Kammer der Nautik aufbewahrt werden mögen, aus einer Zeit, als sie ihre Fahrten über die zwei Ozeane antraten in der Annahme, dabei irgendwann das Ende dieser Ozeane zu erreichen.«

Ja, die alten Seidenrollen, Elfenbeintafeln, Stelen und Kupferplatten ließen viel Spielraum für Auslegungen. Dies war Hüang näng Lüogings bevorzugtes Spiel. Manchmal war es so einfach.

Er mußte nur irgendeine alte Quelle ausgraben. Dann konnte er sie bei Hof präsentieren – mit einer Folgerung, die stets eine Forderung war. Mit der Selbstverständlichkeit, mit der man Fliegen mit dem Gazellenschweif verjagte, protestierten die anderen Herren der Geheimen Kammer. Und dann legte Hüang näng Lüoging mit dem kalten Lächeln des Gebildeten die Texte einiger Vorgänger und Staatsphilosophen der letzten zwei bis drei Jahrhunderte auf den Elfenbeintisch des Herrn der Unwandelbaren Ordnung: einen Konservativen mit einem besonders guten Namen, der die alte Quelle erwähnte, ohne sie zu zitieren; einen Fortschrittlichen mit einer aus dem Zusammenhang gerissenen These, die genau Hüang näng Lüogings Forderung darstellte; und eine Wort für Wort perfekte Schrift, die eine Brücke zwischen den beiden schlug – weil Hüang näng Lüoging sie zwei Wochen zuvor hatte schreiben und künstlich altern lassen.

Hüang näng Lüoging war insgeheim stolz auf die Fachleute, die er im Lauf der Jahre versammelt hatte. Zwei Dutzend Schreiber durchforsteten Woche für Woche die Seidene Bibliothek, jeder nur über ein Wort informiert, das ein gesuchter Text zu enthalten hatte. Fünf Schriftenhüter sortierten die Texte aus, die alle gesuchten Begriffe enthielten, ohne zu wissen, worum es ging. Erst seine drei Sekretäre machten sich dann daran, gezielt nach Beweisen für gewisse Thesen zu suchen, sie zusammenzutragen und fehlende zu ergänzen. Der blinde Qungtueng schließlich war ein Meister darin, eine eben erst getrocknete Schriftrolle mit Urin, Schwefel, Hefe, einem Backofen und einem haarfeinen Silberdrahtpinsel so zu behandeln, daß sie unter den Fingern des Lesenden so brüchig war wie eine aus der Fünften Dynastie.

Auch Hüang näng Lüogings andere Handlanger waren Meister ihres jeweiligen Fachs: Er hatte Alchimisten, die Opferfleisch in unlöschbarem Feuer aufgehen, Wände vor blutenden Glyphen triefen und Menschen im Drogenrausch wahrsagen, nachplappern oder lügen lassen konnten. Er hatte Aufrührer, die ganze Städte seine Geschichten weitererzählen ließen oder sie dazu brachten, tobend vor Begeisterung oder Zorn die Einsetzung oder den Tod gewisser Priester und Beamten zu fordern. Er hatte Schauspieler, die dafür sorgten, daß wichtige Persönlichkeiten vor hundert Zeugen gewisse Dinge sagten und taten, ohne davon zu wissen, ehe es ihnen Hüang näng Lüoging mitteilte – meist wenige Stunden vor ihrer Hinrichtung.

Es hatte Jahre gedauert und einigen Vorgängern das Leben gekostet, Leute zu finden, die diese Arbeit intelligent verrichteten, ohne so intelligent zu sein, alle Möglichkeiten und Bedeutungen zu erkennen, und dabei so verschwiegen, daß sie weder im Pfeifenrausch, Fieberwahn, Liebestaumel noch in Lebensgefahr darüber ein Wort verloren.

Dennoch wußte Hüang näng Lüoging: Sobald dieses einzigartige Unternehmen seine akzeptable Begründung gefunden hätte, würde er die meisten Väter dieser Begründung mit durchgehenden Ochsenkarren und besonders gewürzten Gerichten zum Schweigen bringen. Und vermutlich würde Fong-Kuoy einer davon sein. Aber vorher mußten sie erst einmal ein Zeichen setzen, das rechtfertigte, die Blauen Götter anzugreifen!

Himmlisches Feuer

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