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Hochtempel von Tschöng-Hau Leng,
im Zehnten Mond im Jahr 471 der Blauen Götter,
zu Beginn der Kleinen Regenzeit
Mit dem Vergnügen einer geübten Intrigantin stellte Lü näng Huango fest, daß sie immer deutlicher Veränderungen in Tschöng-Hau Leng wahrnahm, die ihr ohne Fong-Kuoy näng Tschüengs Nachrichten entgangen wären.
Auf den Kais des riesigen Hafens wurde zunehmend darüber gesprochen, daß man nach der Regenzeit keinen Reis zum Handel mit Ajuna laden werde, weil der Reispreis so gestiegen sei, genauer gesagt der Preis für Reismehl – wie man es benötigte, um ein großes Heer zu versorgen.
Da und dort erschienen Viehhändler aus den zentralen Eroberungen, die den großen Schweinemästern die Tiere gleich herdenweise abkauften und diese noch im Koben schlachten ließen. Das Fleisch wurde eingesalzen und auf ihre Karren verladen; die Häute spannten sie darüber. Das ergab nur Sinn, wenn man das Fleisch weiter transportieren wollte, als es sonst üblich und einträglich war, und wenn man mit bereits vorgegerbtem Leder dort ankommen wollte.
Immer häufiger erschienen Offiziere oder stolze Mütter der Kriegerkaste im Hochtempel, weil die Schwertweihe ihres Sohnes ein halbes Jahr vorverlegt worden war. Nervöse junge Männer brachten ihr Erstopfer als Zeichen, daß sie nun ein Mann waren.
Mehrere Male spendeten wohlhabende Tempelbesucher, die um ein Orakel baten, so großzügig, daß Lü beschloß, eigenhändig die Eingeweide des Opfertiers zu deuten.
Der eine war ein Händler. Eigentlich gehörte er zur Kaste der Bonzen, aber er hatte nie ein Amt innegehabt. Schon sein Vater war mit Karawanen an der ganzen Mangalischen Küste zu Reichtum gekommen, und der Erbe hatte nie anderes getan, als die Güter Tschöng-Hau Lengs gegen die der benachbarten Eroberungen zu handeln. Er wollte wissen, ob er im neuen Jahr an Bord einer Nauke gehen sollte, mit einer Ladung Zucker, Seide, Haschisch und Tee, um sie bei den Barbaren Ajunas gegen Wein, Salz, Eisen und Glas zu tauschen.
Im Kreis der brodelnden Kessel, die die Halle der Himmlischen Mächte mit betäubendem Parfümgeruch erfüllten, konnte Lü ihm guten Gewissens raten, statt dessen »Räder zu kaufen« und weit den Tschöng-Strom aufwärts zu schicken, wo hunderttausend Hände des Höchsten Kriegsherrn der Geheimen Kammer darauf harren würden, genährt zu werden.
»Ist mir im kommenden Jahr der Blauen Götter bestimmt, meine Ehre zu mehren?« fragte Hauptmann Kapaung, dessen Katapulte die Hafenfestungen von Tschöng-Hau Leng verteidigten. »Lauzöng, o Lauzöng, Tugendwächter, weise mir den Tugendhaften Weg des Himmlischen Willens.«
Lü fand auf dem Weg zum weißen Orakelaltar, die heiligen Lorbeerblätter kauend, mit Hilfe weniger Fragen im Plauderton heraus, daß der Krieger einen Versetzungsbefehl zu einer neuen Einheit erhalten hatte. Wahrscheinlich grübelte er nun, ob er die Anzeichen für einen Heerzug richtig deutete und wie er hier, an der seit zwei Menschenleben befriedeten Mangalischen Küste, Heldentaten vollbringen sollte. Daß er in vollem Harnisch erschienen war, bestätigte Lüs Einschätzung.
Und ihre Einschätzung war alles, was sie hatte. Als sie den Himmel anrief, fühlte sie sich einsam und ungehört wie immer. »Der Himmlische Wille sei mein Wille«, deklamierte Lü. Dann setzte sie dem Widder mit der rotgefärbten Wolle die Sichel an die Kehle und durchtrennte sie mit einem Schnitt. Das Tier versuchte entsetzt zu blöken und taumelte, während sein Leben auf den mit Roten Steinen verzierten Altar sprühte.
Lü stellte fest, daß es eine Weile her war, daß sie zuletzt geopfert hatte – zumindest ein Tier; der Schnitt war nicht ganz sauber gewesen. Doch der Hauptmann hatte einen ganzen Gürtel Gold bezahlt, den Sold eines Mondes, und durfte würdige Behandlung erwarten. Auch das Tier war prachtvoll: gehörnt, wie es den oberen Kasten zustand, und die Wolle rot eingefärbt wie der Harnisch, mit dem sich die Krieger bewehrten.
»Gut war der Tod des Tieres«, deklamierte Lü den zweiten Ritualspruch. Dann öffnete sie den Bauchraum des Widders und trennte Herz, Lunge, Magen, Leber, Nieren, Milz, Gedärme und Hoden heraus. Jedes der acht Organe wurde in eine dafür vorgesehene Schale gelegt, begleitet von Lüs traditionellen Lobrufen. Dann nahm sie die acht Kännchen und begoß jedes Organ mit den acht Ölen: Myrrhe, Rose, Zirbel, Moschus, Wal, Safran, Kampfer und Lavendel. Feierlich beugte sie sich über die Schale und starrte in die Schlieren aus Öl und Blut auf dem Fleisch, in denen sich das Licht der Lampions in allen Regenbogenfarben spiegelte und brach.
»Du solltest mit deinen männlichen Säften weniger verschwenderisch umgehen«, begann sie streng. Ein Rat, mit dem sie ihr ganzes Priesterleben jeden Mann getroffen hatte, ob er seinen Samen nun einer Frau überließ, die ihm gerade den Verstand vernebelte, den Wartenden Mädchen oder dem Stroh seines Lagers.
»Verschwende keine Gedanken daran, einen Sohn zu zeugen.« Der Hauptmann war bekannt genug, daß der Hochtempel über ihn eine Schriftrolle angelegt hatte. Daher wußte Lü, daß er eine Gattin und eine Konkubine hatte und von letzterer nur eine Tochter. Und ein Mann, der in den Krieg zog, bestieg seine Weiber unweigerlich mit dem Gedanken, sich Unsterblichkeit in Gestalt eines Sohnes zu verschaffen.
»Die Kraft deines Mannesstammes mündet in dir.« Auch ein Klassiker: er würde sich in jedem Fall geschmeichelt fühlen – und wenn er heimkehrte und sie ihm wider Erwarten doch einen Sohn geboren hatten, würde er diesen als den Ozean betrachten, in den sein Mannesstamm gemündet war. Außerdem erlaubte ihr diese Überleitung, ihn nun wirklich mit Ratschlägen für den Krieg zu beeindrucken.
»Du stehst vor dem größten Gegner deines Lebens.« Lü stellte erstaunt fest, daß tatsächlich in den Falten des Magens – der traditionell für Konflikt stand – zu sehen war, daß der Mann bis ans Lebensende übermächtigen Feinden gegenüberstehen würde. Sie fühlte, wie der Krieger auf der anderen Seite des Altars gespannter verharrte.
»Euer entscheidender Kampf findet auf festem Boden statt.« Die Frage, die ihn letztlich beschäftigte, war die Natur seines Gegners. Jetzt konnte er zumindest davon ausgehen, daß er nicht gegen irgendwelche mangalischen Seeräuber kämpfen würde. »Du wirst viele Gefährten haben. Und die Zahl der Feinde wird überraschend gering sein.« Theatralisch hob sie den Kopf und blickte ihm direkt ins Gesicht. Sie verspürte einen Hauch von Betroffenheit, als sie die kindliche Erwartung in den Augen dieses starken Mannes sah. »Aber unterschätze deinen Feind nicht – nicht für einen einzigen Augenblick.«
Die Stimme des Hauptmanns war rauh, als er sprach. »Werde ich ... bestehen?« Eine gute Frage, dachte Lü und vertiefte sich in den Verlauf der Gedärme. Eine auffällig dicke Ader, ungewöhnlich für ein so rein ernährtes Tier. Eine Prüfung, kein Zweifel.
Lü war beeindruckt, wie sehr jedes Organ dieses Tieres das gleiche besagte: Die bevorstehende Entscheidung war eine absolute – ganz oder gar nicht. Was sollte sie einem Mann sagen, der vermutlich gegen die Blauen Götter kämpfen würde, vielleicht aber auch nur seine Stadt bewachte, während andere Ziangs wirklich in den Krieg zogen?
Sie blickte auf das Walöl, das sich auf Lunge und Hoden am längsten gehalten hatte. Dieser Mann war stark.
»Du wirst alle Kraft brauchen, die du aus deiner Ehre und deiner Pflicht sammeln kannst«, dehnte sie die entscheidende Antwort, »und du wirst sie haben, wenn ...« – urplötzlich war Lü eine wundervolle Formulierung in den Sinn gekommen – »die längste aller Wachen beginnt.« Sie hob den Blick wieder und begegnete dem des Kriegers. Sein Gesicht wirkte entspannt. Er schien sich bekräftigt zu fühlen, aber dennoch hoffte er auf einen deutlicheren Rat.
»Greife nicht als erster an«, sagte Lü. Sie war selbst überrascht, wie fürsorglich ihre Stimme klang. »Warte, bis die Gefahr über deinem Haupt am größten ist – und dann kämpfe wie noch nie!«
»Der Himmlische Wille sei mein Wille«, stieß der Mann erregt hervor und beugte das Haupt, bis seine Stirn den roten Marmorboden berührte. Er erhob sich mit klirrendem Harnisch, machte mit einem zackigen Ausfallschritt kehrt und verließ den Hochtempel. Seine Haltung war die eines Mannes, zu dem die Götter gesprochen hatten.
Lü entzündete an einer blauen Räucherfratze ein Feuerstäbchen, um damit das Fleisch in den Schalen in Brand zu setzen. Dabei fiel ihr sinnender Blick nochmals auf jene dicke Ader. Die Priesterin fühlte sich schuldig. Sie hatte ihm nicht gesagt, daß die Ader, sich ständig verbreiternd, bis zum Ende des Dickdarms führte ...