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ОглавлениеUnsterbliche Helden
Die Nekropole, Mantikor Leng, am Mantikorentag zwischen den Jahren 471 und 472 der Blauen Götter
Gespenstisch hallte der Marschtritt der Heerschar in ihren neuen Harnischen von den Wänden des unergründlichen Gewölbes wider. Über viertausend Ziangs marschierten in Achterreihen zwischen den roten Säulen einer düsteren Halle, die acht Mal mehr Männern Platz bot. Und diese Männer waren da!
Kang hua Schiang hatte bislang nur Kriegersagen von diesen Männern gehört, aber nun konnte er sie im Schein der Feuertöpfe beiderseits des Säulengangs erahnen. Nichts hätte den Hauptmann dazu bringen können, den Blick zur Seite zu wenden, nicht Neugier und nicht das seltsame Gefühl von Tod und Bestimmung, das dieses Gewölbe erfüllte. Kangs Blick ruhte auf den Kriegern, die vor ihm marschierten.
Der Hauptmann führte wie immer die Dritte Faust. Vor ihm, in angemessenem Abstand von acht Götterfuß, marschierten die letzten acht Krieger der Zweiten Faust. Links und rechts, außerhalb der Formation, außerhalb des Trittes, schritten zwei Priester mit Schleierbandhauben. Beide trugen auf der nach außen gewandten Schulter einen Feuertopf.
Ein eigentümlich metallischer Geruch drang durch sein Maskenvisier. An der Bewegung der Feuertöpfe vor ihm erkannte Kang, daß die ersten tausend Mann zur Seite schwenkten. Acht mal acht Götterfuß nach rechts, dann schwenkten sie wieder geradeaus. Ein Platz ... So bewegte sich eine Heerschar, wenn sie rings um einen Platz Aufstellung nahm. Sie hatten das Herz des Gewölbes erreicht!
Kang hatte keinen Zweifel, daß die Totenpriester, die sie führten, genau bemessen hatten, wie die Heerschar zu stehen hatte, um Platz zu finden. Nein, korrigierte sich Kang, bereits die Architekten des Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, hatten dies bemessen.
Das Grabmal! Kang sah, wie vor ihm die Decke stufenartig anstieg. Die Säulen waren hier mindestens dreimal so hoch wie zuvor. Durch verborgene Schächte drangen trübe Lichtbahnen, in denen rostfarbener Staub tanzte. Gewaltige Statuen von Ungeheuern erhoben sich in diesen Bahnen aus Licht und Dunkelheit. Und in der Mitte stand der Sarkophag. Kang ahnte im Feuerdüster, daß es die Fußsohlen sein mußten, die sich über ihm erhoben.
Dann schwenkte auch er zur Rechten. Aus dem Marschtritt hörte er die leichte Unregelmäßigkeit: das Scharren von Stiefelnägeln, als einige Krieger weiter ausschreiten und einige fast auf der Stelle treten mußten, damit das Glied hinter ihnen den Schwenk vollziehen konnte. Vor sich sah Kang das gleiche Schauspiel: ein Glied aus acht Ziangs, die nach links schwenkten und sich dann wieder, als letzte, an ihre Faust fügten.
Die Stille kam wie ein Schlag. Sie standen rings um den Sarkophag: General Tüfang hua Hidong mit der Ersten Faust am Kopfende, die Zweite bis Vierte Faust zur Linken der gewaltigen Gestalt, die da oben lag, die anderen vier Fäuste wohl spiegelbildlich auf der anderen Seite und am Fußende.
Die Stille – und dann das Atmen! Sie waren nicht allein. Ja, freilich, da war das sanfte Rauschen, das der Atem von viertausend Mann hinter ihren roten Eisenmasken erzeugte. Es mochte etwas heftiger sein in der beklemmenden Staubigkeit, mochte lauter klingen im Echo des Gewölbes. Aber dieses Geräusch war Kang so vertraut, daß er es nicht wahrnahm.
Nein, da draußen in der Finsternis atmeten ... sie! Die Helden der Geschichte. Es war der Atem der Zauberei: selten, quälend selten, aber wenn, dann mit einer noch viel qualvolleren Stärke.
Fünfundzwanzigtausend Helden sogen zugleich die staubige Luft des Gewölbes ein und stießen sie wieder aus. Regelmäßig, im Takt der Unwandelbaren Ordnung, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert.
»Zweite Aufstel-lung!« Die Stimme des Generals war gedämpft und klang dennoch wie eine Peitsche durch die atmende Halle. Sie galt auch nur den acht Hauptleuten. Kang hob die Faust und machte eine zirkelnde Geste. Als er sich umwandte, vollendeten auch seine Leute die halbe Drehung. Sie alle blickten nun in die Düsternis des Gewölbes.
»Frei-er Schritt!« kam nun der ungewöhnliche Befehl des Generals, auf den sie alle gewartet hatten. Eine leichte Bewegung ging durch die Helmfederbüsche vor Kang. Es war das vereinte Zögern von Männern, die jeden Befehl gewohnt waren und auch das Handeln außerhalb der Formation – aber nicht, was nun von ihnen erwartet wurde.
Ein Wachtmeister drängte sich vorwärts, zunächst selbst noch zögernd. Langsam kam Bewegung in die Truppe. Dreier- und Vierergruppen, noch immer Schulter an Schulter, schritten langsam in die Dunkelheit – auf die Gestalten zu, die da knieten.
Kang ging ebenfalls los: der über Jahrzehnte gewachsene Impuls eines Offiziers, der wußte, daß nur sein Vorbild Männer bewegen konnte. Er schritt auf die haarige Gestalt vor ihm zu; das war zweifellos der kommandierende Offizier dieser Abteilung der Unsterblichen Heerschar – gewesen.
Kang wußte nicht, was ihn weitergehen ließ. Später redete er sich gern ein, daß seine Männer ebenfalls tiefer in die Reihen der Helden einzudringen hatten – daß es sein Vorbild verlangte. Aber in Wahrheit schauderte er, war noch nicht bereit, einem Helden der Unsterblichen Heerschar ins Antlitz zu blicken.
Mit Fersen, die bei jedem Schritt am Boden festzuwachsen schienen, ging Kang hua Schiang durch die Reihen. Sein Blick schweifte zusehends nach links und rechts, und wegen der Maske blieb ihm nichts anderes übrig, als auch den Kopf zu wenden. Eine schwarze Haarsträhne wellte sich schlangengleich in seinen Weg.
Kangs Blick tastete sich daran entlang, empor. Kopfhaar – unvorstellbar! Das Haar wucherte in mächtigen Wellen über die Schultern des Lederharnisches, struppig, staubig wie ... wie nichts, was Kang je gesehen hatte. Es mußte Jahrhunderte gedauert haben, damit Haar so sehr wuchs.
Respektvoll wandte sich Kang dem knienden Helden zu. Er erahnte das Profil unter den zottigen Strähnen. Instinktiv glitt sein Blick hinab zu den Händen. Wenn ein Krieger die Augen seines Gegenübers nicht sehen kann, dann sieht er die Hände. Es waren kraftvolle Finger, die auf den Oberschenkeln ruhten, bedeckt von braunen Altersflecken.
Doch Kang hatte nur Augen für die Krallen. Sie krümmten sich spiralförmig beiderseits des Beines hinab. Der Nagel des Mittelfingers hatte sich gar durch die Hose gegraben und wühlte unter dem Leder weiter, dem Knie entgegen.
Die Zehen! Bei den Ahnen ... Die schweren braunen Lederstiefel waren mürbe geworden. Die aufgenagelte Sohle war abgeplatzt wie bei einem der einarmigen Veteranen, die vor den Festungen des Labyrinths herumlungerten. Und aus dem klaffenden Schuhmaul krümmten sich die Krallen, lang wie Sicheln.
Unwillkürlich wandte Kang sich ab und ging weiter. Eine seltsame Unruhe hatte ihn erfaßt. Er ging schneller. Sein Blick schweifte suchend über die Reihen der knienden Helden. Wieder ein Atemzug! Wie das Stöhnen eines vieltausendköpfigen Ungeheuers. Kang glaubte kurz, etwas wiederzuerkennen. Er hatte dieses Atmen schon gehört ...
Die Halle mußte doch ein Ende haben! Zur Rechten setzte sich ein Feuertopf in Bewegung. Ein Priester kam mit feierlichen Schritten heran. Er wurde schneller, als der Feuerschein auf die Seidenbänder auf Kangs Helm fiel: drei Bänder in ebenso vielen kupferroten Ringen. Respektvoll trat er hinzu, den Feuertopf an der Stange erhoben.
Im verstärkten Lichtschein schienen die Helden beinahe aufzuspringen. Überall sah Kang Bewegungen, um dann zu erkennen, daß es nur zuckende Schatten waren.
Der letzte! Einem plötzlichen Entschluß folgend, eilte der Hauptmann voran; das Flackern folgte ihm diensteifrig. Kang wollte einen Krieger in der letzten Reihe sehen. Da ... die Wand des Gewölbes! Undeutlich nahm der Offizier Reliefs war, die Krieger, Streitrösser und Streitwagen zeigten und dazwischen reich gewandete Zauberer mit herrischen Gesten.
Links kniete ein Krieger der Vergangenheit, rechts ein anderer. Unschlüssig schweifte Kangs Blick hin und her. Der flackernde Lichtschein streifte ihn, als der Priester zu ihm aufschloß. Kang fühlte sich unangenehm berührt. Er war wortlosen Gehorsam gewohnt, aber die diensteifrige Bereitschaft eines Dieners war ihm als Ziang fremd.
Dann sah er das rote Seidenband am Oberarm des Helden zur Linken. Ein Ehrenzeichen der Verwundung? Kang trug selbst zwei am linken Arm, auf der Höhe des Herzens.
Einem spontanen Impuls folgend, kniete Kang nieder. Er wandte dein Helden Gesicht und Brust zu. Einige Reihen hinter sich hörte er ein Klirren, als kurz nacheinander zwei weitere Krieger auf die Knie fielen. Ja, zwischen diesen fünfundzwanzigtausend Helden verlor sich sogar die Heerschar der Götterfresser.
Sie gehörten jetzt zu den Zwiefach Vereideten – zu den Garden des Höchsten Kriegsherrn der Geheimen Kammer. Seit Jahrhunderten war es geheimer Brauch, daß die Garden bei ihrer Initiation in die Nekropole geführt wurden, an das kolossale Grab des Mannes, der das Reich der Tugend begründet hatte.
Dies war eines der vier Privilegien, die einen Zwiefach Vereideten über andere Angehörige der Kriegerkaste erhoben: der Besuch des Grabes des Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, dann die Hautbilder mit den Symbolen der Aufgabe, der sich der Krieger geweiht hatte, ferner die Einladung zur jährlichen Mantikorentötung des Höchsten Kriegsherrn der Geheimen Kammer in den Gärten von Hüanging Gar und dereinst die Bestattung auf dem Heldenfriedhof rings um das Grab ihres Herrn der Unwandelbaren Ordnung.
»Geht in die große Halle der Nekropole und erwählt euch einen der Helden der Unsterblichen Heerschar zum Paten eures Eides«, hatte der Hohepriester bei der Vereidigung in der Festung Gingang Tung gerufen.
Der Hauptmann schauderte beim Anblick des alten Helden. War es nicht vielmehr dieser Mann gewesen, der ihn erwählt hatte? Wie sollte ein Krieger anders als gehorchen und erschaudern angesichts makelloser Ehre und vollendeter Treue!
Dieser Mann kniete hier, um das Grab seines Kriegsherrn zu bewachen. Er kniete hier, während seine Kleidung mürbe und seine Waffen rostig wurden, und er würde hier knien, wenn sie nur mehr Staub wären. Ja, selbst wenn das Undenkbare geschähe und das Reich der Tugend in Trümmer und Asche zerfiele wie die sechzehn eroberten Reiche, auf denen es begründet worden war, würde er hier ausharren.
Kangs Blick fiel wieder auf das rote Ehrenzeichen der Verwundung. Gleich in seinem ersten Jahr hatte ihn der Wurfhaken eines Turga von der Mauer des Labyrinths geholt. Kang hatte den Sturz überlebt, und ehe der Barbar zu dem berüchtigten Schleifritt hatte wenden können, hatte ihn ein Kreuzbogenpfeil von der Mauer getötet. Kang hatte das Pferd erbeutet und sich damit aus dem Kampfgetümmel retten können.
Welche Dummheit hatte wohl dieser Held unter dem Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, überlebt?
Denn man mußte ziemlich dumm sein – jung und unerfahren –, um sich auf einer elf Götterfuß hohen Vormauer vom Wurfhaken eines Reiters treffen zu lassen, und noch dümmer, um sich dann nicht einfach niederzuwerfen und sich von den Kameraden festhalten zu lassen. Aber wer so eine Dummheit überlebte, war ein besserer Krieger: er würde nie wieder dergleichen tun oder zulassen, daß es ein Untergebener täte. Das drückte das Ehrenzeichen aus.
»Ja, ich half; das Reich zu bewahren«, flüsterte Kang unter seiner Maske, »das du aufzubauen halfst.« Der Held der Unsterblichen Heerschar antwortete nicht. Dunkel glommen seine Augen unter dem Schopf aus staubigem, verfilztem Haar, das sein Haupt so stark umwucherte, daß es ihm bis weit in die Stirn hing. War da nicht eben ein Glänzen gewesen?
»Welche Kämpfe«, fragte Kang heiser, »hast du seinerzeit bestanden, damals, als der Göttergleiche gegen den Widerstand von Königen, Göttern und Ungeheuern das Reich erschuf?«
War da nicht doch ein Glitzern in den Augen des alten Unsterblichen? Nein, es mußte wohl eine Spiegelung des Feuertopfes hinter ihnen gewesen. Kang fühlte wieder, daß er sich von dem Totenpriester belästigt fühlte. Solche Feinheiten waren ihm sonst fremd. Er beschloß, den Patenritus zu sprechen.
»O Ziang«, begann er die Formel, die sie alle hatten lernen müssen, »dies ist mein Leben, dies ist mein Leib, dies ist mein Wille, dies ist mein Weg. Ich weihe sie dem Höchsten Kriegsherrn der Geheimen Kammer und der Aufgabe, die er mir bestimmt hat: ein Götterfresser zu sein.«
Kang verharrte kurz und holte Luft. Sein Herz klopfte heftiger. Er konnte sich an seinen ersten Kriegereid erinnern, den er als Jüngling abgelegt hatte. Damals war er nervös gewesen. Er hätte nicht gedacht, daß ihm das in seinem Alter noch widerfahren könne. Aber auch in der Festung Gingang Tung, beim Eid vor dem Göttergleichen, hatte ihm das Herz bis zum Hals geschlagen.
»O Ziang«, vollendete Kang die Formel, »Held der Unsterblichen Heerschar, sei Zeuge und Pate meines Eides. Sei mir Leitbild. Und wenn ich strauchle auf dem Tugendhaften Weg des Himmlischen Willens, sei dein Geist es, der mich niederstreckt.« Der Hauptmann verbeugte sich und berührte mit der linken Hand – der Hand des Herzens – das rote Amulett über dem Herzpunkt des schweigenden Kriegers. Auf den Fingerspitzen fühlte er fettigen Staub.
Als Kang den Kopf wieder hob, fiel sein Blick erneut auf die Augen seines Gegenübers. Doch, da war Feuchtigkeit! Mehr als zuvor. Diese Augen weinten ...
Im selben Moment erkannte Kang das Geräusch mit der unaufhaltsamen Macht, mit der die Nacht die letzten Strahlen der Sonne verschlingt. Er erinnerte sich, was sein erster Eindruck gewesen war, als sie die große Halle der Nekropole betreten hatten: er hatte an ein Schlachtfeld gedacht, an die Zeit nach der Schlacht, wenn er zwischen den Opfern der Schlacht einherschritt. Und dieses gequälte Atemholen, stockend, mit verzweifelter Kraftanstrengung, war jenes, auf das keines mehr folgte. Was die Helden der Unsterblichen Heerschar von sich gaben, war der letzte Hauch des Sterbenden – aber sie taten es alle, immer wieder, seit Jahrhunderten ...