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Gedanken

Innere Kammer des Hochtempels von Tschöng-Hau Leng, zwei Stunden später

»Endlich«, seufzte Lü, während der Pförtner hinter ihr die vier Vorhänge der Inneren Kammer schloß. Sie legte den Fächer beiseite und trat zum Erker. »Ich hatte erwartet, daß das Gelage mit Fong-Kuoy anstrengend sein würde.« Lü näng Huangos Blick schweifte über die Stadt unter ihr: ihre Stadt. Tschöng-Hau Leng mochte nur eine Eroberung am Rande des Reiches der Tugend sein, aber was die Küche anging, hatte sie Unvergleichliches zu bieten. Die Pfauenschiffe brachten die exotischen Waren der Barbaren aus dein fernen Ajuna geradenwegs hierher, in den Hafen von Tschöng-Hau Leng.

»Hattest du den Eindruck, daß der höchstehrwürdige Fong-Kuoy näng Tschüeng zufrieden war?«

»Höchstehrwürdige Lü«, sagte die alte Nühen, als sie hinter dem Wandschirm hervorkam, »was für eine Frage an eine alte Frau! Ist es nicht viel wichtiger, ob du zufrieden warst?«

»Er war gierig nach den bitter-süßen Speisen, mit denen er aufgewachsen ist, und niemand weiß besser als ich, was er am meisten liebt.« Lü verbesserte sich: »... was am meisten geneigt ist, in ihm einen Wunsch zu erzeugen, den er als Priester sofort zu stillen hat.« Die Hohepriesterin sog die würzige Meeresluft ein und dachte an das Gelage zurück. Geschmorter Storch mit Duftreis und Zitronenmus – sein Lieblingsgericht. Ein Tisch mit Früchten, auf dem insbesondere die heimische Ananas und Granatäpfel aus dem Norden nicht fehlen durften. Dazu Wein aus dein Merkantilischen Imperium, verfeinert mit Muskat und Kirschblüten. Und am Ende statt feinster Köstlichkeiten einfache Reiskuchen, mit einer Prise Haschisch bestreut. Eine Erinnerung an seine Mutter, wie er ihr einmal in einem selten offenen Augenblick gestanden hatte, nach einer Nacht, in der sie ihm ... Lü schüttelte unwillig den Kopf und trat vom Erker zurück in die Innere Kammer.

Ihr Blick fiel auf den mannshohen merkantilischen Silberspiegel. Sie betrachtete sich kritisch, drehte den Kopf, ohne ihr Gesicht aus den Augen zu lassen, und wandte ihren Körper ein wenig zur Seite. Die rote Schminke war makellos, und die weiß gemalten Himmelsbrauen verliehen ihrem Gesicht etwas Überirdisches. Das blaue Seidenkleid mit dem ausladenden Kragen ließ erahnen, wo ihr Leib weiblich weich war, ohne seine Schwächen zu offenbaren. Aber es war lange her, daß sie die Schleierbandhaube abgenommen und einem Mann ihr Haar enthüllt hatte.

»Nein«, sagte sie mit jäher Härte, »das Gelage ist nicht wie erwartet verlaufen. Fong-Kuoy machte mir ein Kompliment – weil es nicht tugendhaft gewesen wäre, eine Frau ohne eine Bestätigung ihrer Schönheit zu verlassen. Dann ließ er sich von zwei jungen Priesterinnen aufhelfen und ins Schlafgemach führen.«

Lü erschauderte unter dem Ansturm von Gefühlen: Kränkung, Erleichterung, Abscheu – und Panik. Ja, ein tödlicher Schatten der Angst fiel über ihre Seele – einer Angst, die sie bislang immer bezwungen hatte.

Sie warf sich selbst einen prüfenden Blick zu. Vor ihr lag ihr achtunddreißigster Frühling. Unwillkürlich glitten ihre Fingerspitzen über ihre Wangen. Auch die Ziegenmilchbäder und die mangalische Vulkanerde, die sie nun schon jeden Tag auflegte, konnten nicht länger verbergen, was ihre Finger überdeutlich fühlten. Sie begann alt zu werden.

Ihr Blick fiel auf die Hand mit dem Ringsiegel. Für dieses Zeichen hatte sie viel geopfert. Die Rechte war steif geworden von den vier breiten Ringen, die das Siegel trugen. Aber ebendieses Siegel zeichnete sie als Herrin der Inneren Kammer aus und erlaubte nun ihr, all ihre Wünsche erfüllt zu sehen.

Und was war mit diesem ihren Wunsch: nicht alt zu werden? Eine Priesterin hatte keine unerfüllten Wünsche zu haben. Doch den Wunsch konnte ihr niemand erfüllen: kein Gläubiger, kein Priester, kein Blauer Gott.

Die Blauen Götter!

Lü fühlte, wie ein Schauder ihr Rückgrat hinabfuhr, halb heilig, halb voll Entsetzen. Der Herr der Unwandelbaren Ordnung würde im Frühling ausziehen, um die Fangs, die Blauen Götter, zu erschlagen.

»Ich habe noch nie einen Fang gesehen.« Tschöng-Hau Leng lag durch drei Eroberungen vom Unvollendeten Palast der Blauen Götter getrennt. Lü war nie ausgewählt worden, die Roten Steine der Mangalischen Küste zum Opfer zu bringen. In früheren Jahrhunderten, so hieß es in den Tempelchroniken, war der Hohepriester noch selbst ausgezogen, um dem Befehl der Götter Gehorsam zu leisten. Aber heutzutage wurde jeder rote Edelstein erst nach Mantikor Leng geschickt, der Stadt der Mantikoren.

Es war ein offenes Geheimnis, daß die Kammern der Geomauten, der Nautiker, der Astrologen, der Alchimisten, der Architekten und der Lebensdeuter ihren Anteil erhielten, ehe sie eine Karawane zusammenstellten. Mehrfach, so hieß es in den letzten Jahren, waren einfach nicht genug Rote Steine übrig geblieben, daß sich überhaupt eine Karawane gelohnt hätte.

Und die Blauen Götter hatten geschwiegen! Nein, eigentlich schlimmer: sie hatten geflucht. Sie hatten den Sterblichen üble Drohungen entgegengeschleudert. Doch dabei war es geblieben. Es war Jahrhunderte her, seit die Fangs zuletzt ausgezogen waren, um jeden Sterblichen zu erschlagen, der ihnen die Roten Steine vorenthielt. Das war noch zu Zeiten des ersten Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, gewesen.

»Und nun dieser Auftrag«, stöhnte sie. »Ausgerechnet ich.« Lü blickte nach der silbern durchwirkten Klingelkordel. Sollte sie den Herrn der Kammer der Ordnung rufen und sich die Chronik bringen lassen? Sie unterdrückte ein Gähnen. Nein, nicht nach diesem Festmahl. . Ihre Hände betasteten mißbilligend ihren Bauch. Sie hatte sich mit der Feder erleichtert, aber dennoch fühlte sie sich aufgebläht.

Hatte sie Wünsche? Routiniert erforschte Lü ihr Gemüt. Vielleicht sollte sie sich einen der jungen Priester kommen lassen. Der kleine Giung war niedlich – und respektvoll und leidenschaftlich dazu. Nein, sie wollte keinen Mann. Wie so oft hatte sie keine Wünsche. Alles, was sie fühlte, war diese hungrige Leere an einer Stelle ihrer Seele, die nicht einmal einen Namen hatte.

Himmlisches Feuer

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