Читать книгу Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft - Societas Europaea - Hans-Peter Schwintowski - Страница 410
6.2 Organhaftung
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Vorstandsmitglieder haften nach der Grundhaftungsnorm des § 93 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 AktG der Gesellschaft gegenüber auf Schadenersatz, wenn sie bei ihrer Geschäftsführung schuldhaft nicht die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einhalten und der Gesellschaft daraus ein Schaden entsteht. Nach zutreffender h.M. handelt es sich bei § 93 Abs. 2 S. 1 AktG um eine eigene Anspruchsgrundlage, die an die Organstellung und nicht an den Anstellungsvertrag anknüpft, d.h. es ist ein Fall der Organhaftung anzunehmen.[32]
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Für börsennotierte Gesellschaften wiederholt Ziff. 3.8 des DCGK entsprechend in verkürzter Form den Gesetzestext, indem er anordnet, dass Geschäftsleiter bzw. Aufsichtsratsmitglieder, die schuldhaft die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters verletzen, der Gesellschaft gegenüber zum Schadensersatz verpflichtet sind.[33]
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Aufgrund der Fülle der mit der Unternehmensführung verbundenen Sorgfaltspflichten sehen sowohl das Gesetz als auch der DCGK zutreffend davon ab, die haftungsrelevanten Sorgfaltspflichten aus der eigenverantwortlichen Unternehmensleitung i.S.d. § 76 Abs. 1 AktG weitergehend als mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters zu umschreiben bzw. zu definieren.[34]
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Lediglich für bestimmte Sondertatbestände wird die Sorgfaltspflicht präzisiert. Dies gilt für die Verpflichtung zur Verschwiegenheit in § 93 Abs. 1 S. 3 AktG, die die Vorstandsmitglieder verpflichtet, über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der SE als Ausprägung der organschaftlichen Treuepflicht Stillschweigen zu bewahren.[35]
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In § 93 Abs. 3 AktG werden außerdem eine Reihe von Pflichtverletzungen, die zu einer Ersatzpflicht führen, genannt. Systematisch handelt es sich bei den in § 93 Abs. 3 AktG genannten Fällen jedoch nicht nur um eine Präzisierung der Pflichtverstöße, sondern gleichzeitig um eine Modifikation des allgemeinen Schadensbegriffs, wie er in §§ 249 ff. BGB vorgegeben ist. Bei Feststellung eines der in § 93 Abs. 3 AktG geregelten Pflichtverstöße besteht der Schaden für die SE bereits im Abfluss der Mittel oder in ihrer Vorenthaltung. Eine Gesamtvermögensbetrachtung unter Einschluss von Ansprüchen auf Rückzahlung der Einlageleistung oder Berücksichtigung von sonstigen Vorteilen ist nicht möglich. Der Einwand des fehlenden Schadens kann nur darauf gestützt werden, dass die entzogenen Beträge tatsächlich wieder zurückgeführt oder die vorenthaltenen Einlagen geleistet wurden.[36]
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Von diesen gesetzlich geregelten Sonderfällen abgesehen, bestimmt sich die Haftung des Vorstands nach der Generalklausel in § 93 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 S. 1 AktG. Die Haftung ist im Einzelfall am Normzweck des § 93 AktG zu orientieren. Als Gegengewicht zur eigenverantwortlichen Leitung der Gesellschaft durch den Vorstand (§ 76 Abs. 1 AktG) und der dadurch begründeten Haftung der Gesellschaft, d.h. zum Auseinanderfallen von Handelndem und Haftendem, muss eine Innenhaftung begründet werden, durch die der Vorstand der Gesellschaft für sein Handeln verantwortlich wird.
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Vorrangiger Normzweck des § 93 AktG ist daher der Schutz des Gesellschaftsvermögens.[37] Durch den Schutz des Gesellschaftsvermögens über die Haftung der Vorstandsmitglieder sollen auch die Aktionäre und die Gesellschaftsgläubiger, wozu auch die Arbeitnehmer gehören, geschützt werden. Der Vorstand soll durch das bestehende Haftungsrisiko präventiv dazu veranlasst werden, sein Handeln stets am Wohl der Gesellschaft auszurichten.
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Die relativ strenge Haftung aus § 93 AktG darf aber nicht dazu führen, dass der Vorstand aufgrund der Gefahr einer persönlichen Haftung unternehmerische Entscheidungen nicht mehr trifft. Aus diesem Grund wurde durch das UMAG[38] § 93 Abs. 1 S. 2 AktG eingeführt, um eine Überwälzung des Unternehmerrisikos auf den Vorstand zu verhindern. Dadurch wurde dem Vorstand bei der unternehmerischen Leitung und Führung der Gesellschaft ein unternehmerischer Ermessensspielraum eingeräumt, der dazu führt, dass Fehlentscheidungen keine Pflichtverletzungen sind, sondern im unternehmerischen Risiko der Gesellschaft und ihrer Aktionäre liegen, solange der Vorstand annehmen durfte auf Basis angemessener Informationen zum Wohle der Gesellschaft zu handeln und dies auch vernünftigerweise annehmen durfte.[39]
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Ausgehend von dem so beschriebenen Normzweck ist das Verhalten des Vorstands jeweils im Einzelfall auf die Haftungsrelevanz zu überprüfen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass § 93 AktG zwingendes Recht ist und weder durch die Satzung noch durch den Anstellungsvertrag oder einen Hauptversammlungsbeschluss (arg.e. § 93 Abs. 4 S. 3 AktG) eingeschränkt werden kann.[40]
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Der Grundtatbestand des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG ordnet an, dass die Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden haben. Die Beschreibung der Sorgfaltspflichten hat dabei eine doppelte Funktion. Es wird einerseits der Sorgfaltsmaßstab festgelegt, dem die Vorstandsmitglieder unterliegen, und damit das ihrer Haftung gem. § 93 Abs. 2 S. 1 AktG zugrunde liegende Verschulden festgelegt (subjektive Pflichtwidrigkeit), zum anderen wird ein allgemeiner Auffangtatbestand geschaffen, auf den sich alle Pflichtverletzungstatbestände zurückführen lassen (objektive Pflichtwidrigkeit).[41]
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Die Haftung des Vorstandsmitglieds beginnt, da es sich um eine Organhaftung handelt, spätestens mit der Bestellung des Vorstandsmitglieds und seiner Annahme der Bestellung. Ob ein Anstellungsvertrag besteht, ist unerheblich.[42] Für die Haftung des Vorstands nach § 93 AktG ist es ebenfalls unerheblich, ob ein rechtswirksamer Bestellungsakt vorliegt. Auch die ohnehin nur deklaratorische Eintragung im Handelsregister ist nicht haftungsbegründend. Die Haftung beginnt nach allgemeiner Meinung bei fehlerhafter Bestellung oder fehlender Annahme der Bestellung in dem Zeitpunkt, in dem das Amt des Vorstandsmitglieds mit Wissen des Aufsichtsrats tatsächlich ausgeübt wird.[43]
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Umstritten ist, ob bei gänzlichem Fehlen eines Bestellungsakts das sog. faktische Organ gem. § 93 AktG haftet. Teilweise wird dies mit der Begründung abgelehnt, dass bloß tatsächliche Umstände keine rechtliche Sonderverbindung begründen können, die eine Haftung auslöst.[44] Die dadurch entstehenden Haftungslücken sind jedoch nicht akzeptabel und dogmatisch auch nicht zwingend notwendig. Wenn die Geschäftsführung Ansatzpunkt für die Haftung gem. § 93 AktG ist, dann muss sie auch Ausgangspunkt für die Entscheidung sein, wer als Organ haftet. Wer die Geschäftsführungsaufgaben mit Billigung des Aufsichtsrats übernimmt, haftet unabhängig davon, ob er überhaupt als Organ bestellt wurde, für sein faktisches Organhandeln und kann sich nicht auf die fehlende Bestellung berufen.[45]
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Die Haftung endet mit der Beendigung des Vorstandsamts.[46] Beim faktischen Vorstandsmitglied endet die Haftung dann, wenn es keine faktischen Organtätigkeiten tatsächlich mehr ausübt. Eine Haftung kann für nachwirkende Organpflichten, wie z.B. die Verschwiegenheitspflicht aus § 93 Abs. 1 S. 2 AktG auch nach Beendigung des Organverhältnisses fortbestehen.[47]
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Ein Anspruch aus § 93 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 S. 1 AktG hat folgende Voraussetzungen:[48] Aktivlegitimiert sind die Gesellschaft, vertreten durch den Aufsichtsrat (§ 112 AktG), Gesellschaftsgläubiger gem. § 93 Abs. 5 AktG oder ein besonderer Vertreter gem. § 147 Abs. 2 AktG. Passivlegitimiert ist das Vorstandsmitglied, ein faktisches Vorstandsmitglied, im Falle des § 116 AktG das Aufsichtsratsmitglied, gem. § 39 SEAG das Verwaltungsratsmitglied und gem. § 40 Abs. 8 SEAG der geschäftsführende Direktor. Es muss eine Pflichtverletzung gem. § 93 Abs. 1 AktG vorliegen. Die Pflichtverletzung muss schuldhaft erfolgt sein. Durch die Pflichtwidrigkeit muss der Gesellschaft ein Schaden entstanden sein. Es darf kein Anspruchsausschluss gem. § 93 Abs. 4 AktG gegeben sein. Der Anspruch darf nicht gem. § 93 Abs. 6 AktG verjährt sein.
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Wie bereits ausgeführt,[49] ist Schutzzweck der Norm, eine Schädigung der Gesellschaft zu verhindern. Aktionäre können aus § 93 Abs. 2 S. 1 AktG keine eigenen Ansprüche herleiten. Die Norm schützt ihre Vermögensansprüche nur mittelbar und ist kein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB.[50] Auch Dritte, z.B. Gläubiger der Gesellschaft, können aus § 93 Abs. 2 AktG keine Schadensersatzansprüche ableiten. Auch ihnen gegenüber ist § 93 Abs. 1 und 2 kein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB.[51]
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Denkbar sind deliktsrechtliche Ansprüche der Aktionäre und der Gesellschaftsgläubiger aus § 826 BGB und § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266 f. StGB, § 92 AktG.[52]
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Soweit Aktionäre nach diesen Normen eigene Ansprüche gegen den Vorstand haben, kann sich das sog. Problem des Doppelschadens stellen. Ein solcher Doppelschaden liegt dann vor, wenn das Vermögen des Aktionärs direkt nur durch die Wertminderung seiner Aktien geschädigt ist. Ein direkter Anspruch des Aktionärs gegen das Vorstandsmitglied kann grundsätzlich nur dann eintreten, wenn der Aktionär den Schaden der Gesellschaft ausgeglichen hat oder einen gesonderten unmittelbaren Schaden erlitten hat. Wenn der Schaden des Aktionärs lediglich der Reflex des der Gesellschaft entstandenen Schadens darstellt, kann der Aktionär keinen Anspruch auf Zahlung an sich, sondern lediglich Leistung an die Gesellschaft verlangen.[53]
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Da die Gesellschaftsgläubiger, abgesehen von den beschriebenen deliktischen Ansprüchen, keinen eigenen Anspruch gegen die Gesellschaft haben, müssten sie bei einer Schädigung durch das Vorstandshandeln einen Titel gegen die Gesellschaft erwirken und aus diesem Titel dann einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss (§§ 829, 835 ZPO) in die Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen den Vorstand gem. § 93 AktG erwirken. Um diesen umständlichen Weg abzukürzen, räumt § 93 Abs. 5 AktG den Gläubigern unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit ein, den Ersatzanspruch direkt gegenüber dem Vorstand geltend zu machen. Streitig ist, ob der Gläubiger den Anspruch im Wege der Prozessstandschaft[54] oder einen eigenen Anspruch gegen die Vorstandsmitglieder geltend macht, dessen Bestand mit dem Gesellschaftsanspruch verknüpft ist.[55] Gegen eine Prozessstandschaft spricht, dass der Gläubiger gem. § 93 Abs. 5 AktG zuvor eine Leistung an sich selbst verlangen kann, aber eine Überweisung zur Einziehung entsprechend § 835 Abs. 1 1. Fall ZPO nicht angenommen werden kann, weil das Vorstandsmitglied auch bei Geltendmachung des Anspruchs durch den Gläubiger mit schuldbefreiender Wirkung an die Gesellschaft leisten kann. Deshalb wird man davon auszugehen haben, dass es sich um eine materielle Anspruchsvervielfältigung handelt.[56] Der Anspruch kann vom Gesellschaftsgläubiger in allen Fällen des § 93 Abs. 3 AktG und bei Vorliegen der Voraussetzungen der Generalklausel des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG dann geltend gemacht werden, wenn die Sorgfaltspflichten gröblich verletzt wurden.
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Aus der eigenverantwortlichen Leitung der Gesellschaft gem. § 76 Abs. 1 AktG folgt die Pflicht des Vorstands, den Vorteil der Gesellschaft zu wahren und Schaden von ihr abzuwenden. Er hat sich so zu verhalten, wie ein pflichtbewusster selbständig tätiger Leiter eines Unternehmens vergleichbarer Art, der treuhänderisch fremde Vermögensinteressen wahrnimmt, zu handeln hat. Der Sorgfaltsmaßstab richtet sich nach dem in der konkreten Unternehmenssituation Erforderlichen und nicht nach den Usancen im Unternehmen oder dem in der Branche Üblichen. Die Sorgfaltspflicht wird durch die Vorschriften des AktG und etwaige Vorgaben im Anstellungsvertrag konkretisiert.[57]
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Um ihren umfassenden Aufgaben zu entsprechen, müssen die Vorstandsmitglieder die für die Wahrnehmung ihrer Leitungsaufgabe erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen. Sie können sich nicht darauf berufen, für die Gesellschaft erforderliche Entscheidungen mangels besonderer Kenntnisse nicht treffen zu können.[58]
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Das Hauptproblem der Bestimmung einer Sorgfaltspflichtverletzung des Vorstands liegt in der Abgrenzung der Verletzung der Sorgfaltspflicht gegenüber bloßen Irrtümern und Fehleinschätzungen. Wegen des weiten unternehmerischen Ermessensspielraums können Irrtümer und Fehleinschätzungen gegebenenfalls zur Abberufung des Vorstands und unter Umständen auch zur fristlosen Kündigung seines Anstellungsvertrages führen. Sie müssen aber noch nicht zu seiner zivilrechtlichen Haftung führen. Eine Erfolgshaftung des Vorstands gibt es nicht.[59]
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Der BGH hatte schon vor der Neueinfügung des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG[60] die Grenze des unternehmerischen Ermessens in Anlehnung an die im US-amerikanischen Recht geltende Business Judgement Rule in zwei grundlegenden Entscheidungen[61] konkretisiert und festgestellt, dass das unternehmerische Ermessen des Vorstands sehr weit geht und eine Haftung erst bei schlechthin unvertretbarem Vorstandshandeln eintreten darf. Wenn der Vorstand aufgrund sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen unter Ausnutzung aller Erkenntnisquellen eine am Unternehmenswohl orientierte Entscheidung trifft und diese sich dann im Nachhinein als fehlerhaft erweist, tritt keine Haftung des Vorstands ein. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG erweist sich insofern als eine Kodifikation der Rechtsprechung.[62]
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Obwohl es für die Beurteilung des unternehmerischen Beurteilungsspielraums immer auf die Frage der konkreten Entscheidungssituation ankommt, lässt sich die allgemeine Regel aufstellen, dass es zur unternehmerischen Leitung gehört, Risiken einzugehen, dass jedoch, je höher die Risiken sind, die Vorbereitung und Überprüfung der Entscheidung durch den Vorstand umso gründlicher ausfallen muss.[63]
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Aufgrund der Gesamtverantwortung des Vorstands haftet jedes Vorstandsmitglied nicht nur für seine eigenen unternehmerischen Entscheidungen in seinem Ressort, sondern auch für die Entscheidungen seiner Vorstandskollegen. Eine Geschäftsverteilung unter den Vorstandsmitgliedern hebt die Pflichten der unzuständigen Vorstandsmitglieder nicht auf. Deren Pflicht wandelt sich in eine Pflicht zur Überwachung der jeweils anderen Ressorts und eine Pflicht zum Einschreiten im Fall der Feststellung von Pflichtverletzungen.[64] Bei der Prüfung und Überwachung darf sich das unzuständige Vorstandsmitglied nicht darauf beschränken, gegen eine Beschlussvorlage, die aus dem Ressort eines anderen Vorstandsmitglieds stammt, zu stimmen. Wenn das Vorstandsmitglied erkennt, dass in der Maßnahme eine potenzielle Gefährdung der Gesellschaft enthalten ist, besteht die Verpflichtung, den Aufsichtsrat einzuschalten.[65]
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Ungeklärt ist, inwieweit die Empfehlungen des DCGK den Sorgfaltsmaßstab des § 93 AktG konkretisieren. Allgemein wird davon ausgegangen, dass eine Haftungsverschärfung durch die Beachtung oder Nichtbeachtung der Empfehlungen des DCGK nicht eintreten soll. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Abs. 6 der Präambel des DCGK den Gesellschaften ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, von den Empfehlungen des Kodex abzuweichen, um branchen- oder unternehmensspezifische Bedürfnisse wahrnehmen zu können. Aus der Gesetzesbegründung[66] ergibt sich, dass der DCGK unverbindliche Verhaltensempfehlungen geben will.[67] Denkbar ist gegebenenfalls, dass der DCGK zur Auslegung aktienrechtlicher Vorschriften herangezogen werden kann.[68] Auch die Abgabe der Entsprechungserklärung gem. § 161 AktG kann nicht als rechtlich bindende Konkretisierung der Sorgfaltspflichten des Vorstands angesehen werden, denn die Entsprechungserklärung wird von den Organen abgegeben, um die von der Gesellschaft geübte Corporate Governance transparent zu machen. Eine rechtliche Bindungswirkung für oder zwischen den Organen soll dadurch nicht erreicht werden.[69]
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Bindungswirkungen entfalten die Empfehlungen des DCGK jedoch dann, wenn sie zum Inhalt der Geschäftsordnung und des Anstellungsvertrages des Vorstands gemacht wurden. Eine Sorgfaltspflichtverletzung des Vorstands ist auch anzunehmen, wenn die Entsprechungserklärung gem. § 161 AktG nicht abgegeben wird, von den Empfehlungen ohne Bekanntmachung abgewichen wird oder eine von vornherein unzutreffende Entsprechungserklärung abgegeben wird.[70]
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Eine Ersatzpflicht des Vorstands setzt voraus, dass das Vorstandsmitglied schuldhaft, d.h. vorsätzlich oder fahrlässig, die gestellten Sorgfaltsanforderungen verletzt hat. Der Verschuldensmaßstab des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG ist wie derjenige des § 276 Abs. 1 S. 2 BGB ein typisierter. D. h., es kommt darauf an, ob das Vorstandsmitglied die subjektiv an ein ordentliches und gewissenhaftes Geschäftsleitungsmitglied zu stellenden Sorgfaltsmaßstäbe beachtet hat. Aufgrund dieser typisierten Betrachtung ist bei der Feststellung eines objektiven Sorgfaltspflichtverstoßes auch die subjektive Pflichtwidrigkeit regelmäßig anzunehmen. Dies ist letztendlich darauf zurückzuführen, dass Vorstandsmitglieder die Fähigkeiten und Kenntnisse haben müssen, die für die ihnen anvertraute Leistungsaufgabe objektiv erforderlich sind. Bei mangelnden eigenen Kenntnissen und Fähigkeiten können sich die Vorstandsmitglieder daher nicht exkulpieren.[71] Dem Verschulden kommt aus diesem Grund in der Praxis nur geringe Bedeutung zu, da in der Regel die objektive und die subjektive Pflichtwidrigkeit deckungsgleich sind. Allenfalls in Fällen, in denen ein sofortiges Handeln vom Vorstand im Gesellschaftsinteresse verlangt wird und er keinen sachverständigen Rat einholen kann, ist ein Auseinanderfallen von objektivem und subjektivem Pflichtverstoß denkbar.[72]
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Sowohl die objektive Pflichtwidrigkeit als auch die subjektive Pflichtwidrigkeit, d.h. das Verschulden des Vorstands, wären im Streitfall nach allgemeinen Beweislastregeln von der Gesellschaft als Anspruchstellerin zu beweisen. Diese Beweisführung wäre der Gesellschaft im Streitfall oft nicht möglich, weil nur der Vorstand über die entsprechenden Unterlagen und Dokumentationen seines unternehmerischen Handelns verfügt. Deshalb ordnet § 93 Abs. 2 S. 2 AktG eine Beweislastumkehr an und fordert vom Vorstand den Beweis, dass er die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt hat.[73]
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Die Verteilung der Beweislast bei Geltendmachung eines Anspruchs gem. § 93 Abs. 2 S. 1 AktG stellt sich demnach wie folgt dar:
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Die Gesellschaft hat die Handlung oder Unterlassung des beklagten Vorstandsmitglieds, den Eintritt eines Schadens und die adäquate Kausalität zwischen Handlung und Schaden zu beweisen. Gelingt ihr diese Darlegung und auch der erforderliche Beweis, muss der Vorstand darlegen und beweisen, dass er nicht pflichtwidrig und nicht schuldhaft gehandelt hat oder der Schaden auch bei einem pflichtgemäßen Verhalten eingetreten wäre (rechtmäßiges Alternativverhalten).[74] Die geschilderte Beweislastregelung gilt auch in den Fällen des § 93 Abs. 3 AktG: Hier kommt ergänzend zu der Beweiserleichterung zugunsten der Gesellschaft hinzu, dass bei Vorliegen einer der dort genannten Vermögensminderungen das Vorliegen eines Schadens der Gesellschaft vermutet wird.[75]
301
Die Haftung gem. § 93 Abs. 2 S. 1 AktG ist für jedes Vorstandsmitglied individuell festzustellen. Verletzen mehrere Vorstandsmitglieder ihre Sorgfaltspflichten, so haften sie der Gesellschaft für den daraus entstandenen Schaden als Gesamtschuldner. Die gesamtschuldnerische Haftung tritt dann ein, wenn die Vorstandsmitglieder eine Schädigung durch gemeinsames Handeln oder Unterlassen herbeigeführt haben, weil die Maßnahme in die Gesamtzuständigkeit des Vorstands oder mehrerer Vorstandsmitglieder gefallen ist. Denkbar ist auch der Fall, dass ein Vorstandsmitglied in seinem Ressort den Pflichtverstoß begangen hat, die anderen Vorstandsmitglieder in diesem Zusammenhang aber ihre Kontroll- und Überwachungspflichten nicht in ausreichendem Umfang ausgeübt haben.[76]
302
Eine Haftung der Vorstandsmitglieder ist gem. § 93 Abs. 4 S. 1 AktG ausgeschlossen, wenn ihre pflichtwidrige Handlung oder Unterlassung auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht. Zu beachten ist allerdings, dass nicht jeder Hauptversammlungsbeschluss zu einem Haftungsausschluss führt. Nur in den Fällen, in denen der Vorstand gem. § 83 Abs. 2 AktG an die Beschlüsse der Hauptversammlung gebunden ist, tritt auch ein Haftungsausschluss gem. § 93 Abs. 4 S. 1 AktG ein. Die bloße Ermächtigung zu einem bestimmten Handeln durch einen Hauptversammlungsbeschluss führt nicht zum Haftungsausschluss.[77] Auch die Billigung des Vorstandshandelns durch den Aufsichtsrat führt gem. § 93 Abs. 4 S. 2 AktG nicht zu einem Haftungsausschluss gegenüber dem Vorstand. Durch die Billigung kann allerdings eine zusätzliche Haftung des Aufsichtsrats gem. § 116 i.V.m. § 93 AktG eintreten.[78]
303
Auch die nachträgliche Billigung des Vorstandshandelns und ein Verzicht auf Schadensersatzansprüche sind nur unter engen Voraussetzungen möglich. Gem. § 93 Abs. 4 S. 3 AktG kann ein Verzicht oder ein Vergleich nur auf der Grundlage eines Hauptversammlungsbeschlusses nach Ablauf von drei Jahren nach Entstehen des Anspruchs abgeschlossen werden. Zusätzliche Voraussetzung ist, dass nicht eine Minderheit, die 10 % des Grundkapitals hält, Widerspruch erhebt.[79]
304
Die Ansprüche gegen die Vorstandsmitglieder verjähren nunmehr[80] gem. § 93 Abs. 6 AktG bei Gesellschaften, die zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung börsennotiert sind, in zehn Jahren, bei anderen Gesellschaften in fünf Jahren. Für Organe von Kreditinstituten gilt gem. § 52a Abs. 1 KWG unabhängig von der Börsennotierung die zehnjährige Verjährungsfrist. Die Verjährungsfrist kann weder im Anstellungsvertrag noch durch die Satzung verlängert oder verkürzt werden. Die Regelung in § 93 Abs. 6 AktG ist abschließend und zwingend.[81] Die Verjährungsfrist gilt für alle Ansprüche der Gesellschaft, egal ob sie von Gläubigern gem. § 93 Abs. 5 AktG geltend gemacht werden oder ob es sich um eine schwerwiegende Pflichtverletzung gem. § 93 Abs. 3 AktG handelt. Sofern neben der Haftung aus § 93 AktG Ansprüche aus einer positiven Vertragsverletzung des Anstellungsvertrages konkurrierend angenommen werden,[82] verjähren Ansprüche aus einer positiven Verletzung des Anstellungsvertrages ebenfalls gem. § 93 Abs. 6 AktG in zehn Jahren bei börsennotierten Gesellschaften und im Übrigen in fünf Jahren.[83] Alle sonstigen Schadensersatzansprüche gegen die Vorstandsmitglieder verjähren selbständig nach den für sie geltenden Verjährungsvorschriften.[84]
305
§ 93 Abs. 6 AktG enthält für den Beginn und das Ende der Verjährung keine gesonderten Regelungen, sodass die allgemeinen Verjährungsvorschriften des BGB zur Anwendung kommen. Die Verjährung beginnt damit gem. § 200 BGB mit der Entstehung des Anspruchs als objektivem Umstand. Im Gegensatz zum früheren Recht ist damit für den Beginn der Verjährungsfrist nicht die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen des Anspruchsberechtigten der anspruchsbegründenden Tatsachen erforderlich. Vielmehr knüpft der Beginn der Verjährung an die erstmalige Möglichkeit der Geltendmachung des Anspruchs durch Klage an.[85] Es ist zu beachten, dass die zehnjährige Verjährungsfrist auch auf vor dem 15.12.2010 entstandene, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährte Ansprüche anzuwenden ist.[86]