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5. Ungeschriebene Zuständigkeiten[17]

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Die offene Gestaltung in Art. 52 SE-VO bietet Raum für gemeinschaftsrechtlich begründete ungeschriebene Hauptversammlungskompetenzen, auch wenn sich anders als im nationalen Recht bisher keine überzeugende und allgemein akzeptierte Kasuistik herausgebildet hat.[18] Die Anerkennung von ungeschriebenen Zuständigkeiten aufgrund nationalen Rechts auf die SE ist umstritten, sollte aber beachtet werden.[19] Der Wortlaut des § 119 Abs. 1 AktG legt den Schluss nahe, dass es neben den im Gesetz oder in der Satzung geregelten Fällen grundsätzlich keine Hauptversammlungszuständigkeit gibt, es sei denn, der Vorstand riefe gem. § 119 Abs. 2 AktG von sich aus die Hauptversammlung an.[20] Das würde bedeuten, dass selbst substanzielle Eingriffe in die Unternehmensstruktur (z.B. die Veräußerung erheblicher Vermögenswerte der Gesellschaft unterhalb der quantitativen Grenze des § 179a AktG oder der Erwerb großer Beteiligungen) der Gesellschaft selbst oder ihrer Tochtergesellschaften ausschließlich der Entscheidungsbefugnis des Leitungsorgans unterliegen würden. Dieses Ergebnis erscheint umso unbefriedigender, wenn man sich vor Augen führt, dass diese Sachverhalte nicht weniger bedeutungsvoll sind als viele, die der Hauptversammlung per Gesetz zur Entscheidung übertragen worden sind.[21]

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Dieses Kompetenzdefizit der Hauptversammlung ist alsbald nach Inkrafttreten des Aktiengesetzes 1965 in der Literatur erkannt worden.[22] Im Jahre 1982 hat erstmals auch der BGH im sog. „Holzmüller-Urteil“ festgestellt,[23] dass es über die gesetzlichen Regelungen hinaus eine erweiterte Zuständigkeit der Hauptversammlung für bestimmte Geschäftsführungsmaßnahmen gibt; so für den Fall, dass durch die Maßnahme tief in die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörpertes Vermögensinteresse eingegriffen wird. Des Weiteren muss es sie auch geben für grundlegende, die Rechtsstellung der Aktionäre der Obergesellschaft bedeutsame Entscheidungen in der Tochtergesellschaft. In solchen Fällen – so der BGH in der Holzmüller-Entscheidung – werde aus dem Recht des Vorstands, eine Entscheidung der Hauptversammlung einzuholen (vgl. § 119 Abs. 2 AktG), eine Verpflichtung.[24]

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In seinen beiden Urteilen aus dem Jahre 2004 (Gelatine),[25] die sich mit der Mitwirkungsbefugnis der Hauptversammlung bei Geschäftsführungsmaßnahmen des Vorstands der AG beschäftigen, hat der BGH klargestellt, dass eine Einschaltung der Hauptversammlung nur ausnahmsweise geboten ist. Danach kommt eine Mitwirkung der Hauptversammlung bei solchen Maßnahmen in Betracht, welche „an die Kernkompetenz der Hauptversammlung, über die Verfassung der Gesellschaft zu bestimmen, rühren und in ihren Auswirkungen einem Zustand nahezu entsprechen, der allein durch eine Satzungsänderung herbeigeführt werden kann.“ Der BGH hat deutlich gemacht, dass er diese Voraussetzung nicht nur für den Fall der Ausgliederung von wichtigen Betriebsteilen auf eine Tochtergesellschaft (wie etwa im Holzmüller-Fall) als gegeben ansieht, sondern auch bei einer sonstigen Umstrukturierung des Anteilsbesitzes (etwa bei Einbringung einer Tochtergesellschaft in eine andere Tochtergesellschaft).

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Im Ergebnis ist festzuhalten, dass es eine über die Zuweisungen in Gesetz und Satzung hinausgehende Zuständigkeit der Hauptversammlung geben muss und auch gibt. Die Leitungsorgane der Unternehmen haben dementsprechend gehandelt und in einigen Fällen die Umsetzung geplanter Maßnahmen, die per Gesetz oder Satzung eigentlich nicht der Zustimmung der Hauptversammlung bedurften, in der Praxis doch davon abhängig gemacht.[26]

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Die beiden erwähnten Urteile des BGH haben in zwei Fragen Rechtssicherheit geschaffen: Zum einen ist die Mitwirkung der Hauptversammlung an Umstrukturierungen regelmäßig erst dann geboten, wenn der Bereich, auf den sich die Maßnahme erstreckt, in seiner Bedeutung für die Gesellschaft die Ausmaße der Ausgliederung im Holzmüller-Fall (dort waren es 80 % des Gesellschaftsvermögens) erreicht. Zum anderen bedarf die Zustimmung der Hauptversammlung einer Dreiviertel-Mehrheit des vertretenen Grundkapitals, ohne dass diese Schwelle durch die Satzung herabgesetzt werden kann.[27]

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Es bleiben allerdings auch noch Fragen in diesem Zusammenhang offen:

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Die Herleitung der ungeschriebenen Entscheidungszuständigkeit der Hauptversammlung ist einer dieser offenen Punkte. Es gibt verschiedene Ansatzmöglichkeiten für die Begründung der Hauptversammlungszuständigkeit: In der Holzmüller-Entscheidung hat der BGH sich noch an § 119 Abs. 2 AktG mit der Folge einer Ermessensreduzierung beim Vorstand auf Null aufgrund des schwerwiegenden Eingriffs in die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre angelehnt. Jetzt spricht er von einer offenen Rechtsfortbildung in Anbetracht der Tatsache, dass die zu beurteilende Maßnahme zwar noch keine Satzungsänderung sei, ihr aber in der Wirkung sehr nahe komme. Die h.M. im Schrifttum[28] gibt der Hauptversammlung eine originäre Zuständigkeit und leitet diese aus einer Analogie zu den im Aktiengesetz oder im Umwandlungsgesetz definierten Strukturmaßnahmen her.

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Der BGH hat auch in den beiden zuvor zitierten Urteilen nicht abschließend darüber befunden, bei welchen konkreten Geschäftsführungsmaßnahmen der Vorstand intern gehalten ist, die Zustimmung der Hauptversammlung einzuholen. Neue Rechtsunsicherheit resultiert insbesondere aus der Formulierung des BGH, dass die Geschäftsführungsmaßnahme ihrer Wirkung nach einer Satzungsänderung nahe kommen muss.

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Offen ist auch weiterhin, welche Bemessungsgrundlage für eine Einschaltung der Hauptversammlung entscheidend ist – das Vermögen, der Umsatz oder der Ertrag der Gesellschaft. Das OLG Frankfurt ist dem im Rahmen einer Anfechtungsklage gegen die Entlastung des Vorstands in seiner Entscheidung[29] entgegen getreten. Mit seinem Leitsatz führt das OLG Frankfurt aus, dass der Erwerb einer Beteiligung unabhängig von der hierbei geschaffenen Anteilsquote bei der Aktiengesellschaft in die Reihe vorstandsautonomer Geschäftsführungsangelegenheiten gehöre, wenn die satzungsmäßige Zulassung genereller Art vorliege. Eine Zuständigkeit der Hauptversammlung nach der sog. „Holzmüller-“ bzw. „Gelatine-Rechtsprechung“ des BGH komme dann nicht in Betracht. Eine hauptversammlungspflichtige Geschäftsführungsmaßnahme des Vorstandes liege also dann nicht vor, wenn in der Satzung der Gesellschaft der Unternehmensgegenstand auch den Erwerb von Unternehmen nennt (Konzernöffnungsklausel). Die Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom BGH[30] zurückgewiesen, jedoch wurde damit die Auffassung des OLG Frankfurt auch nicht im Ergebnis bestätigt. In seiner Urteilsbegründung führt der BGH u.a. aus, die Anfechtungsklage sei unbegründet gewesen, da in der unterlassenen Beteiligung der Hauptversammlung jedenfalls kein eindeutiger Gesetzesverstoß durch Vorstand und Aufsichtsrats vorliege. Da umstritten sei, ob und unter welchen Voraussetzungen der Beteiligungserwerb zu einer ungeschriebenen, auf einer richterlichen Rechtsfortbildung beruhenden Hauptversammlungszuständigkeit führt, hätten sich Vorstand und Aufsichtsrat nicht über eine zweifelsfreie Gesetzeslage hinweggesetzt. Will ein Aktionär geltend machen, der Vorstand habe zu einer Maßnahme die notwendige Zustimmung der Hauptversammlung nicht eingeholt, sei er nicht auf die mittelbare Prüfung durch eine Anfechtungsklage gegen den Entlastungsbeschluss angewiesen.

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In der Praxis sollte daher mit der ungeschriebenen Zuständigkeit der Hauptversammlung wie folgt umgegangen werden:

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Zunächst ist eine konkret anstehende Entscheidung des Leitungsorgans, die über die gesetzlich vorgesehenen Fälle der Zustimmungspflicht hinausgeht, dahin zu überprüfen, ob sie mit den bereits höchstrichterlich entschiedenen Fällen zur Hauptversammlungskompetenz vergleichbar ist. Wenn ja, ist die Vorlage an die Hauptversammlung dringend zu empfehlen, um die größtmögliche Sicherheit zu erhalten, dass die zu treffende Entscheidung auch Bestand haben wird.

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Was die Mehrheitsverhältnisse bei der Entscheidung durch die Hauptversammlung angeht, ist mit der Rechtsprechung des BGH davon auszugehen, dass eine Mehrheit von drei Viertel des vertretenen Grundkapitals erforderlich ist.

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