Читать книгу Einführung in die Fundamentaltheologie - Hansjürgen Verweyen - Страница 16
d) Zur weiteren Entwicklung
ОглавлениеJustins besondere Rolle in der Geschichte der rationalen Verantwortung christlichen Glauben basiert auf dem Versuch, in gründlicher Auseinandersetzung mit einer vor allem stoisch geprägten Philosophie den fleischgewordenen Logos als die wahrste Frucht des Samens zu erweisen, den der göttliche logos spermatikos schon immer in der Welt ausgesät hat. Die auf Marc Aurel folgenden Kaiser zeigten kein Interesse mehr an dem stoischen Denken, das alte römische Werte im zweiten nachchristlichen Jahrhundert noch einmal kraftvoll hatte aufleben lassen. Nach dem Erlaß des Septimius Severus im Jahre 202, der den Übertritt zum Judentum und zur christlichen Religion unter schwere Strafe stellte, war die rechtliche Voraussetzung für eine öffentliche Verteidigungsrede wie die Justins nicht mehr gegeben.
Irenäus leitet eine neue Phase der Glaubensverantwortung ein: Wo ein das klare Denken ausschaltendes Pseudochristentum die Glaubenden in seinen Bann schlägt, muß diesem faszinierenden Schauspieler zunächst mit scharfem Verstand die Maske vom Gesicht gerissen werden. Vor allem aber gilt es, den Glauben über eine Reflexion auf seine unerläßlichen formalen Voraussetzungen (vgl. 1c, Aspekt 3) wie durch die inhaltliche Darlegung seiner dem kritischen Denken standhaltenden Wahrheit (vgl. 1c, Aspekt 2) in sich selbst zu festigen. Die Fundamentaltheologie kann nur die äußeren Umrisse dieser doppelten Aufgabe aufzeigen. Ihre Durchführung ist Sache des gesamten „Wir“ der Kirche.
Beginn der Dogmenbildung
Auf die Erfüllung dieser Aufgabe sehen wir die Gemeinden im Osten und Westen des zerfallenden Römischen Reiches in den nächsten Jahrhunderten konzentriert. Nicht mehr die Entwicklung neuer fundamentaltheologischer Gesichtspunkte durch einzelne, herausragende Gelehrte steht im Vordergrund, sondern die gemeinsame Abstimmung auf das, was als Basis für eine bleibende authentische Gestalt der Kirche gelten darf. Dabei erwies sich die Formulierung der unverzichtbaren Inhalte des Glaubens als besonders schwierig. Welche Worte waren tauglich, um die bereits bestehende Vielfalt christlichen Traditionsguts durch begrifflich klare Aussagen auf einen für alle gültigen „Nenner“ zu bringen, d. h. die grundlegenden Dogmen des Glaubens herauszuarbeiten (vgl. Aspekt 2 mit 3c)? Es lag nahe, auf solche Begriffe zurückzugreifen, die auf dem Wege philosophischer Reflexion bereits scharfe Konturen erhalten hatten. Aber „die Philosophie“ existierte nur in einer Vielzahl von Schulmeinungen, in denen dieselben Begriffe in sehr unterschiedlicher Bedeutung verwandt wurden. Welche dieser Bedeutungen eigneten sich für die Formulierung christlichen Glaubens? Wenigstens einige wichtige Faktoren im Entscheidungsprozeß über diese Fragen sollen im Folgenden angesprochen werden.
Einfluss des Platonismus
1) In der Zeit des politischen und kulturellen Niedergangs des Römischen Reiches vom Ende des zweiten bis zum Beginn des vierten Jahrhunderts hatte sich allein Alexandria als Zentrum kontinuierlich betriebener Wissenschaften erhalten können. Hier erwuchs im dritten Jahrhundert aus ursprünglich lockeren „Intellektuellenzirkeln“, in denen Christen mit Gebildeten aller Art diskutierten, der Kirche eine theologische Schule, der für die Gestaltung des frühchristlichen Dogmas eine überragende Bedeutung zukam. In der Pluralität religiöser und philosophischer Strömungen im kulturellen Umfeld Alexandrias hatte sich allerdings über die Jahrhunderte hinweg allein der Platonismus als geistig führende Kraft durchzusetzen vermocht. Das platonische Philosophieren war einerseits dualistisch genug, um sich in dieser Welt kulturell heimatloser Menschen behaupten zu können. Trotz seiner variantenreichen Entwicklung blieb es anderseits aber stets begrifflich hinreichend klar formuliert, um in dem Tohuwabohu unausgegorener Lehren und Praktiken immer wieder zu systematischem Denken anzuleiten. Vor allem unter diesem Einfluß hat die christliche Theologie eine im Grunde nie völlig bewältigte Prägung durch die für platonisches Denken charakteristische abwertende Einschätzung materiellen Seins erhalten.
Kaiserliche Überwachung der Konzilien
2) Im Kampf um die Einheit des christlichen Glaubens war die frühe Kirche bis hin zu Konstantin einer ständig präsenten Bedrohung von außen, letztlich von Seiten des Kaisers ausgesetzt. Seit der Übernahme der Alleinherrschaft durch Konstantin im Jahre 324 war sie von innen durch die theokratisch regierenden Herrscher von Konstantinopel (Byzanz) bedroht. Das Konzil von Nicaea, die erste „ökumenische“ Versammlung der Bischöfe, die für den ganzen christlichen „Erdkreis“ (oikumene) verbindliche Dogmen und Normen festsetzte, wurde vom Kaiser bereits 325 einberufen und überwacht. Dasselbe Recht nahmen die Kaiser auch für die nachfolgenden sieben ökumenischen Konzilien in Anspruch. Die Frage ist berechtigt, welche von beiden Bedrohungen für den Glauben gefährlicher war. Sicher ist aber, daß die Kirche sich beiden in bewundernswerter Weise gestellt hat. In den Verfolgungen hat sie sich erstmals als eine religiöse Gemeinschaft bewährt, die noch heute allgemeine Hochachtung verdient.
Das grundlegende Credo
Trotz der expliziten und impliziten Einflußnahmen der Kaiser vor, auf und nach den Konzilien, Einmischungen, die immer wieder die eine oder andere Fraktion bzw. Koalition von Bischöfen zu einer Gefahr für die kirchliche Einheit werden ließen, ist das im Jahre 451 festgeschriebene Glaubensbekenntnis von Nicaea und Konstantinopel eine Klammer geblieben, die bis in die Gegenwart „die inzwischen getrennten Kirchen zusammenhält und die zugleich zur Kirchengemeinschaft mahnt“ (66: 27f.).
Philosophie und Theologie am Ausgang der Antike
3) Aus fundamentaltheologischer Sicht ist die Frage von besonderem Gewicht, wie sich in dieser Phase kirchlicher Konsolidierung das Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie gestaltete. Galt „die Philosophie“ – wie bei Philon und Justin – weiterhin als eine eigenständige geistige Instanz, vor der sich die Wahrheit des christlichen Glaubens zu bewähren hatte, oder war sie inzwischen zu einem Begriffsreservoir für zu formulierende Glaubenslehren gezähmt worden? Bei dieser vom neuzeitlichen Denken her naheliegenden Alternativfrage muß im Blick auf die antike Situation stärker differenziert werden. Gewiß war, zum einen, bereits 391 das Christentum zur Staatsreligion erklärt und ein Verbot aller heidnischen Kulte erlassen worden. Erst 529 wurde jedoch durch Kaiser Justinian die von Platon selbst um 387 v. Chr. gegründete Akademie in Athen geschlossen und jeglicher Unterricht durch heidnische Lehrer verboten. Zumindest die großen Theologen dieser Zeit, insbesondere Origenes, betrachteten vor allem die Philosophie Platons als eine geistige Macht, die ihrem Denken alle Kraft abforderte. Sie waren sich sehr wohl bewußt, welchen Dank sie diesem „Heiden“ bei ihrem Versuch schuldeten, den christlichen Glauben besser zu verstehen.
Zum anderen gibt es in der Antike allgemein noch nicht die Idee eines freien Dialogs zwischen einer auf religiösen Traditionen fußenden Theologie und einer kraft eigener Vernunft betriebenen Philosophie, die auch eine „philosophische Theologie“ umfaßt. Vor allem den ionischen Philosophen und Aristoteles zufolge ersetzte die philosophische (oder „natürliche“) Theologie die mythische, im Staatskult verfestigte Theologie. Diese Sicht wurde – mit veränderten Vorzeichen – auch von christlichen Theologen übernommen. Die auf Offenbarung beruhende Theologie kann sich zwar durch die Aufnahme philosophischen Gedankenguts „bereichern“. Die „rechtmäßige Mitnahme“ „heidnischen“ Erbes war damals unter Berufung auf den Raub ägyptischer Schätze beim Auszug der Israeliten (vgl. Ex 12,35f.) geradezu ein Leitmotiv für die Integration griechisch-römischen Denkens in die christliche Theologie. Damit galt diese aber als die alles Frühere ersetzende „wahre Philosophie“.
Die Befreiung zur kritischen Vernunft im Westreich
Zu einer Befreiung wissenschaftlichen Denkens aus der Umklammerung kirchlich autorisierter Theologie und einem wirklich „interdisziplinären“ Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie ist es allein im lateinischen Westen gekommen. In dieser Hinsicht spielt das Werk Augustins eine eigentümliche Rolle. Er hat einen bemerkenswerten Beitrag zu einer sich radikal vor der kritischen Vernunft verantwortenden Theologie geleistet. Dieser Aspekt seines Denkens wurde in der Folgezeit aber wenig beachtet. Auf der anderen Seite findet man bei ihm abwertende Aussagen über die säkularen, rein auf der menschlichen Vernunft basierenden Wissenschaften, wie man sie bei einem mit dem antiken Denken so gründlich vertrauten Gelehrten kaum erwartet hätte.