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a) Mißtrauen als Prinzip neuzeitlichen Denkens

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Die kaiserlose Zeit

Durch die Ausrottung des Geschlechts der Hohenstaufen in den Jahren 1254–1268 konnte sich das Papsttum im Verbund mit Frankreich zwar von seinem Erzrivalen befreien. Nicht nur für Deutschland begann damit aber „die kaiserlose, die schreckliche Zeit“. Dies wurde bereits durch die berühmt-berüchtigte Bulle „Unam sanctam“ Bonifaz‘ VIII. von 1302 und die darauf folgenden Ereignisse deutlich. Den von Päpsten verschiedentlich vertretenen Anspruch, die höchste geistliche Gewalt auf Erden innezuhaben und alle weltliche Gewalt in Dienst nehmen und richten zu dürfen, trieb Bonifaz ins Maßlose. Die unmittelbar erfolgende „Antwort“ des französischen Königs und die Geschehnisse der nächsten Jahrzehnte zeigten, von welcher Fata Morgana sich der Papst hatte leiten lassen. Von der Bedrohung durch einen Kaiser befreit, der nie ein ganzes Land als Hausmacht hinter sich hatte, war das Papsttum nun geradezu unter die Lehnsherrschaft einer bereits weitgehend in sich gefestigten Nation geraten.

Der Papst in Avignon

Umgeben von neuem Glanze zwar: Von 1309 bis 1376 residierten sieben französische Päpste in Avignon, wo unter Papst Johannes XXII. (1316–1334) ein prunkvoller Palast entstand. Als nach dem Tode Gregors XI. in Rom Urban VI. und in Reaktion darauf der Vetter des französischen Königs zum Gegenpapst gewählt wurden, begann das „große abendländische Schisma“ (1378–1417).

Abendländisches Schisma

Schon in der ausgehenden Antike hatte sich im Christentum das Bewußtsein herausgebildet, mit dem Vermächtnis des fleischgewordenen Logos die ganze Saat von Wahrheit zum Erbe erhalten zu haben, die der „Samen ausstreuende Logos“ auf Erden verbreitet hatte. Nicht zuletzt dank der Führungsrolle, die das Papsttum bei dem zunächst glorreich erscheinenden Unternehmen der Kreuzzüge einnahm, spitzte sich im lateinischen Mittelalter dieses „Besitzstanddenken“ auf den Papst als die höchste Instanz in allen Fragen nach Wahrheit und Recht zu. Nun aber waren diesem „irdischen Haupt des ,Leibes Christi‘“ auf einmal zwei Zungen gewachsen, die einander widersprachen.

AbsoluteWahrheit im Widerspruch

Noch heute ist die Frage nicht ausgestanden, wer seit 1378 legitim die Oberhoheit über die Christenheit für sich beanspruchte: der Papst in Rom oder der in Avignon, zu denen von 1409 bis 1415 noch ein dritter, auf dem Konzil von Pisa eingesetzter „Stellvertreter Christi auf Erden“ hinzukam. Das ganze Abendland stand im Bann einer tiefgreifenden Verwirrung.

Das Grauen der Pest

Die Welt begegnet dem Menschen stets in zwei Gestalten: als intersubjektiv-gesellschaftliches Ganzes und als Natur. Die Erschütterung, die im 14. Jahrhundert den Okzident erfaßte, sprengte alle bisherigen Vorstellungen dadurch, daß nicht allein die auf Christus selbst zurückgeführte Gestalt der Kirche sich als Ungestalt darbot, sondern darüber hinaus die von Gott geschaffene Natur plötzlich nur noch eine Maske des Todes zu sein schien. Im Gegensatz zu unseren heutigen Vorstellungen waren Epidemien im Mittelalter zwar keine Ausnahmeerscheinungen. Die Pest, die, aus dem Orient eingeschleppt, sich um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa mit einer erschreckenden Geschwindigkeit ausbreitete, überstieg aber auch den Horizont des an die Anwesenheit des Dämonischen neben dem Göttlichen in der Welt gewohnten mittelalterlichen Menschen. Am schlimmsten wütete die Beulenpest in den Städten, dem Lebensraum des selbstbewußt gewordenen Bürgertums.

„Methodisches Mißtrauen“

Wenn dem Menschen die ihn umgebende Welt nicht nur partiell als unberechenbar, sondern insgesamt als chaotisch erscheint, sucht er sich gegen diese an die Wurzeln seiner Existenz gehende Bedrohung abzusichern. In der Übergangsphase zur Moderne lassen sich Versuche eines solchen Ringens um Sicherheit herausheben, in denen sich bereits Grundzüge der modernen Mentalität „methodischen Mißtrauens“ abzeichnen.

Mystik als Zeichen einer erschütterten Lebenswelt

(1) In den östlichen Religionen wird (in verschiedenen Schattierungen) die Welt als „Maya“, als bloßer Schein betrachtet. Der Mensch, der sein Ich an irgend etwas Objektives klammern möchte, beweist damit nur, wie sehr er sich von der Welt des Scheins täuschen läßt. Beim Verlust des Vertrauens darauf, daß die den Menschen umgebende Welt Geborgenheit zu geben vermag, kam (und kommt!) es auch im Westen immer wieder zu Variationen dieses östlichen Denkens. Von der Mitte des 14. Jahrhunderts an läßt sich in Europa ein Aufblühen der Mystik beobachten – man vergleiche etwa die Todesjahre von Johannes Tauler (1361), Heinrich Seuse (1366), Katharina von Siena (1380), Birgitta von Schweden (1373) und Juliana von Norwich (nach 1413). Daß diese Mystik allerdings nicht als bloße Reaktion auf die skizzierte Verwirrung gewertet werden darf, zeigt vor allem das Werk von Meister Eckhart (ca. 1260–1328), der in der Verobjektivierung des Heiligen die Hauptursache für eine sich bereits anbahnende Krise erkannte. Reliquienkult z. B. oder Pilgerfahrten zu heiligen Orten, besonders ins Heilige Land, wo jedes Quentchen Boden die Nähe zu Christus erfahrbar machte, zeugten von der Suche nach einer greifbar-verfügbaren Präsenz des Heils. Die Hierarchie machte sich diese Tendenz der Volksfrömmigkeit zunutze. Wenn etwa der Papst den Aufruf zu Kreuzzügen mit der Gewährung eines Ablasses, d. h. eines auch im Jenseits gültigen Nachlasses von „zeitlichen Sündenstrafen“ verband (z. B. von Tagen oder Jahren der sonst im Fegefeuer zu verrichtenden Bußwerke), behauptete er damit implizit, Einblick in die Buchführung des obersten Richters zu haben.

Meister Eckhart: negative Theologie

(2) Die „negative Theologie“ des Meisters Eckhart, seinen Kampf gegen festumrandete Bilder, die sich Menschen von Gott und dem Zugang zu Glück und Seligkeit machen, kann man als einen wichtigen Schritt auf die Reformation hin betrachten. Erst hier aber wird in radikaler „neuzeitlicher“ Systematik der Glaube an den völlig verborgenen Gott und das Nein zu jeder irdisch vermittelten Verfügbarkeit seiner Gnade als der einzige Weg zum Heil hervorgehoben.

Wilhelm Ockham: Nominalismus

Die spätmittelalterliche Mystik wie die Reformation wenden sich der chaotisch gewordenen Welt jedoch in lediglich theologischer Perspektive zu. Sie stellen nicht die Frage nach einem neuen weltlichen Umgang mit dieser entzauberten Welt. Diese Frage wird in aller Härte zunächst im sogenannten „Nominalismus“, vor allem bei Wilhelm von Ockham (ca. 1287–1349) aufgeworfen. Aristoteles und die ihm folgenden scholastischen Theologen hatten angenommen, daß alle Wesen der Natur in ihrem Grunde mehr sind als eine bloße Akkumulation empirisch wahrnehmbarer Details, daß sie eben eine Wesenheit, eine metaphysische Form in sich bergen. Ockham zufolge verdanken sich unsere Begriffe keiner den Dingen selbst innewohnenden Gestalt. Der Mensch bildet diese Begriffe vielmehr, um die Phänomene einem größeren Ganzen einordnen zu können. Durch diese säkularisierte Sicht der Schöpfung wurde der Weg für die modernen Naturwissenschaften geebnet.

Analyse und Synthese als Objektivierung von Welt

Das eigentlich Neue am neuzeitlichen Zugang zur begegnenden Welt besteht in der systematischen Anwendung der Methode von Analyse und Synthese. Der moderne Mensch will sich nicht mehr auf eine vorgegebene Gewißheit stützen, die sich schließlich als Illusion entlarven könnte. Er versucht, für die Zukunft solch tiefgreifenden Erschütterungen und Enttäuschungen zuvorzukommen, wie sie das 14. Jahrhunderts mit sich gebracht hatte. Darum betrachtet er nun alles Wirkliche oder auch nur Mögliche in dieser Welt als grundsätzlich ambivalent und hinterfragt es zunächst analytisch bis auf nicht weiter auflösbare Letztelemente, um daraus nach selbst entworfenen Ordnungskategorien synthetisch eine gesicherte Objektivität zu erstellen.

Suche nach dem „Unteilbaren“ „A-tome“

Die Naturwissenschaften begeben sich auf die Suche nach „A-tomen“, nach einem „Un-teilbaren“ in der Dingwelt, um auf dem Weg experimentell erprobter mathematischer Hypothesen eine technisch verfügbare Objektwelt herzurichten. Gegen die Pest war „kein Kräutlein gewachsen“. Darum galt es z. B., auf chemischem Wege neue Arzneimittel synthetisch zu produzieren.

„In-dividuen“

Die moderne Politikwissenschaft hebt sich über „hierarchische“ Ordnungen hinweg, die jedem Menschen seinen göttlich bestimmten Platz zuwiesen.

Staat als Vertrag zwischen Freiheitspartikeln

Sie fragen analytisch nach dem „In-dividuum“, dem „Un-teilbaren“ als einzig Unhintergehbaren in der Gesellschaft, um dann aus der unbestimmten Menge solcher „Freiheitspartikel“ über einen „Gesellschaftsvertrag“ eine gerechte Ordnung zu konstruieren.

Historische Kritik

(3) Im Rahmen dieser „Einführung“ ist es vor allem wichtig, die analytischsynthetische Vorgehensweise in der modernen Geschichtswissenschaft genauer in den Blick zu nehmen. Die Kirche berief sich auf als unantastbar geltende Traditionen, wie z. B. die „Konstantinische Schenkung“, durch die Kaiser Konstantin I. den Päpsten die Oberherrschaft über Rom, Italien und die gesamte Westhälfte des Römischen Reichs übertragen habe. Um 1440 wurde das Dokument durch den Humanisten Lorenzo Valla in einer detaillierten philologischen Analyse als Fälschung entlarvt.

Dem mittelalterlichen Menschen galten die lateinische Übersetzung der Bibel oder griechischer Schriften der Antike im allgemeinen als authentische Texte. Die Renaissance-Humanisten und in ihren Spuren die Reformatoren wollten demgegenüber „zurück zu den Quellen“. Demgegenüber erklärte 1546 z. B. das Konzil von Trient die „Vulgata“ („die allgemein gebrauchte [lateinische Übersetzung der Bibel]“) als maßgeblich für den kirchlichen Umgang mit der Schrift im Abendland. Noch bis ins 20. Jahrhundert hielt man diesen Text für die Dogmatik wie die pastorale Unterweisung allein verbindlich.

Rückfrage hinter die „Heilige Schrift“

Dem neuzeitlichen „Prinzip Mißtrauen“ konsequent, schritt die historisch-kritische Exegese schließlich auch über den Kanon der heiligen Schriften hinweg, der Luther noch als Maßstab seiner Theologie galt. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts versuchte die historische Analyse hinter jede kirchliche Vermittlung von Jesu Leben und Werk zurückzugehen auf das „Urgestein“, auf die „Atome“ dessen, was dem authentischen Jesus der Geschichte zugeschrieben werden kann. Zu Geschichte und Problematik dieses Versuchs s. III 4b [1–2].

Einführung in die Fundamentaltheologie

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