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c) Exkurs: Glaube und kritische Vernunft im Islam
ОглавлениеMuslimische Schätze für das Abendland
Wer immer heute Verantwortung in Politik, Kirche und Wissenschaft übernimmt, sollte zumindest Grundkenntnisse über das Verhältnis von Glaube und kritischer Vernunft im Islam besitzen, und zwar nicht nur im Blick auf die vielfältigen Erscheinungsformen, in denen sich diese Religion gegenwärtig darstellt. Um diese aktuellen Phänomene wirklich zu verstehen, muß man sie auf dem Hintergrund der Geschichte „lesen“, aus der sie hervorgegangen sind. Damit sind vor allem Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft zu verstärkten Anstrengungen aufgefordert, ein solches Basiswissen zu vermitteln. Im Rahmen unseres Überblicks empfiehlt es sich, auf das Verhältnis von Glaube und Vernunft im Islam wenigstens kurz an dieser Stelle einzugehen, weil die durch muslimische Gelehrte ermöglichte Begegnung des christlichen Abendlandes mit dem „ganzen Aristoteles“ nahezu gleichzeitig mit dem Übergang von den Kathedralschulen als Zentren mittelalterlicher Wissensvermittlung zur Universität als der vom 13. Jahrhundert an herausgehobenen Stätte höherer Bildung stattfand.
„Entdeckung“ des Aristoteles
Das Christentum wurde bei seinem Eintritt in das römische Imperium zunächst nur als eine jüdische Sekte wahrgenommen. Um sich in der Welt der Gebildeten als eine selbständige Religion Geltung zu verschaffen, mußte es den spezifisch christlichen Wahrheitsanspruch im Dialog mit den damals anerkannten Philosophien rechtfertigen. Nach der „Konstantinischen Wende“ war die Philosophie aber mehr und mehr zum Steinbruch für begrifflich scharfe Formulierungen der kirchlichen Lehre geworden. Von daher war eigentlich nicht vorauszusehen, daß sich das philosophische Erbe Griechenlands aus seiner Inbesitznahme durch die Theologie noch einmal, und zwar nun als eine Disziplin eigenen Rechts innerhalb der Kirche, emanzipieren würde. Daß dies dennoch geschah, ist vor allem dem Umstand zuzuschreiben, daß das alles bisher Gewohnte sprengende Denken des Aristoteles ausgerechnet in der dialogoffenen Zeit des Übergangs von der Feudalherrschaft zu einem freien Bürgertum in die abendländische Gesellschaft einbrach. Dadurch wurde es den kirchlichen und staatlichen Institutionen in der Folgezeit unmöglich, jener Verselbständigung der Philosophie auf Dauer Einhalt zu gebieten. Durch die Vermittlung aristotelischer Schriften hat nicht zuletzt der Islam einen erheblichen Beitrag zu dem für das Abendland charakteristischen Prozeß der „Aufklärung“ (im weiteren und im engeren Sinne) geleistet.
Wissensrezeption im frühen Islam
Die Aristotelesrezeption im Islam selbst vollzog sich unter wesentlich anderen Vorzeichen. Der Islam ist im Unterschied zum Judentum und Christentum von Anfang an zugleich auch als politische Großmacht in Erscheinung getreten. Zehn Jahre nach dem Tode des Propheten (632) befanden sich außer dem arabischen Kernland bereits Syrien, Palästina, Persien und Ägypten in muslimischer Hand. Hundert Jahre danach vermochte Karl Martell in der Schlacht bei Tours und Poitiers gerade noch das weitere Vordringen des Islam bis in das Zentrum Europas zu verhindern. Wie kam es dann, daß diese Weltmacht, die den Koran als für alle Zeiten festgeschriebene Wahrheit mit sich führte, sich dem religionskritischen Denken der griechischen Philosophie aussetzte?
Bagdad als Kulturmetropole
Diese Frage geht an der geschichtlichen Wirklichkeit vorbei. Schon die Dynastie der Umayyaden (Omajaden), die den Herrschaftsbereich des Islam im Osten bis nach Indien ausdehnen konnte, erwies sich als aufgeschlossen für die in den besetzten Gebieten heimischen Traditionen. Diese Lernfähigkeit führte schließlich dazu, daß der Islam vom 9. bis zum 12. Jahrhundert auch kulturell die führende Weltmacht wurde. Den seit 750 herrschenden Abbasiden gelang es erstmals, eine tragfähige kulturelle Brücke zwischen den Völkerschaften östlich und westlich der „Zwei Ströme“ herzustellen. Das von ihnen 762 erbaute Bagdad durfte sich „als die Metropolis der die ganze wahrgenommene Welt einigenden Kultur“ betrachten (86: S. 137). Zunächst standen allerdings persische und indische Wissenschaft und Weisheit im Vordergrund des Interesses. Von den Indern erlernten die Muslime z. B. das die Null einbeziehende Zahlensystem, das unter dem Titel „arabische Ziffern“ schließlich auch Europa eroberte.
Nestorianer als „apostolische Kirche des Ostens“
Das Bildungsgut griechischer Herkunft gelangte auf Wegen in muslimischen Besitz, die mit der komplexen Dogmenbildung auf den frühchristlichen Konzilien und den dort erfolgten Verurteilungen angeblicher oder wirklicher Häresien zusammenhängen. Im syrischen Raum mit dem Zentrum Antiochia gab es ein Interesse für die „Dinge dieser Erde“, das den platonisch geprägten Alexandrinern weitgehend fremd war. Damit hing z. B. die Betonung der in der Einheit mit dem göttlichen Logos nicht veränderten Menschennatur Jesu Christi zusammen, aber auch die Suche nach dem literarisch authentischen Text der Bibel und dessen nicht sogleich allegorisch zu deutendem Sinn. Mit der Verurteilung und Verfolgung antiochenischer Theologen im 5. Jahrhundert verband sich ein politisches Moment: Die „assyrische“ oder „ost-syrische“, von antiochenischer Theologie geprägte Kirche befand sich zeitweise im Regierungsgebiet der mit Byzanz rivalisierenden Sassaniden. Hier konnte sie der christlichen Ketzerverfolgung entgehen, indem sie sich von der Reichskirche lossagte. Unter der Herrschaft des Islam fühlte sie sich dann endgültig vor der Herrschaft von Byzanz sicher. Als „apostolische Kirche des Ostens“ (aus der Perspektive der Reichskirche: als „Nestorianer“, d. h. Anhänger des 431 verurteilten Bischofs Nestorius) entfaltete sie ein reiches Eigenleben, das die abbasidischen Kalifen zu nutzen wußten.
In den teilweise mit umfangreichen Bibliotheken ausgestatteten Klöstern dieser Kirche wurden griechische Bücher ins Syrische und dann ins Arabische übersetzt, die in der Reichskirche nur wenig oder überhaupt keine Aufmerksamkeit gefunden hatten, vor allem die Schriften des berühmten Arztes Galen (129–199 v. Chr.) und das Werk des Aristoteles. Bei den Kalifen waren die ostsyrischen wie auch die persischen und indischen Gelehrten an erster Stelle wegen ihrer naturwissenschaftlichen, insbesondere medizinischen Kenntnisse gefragt. Dementsprechend wurden auch die griechischen Autoren vor allem im Blick auf ihre praktische Verwendbarkeit gelesen.
„Philosophie, Juristerei und Medizin“ in einer Hand:
Avicenna
Averroes
Diese Situation einer im Blick auf herrschaftlichen Nutzen und Glanz geförderten Gelehrsamkeit änderte sich auch nicht grundsätzlich, als sich über die Rezeption aristotelischer und platonischer Schriften im Islam eine eigenständige Philosophie entwickelte und insbesondere bei Avicenna (Ibn Sina) und Averroes (Ibn Ruschd) zu einer Meisterschaft reifte, von der das abendländische Denken noch heute zehrt. Man kann darüber streiten, ob Avicenna (980–1037) in der Medizin oder der Philosophie eine größere Perfektion erreicht hat. Nur als Leibarzt verschiedener muslimischer Herren vermochte er jedenfalls in der Phase des Niedergangs abbasidischer Macht seine Existenz zu sichern. Auch Averroes (1126–1198) konnte nur so lange seiner Tätigkeit als Philosoph nachgehen, wie er als Hofarzt und zeitweise als Oberster Richter von Córdoba im Dienste von Kalifen stand. Trotz des hohen Rangs, den die Philosophie im kulturellen Leben des Islam einnahm, war sie von ihrem gesellschaftlichen Status her doch eher der Blüte von Kunst und Wissenschaft in Florenz unter dem Mäzenat der Medici vergleichbar als dem Freiraum kritischen Denkens, der ihr im Abendland seit dem Mittelalter zuwuchs.
Averroes als Fundamentaltheologe
Damit hängt ein weiteres Moment eng zusammen. Averroes hat seine Philosophie über eine textnahe Interpretation der Werke des Aristoteles gewonnen. Er hat sich darüber hinaus in „fundamentaltheologischen“ Schriften, die in den mittelalterlichen Disputen um seine Philosophie noch nicht bekannt waren, pointiert zum Verhältnis von Glaube und Vernunft im Islam geäußert. Das Recht zu philosophieren leitet der Philosoph aus dem Koran ab (vgl. 43: 121f.): Die durch den Propheten geoffenbarten göttlichen Worte richten sich an alle Menschen. Darum müsse es weise Menschen geben, die sich zur Aufgabe machen, die geoffenbarte Wahrheit auf streng rationalem Wege als universal gültig zu erweisen. Aber nicht alle haben die Fähigkeit oder die Möglichkeit, diesen Weg zu gehen. Darum mußte sich Gott in einer Sprache äußern, die der Vorstellungskraft auch der einfachsten Menschen angemessen ist.
Diese beiden Weisen wahrer Erkenntnis sind nach Averroes streng zu unterscheiden. Er wendet sich vehement gegen Theologen, die zweifelhaft erscheinende Stellen im Koran durch Spekulation klären wollen. Das schade nicht nur der Autonomie in sich schlüssiger philosophischer Beweisführung. Vor allem werde die in sich stimmige Bildersprache der Offenbarungstexte durch abstrakt eingeführte Begriffe verwirrt, Rhetorik mit Dialektik vermengt. Der Koran, so betont Averroes, bedarf keiner gelehrten Rechtfertigung. Vielmehr muß sich der Philosoph vor dem Offenbarungstext rechtfertigen, wo er diesem zu widersprechen scheint. Hier sei eine „allegorische“ Interpretation erforderlich. Dabei gehe es allerdings nicht wie im Platonismus um die Suche nach dem eigentlichen, geistigen Sinn hinter seiner bloßen Erscheinung in Sinnenbildern. Der wahre Gehalt einer Sache sei – wie Averroes mit Aristoteles gegen Avicenna geltend macht – in seiner materiellen Verwirklichung, und d. h. hier: in den Worten des Koran gegeben. Dementsprechend benennt Averroes klare Interpretationsregeln für ein metaphorisches Verständnis des buchstäblichen Sinns: Es darf beim Heranziehen einer Metapher z. B. nicht gegen deren alltagssprachlichen Gebrauch im Arabischen verstoßen werden (vgl. 43: 124 f.). Weit entfernt davon, philosophische Spekulation ohne Rücksichtnahme auf die Glaubensgemeinschaft zu betreiben, in deren Dienst sie steht, bemüht sich Averroes vielmehr um eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses zwischen der Offenbarungsvorgabe und dem Versuch, durch Vernunftarbeit ihre universale Gültigkeit zu erhellen.
Islam zwischen Fundamentalismus und Aufklärung
So wichtig es sein dürfte, diese hermeneutischen Thesen des Averroes über das Verhältnis von Schrift und kritischer Vernunft in den heutigen Dialog zwischen den (nach muslimischem Verständnis) drei großen „Schriftreligionen“ Islam, Judentum und Christentum einzubringen: In der Geschichte des Islam selbst hat die Kluft zwischen einer (am Hofe geförderten) „Theologie der Philosophen“ und einer „Theologie des Volkes“ eher zur Verhinderung einer dem Glauben gerecht werdenden „Aufklärung“ beigetragen. Immer wenn den Herrschern die Macht entglitt, war die Versuchung groß, sich der Philosophen zu entledigen, die fundamentalistischen Führern des Volkes schon immer ein Dorn im Auge waren.