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b) Anselm von Canterbury: „Allein durch Vernunft“?

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Blütezeit philosophischer Theologie

In dem Zeitraum von etwa zwei Jahrhunderten, in dem das Wirken Anselms von Canterbury (1033–1109) und Thomas‘ von Aquin (1225–1274) herausragende Eckpunkte bilden, kommt es zu einer methodischen wie inhaltlichen Weiterentwicklung der Theologie und Philosophie, die sich in einer bemerkenswerten Freiheit des Denkens vollzog. Man wird im Auge behalten müssen, daß gerade in dieser Zeit des Abendlandes auch das Kräftespiel zwischen geistlicher und weltlicher Macht nie dauerhaft zugunsten einer dieser „Pole“ entschieden werden konnte. 1077, während Anselm an seinem berühmten „Proslogion“ arbeitet, geht Heinrich IV. nach Canossa. Wenige Jahre vor dem Tode des Aquinaten (1274) war dem Papst mit Hilfe des französischen Königs die Ausrottung des Geschlechts der Hohenstaufen gelungen (s. II 3a).

„Dialektik“ als Kritik am Dogma

Das Leben und Denken Anselms läßt sich nur schwer irgendeiner Kategorie zuordnen. Aus Aosta im heutigen Italien kommend, findet er nicht wie andere umherreisende Studenten seinen geistigen Ort an einer der attraktiven Kathedralschulen, sondern in der Stille des Klosters Bec in der Normandie. Dort hatte Lanfranc mit kirchlicher Autorität im Rücken sich in den um die wirkliche Gegenwart Christi beim Abendmahl kreisenden Streit mit Berengar, dem wohl berühmtesten Dialektiker des 11. Jahrhunderts, gestürzt. Auch Anselm tritt wie Lanfranc für die wahre Lehre Christi ein – aber auf nichts anderes gestützt als auf messerscharfe rationale Argumente, die denen der Dialektiker gewachsen waren. Er wagt den Versuch, augustinische Theologie und die über Boethius vermittelte aristotelische Logik miteinander in Einklang zu bringen.

Zwingende Argumente für Glaubenswissen

Worauf beruht seine bleibende Bedeutung für die Fundamentaltheologie? Im Vorwort zum „Monologion“ (1076), seinem thematisch gesehen umfassendsten theologischen Werk, sagt Anselm, daß seine Ordensbrüder ihn nicht nur zur Abfassung dieser Schrift gedrängt, sondern ihm auch die Methode dafür vorgeschrieben hätten. Es dürfe darin nämlich nichts unter Rückgriff auf die Autorität der Schrift glaubhaft gemacht werden. Vielmehr sollten die Ergebnisse der einzelnen Argumentationsgänge sich jeweils als rational zwingend erweisen. Im Vorwort zu „Cur deus homo“ (1098) verspricht Anselm einen Beweis für die Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes aus „zwingenden Vernunftgründen“. Solche Passagen können leicht dahingehend mißverstanden werden, Anselm habe die gesamte von Gott offenbar gemachte Wahrheit mit rein philosophischen Mitteln begründen wollen.

Vom „Monologion“ zum „Proslogion“

Klarheit über Anselms Sicht der Beziehung zwischen Glaube und Vernunft läßt sich wohl am ehesten im Ausgang von den beiden ersten Kapiteln des (im Modus der „Anrede“ an Gott geschriebenen) „Proslogion“ gewinnen, das methodisch gesehen um vieles präziser ist, als das ein Jahr früher (im Modus der „Einkehr in die eigene Vernunft“) verfaßte „Monologion“. Auch dort ging es um einen rationalen Nachvollzug (nicht etwa die Begründung) des Glaubens an die Existenz Gottes und der wesentlichen Inhalte des Geglaubten.

Beten und Denken

Im „Proslogion“, Kap. 2, lautet der erste Satz: „Nun denn, Herr, der Du dem Glauben Einsicht gibst, verleihe mir, daß, soweit Du es als nützlich weißt, ich einsehe, daß Du bist, wie wir glauben, und das bist, was wir glauben“. Von vornherein wird betont, daß, so stringent rational und vernunftautonom die Beweisführung auch immer sein muß, das Vermögen dazu Geschenk Gottes ist. Wie sind diese beiden unvereinbar scheinenden Aspekte – vernunftautonom und von Gott geschenkt – miteinander zu vermitteln?

Vernunft als Bild Gottes

Eine vorläufige Antwort auf diese Frage ergibt sich aus dem ersten, als Gebet formulierten Kapitel des „Proslogion“. Hier sagt Anselm zunächst: „Ich bekenne, Herr, und sage Dank, daß Du in mir dieses ,Dein Bild‘ geschaffen hast, damit ich, Deiner mich erinnernd [Bild des Vaters], Dich denke [Bild des Sohns], Dich liebe“ [Bild des Hl. Geistes].“ Dieses Bild des dreifaltigen Gottes in uns sei durch die Sünde aber so sehr verdunkelt und entstellt, „daß es nicht tun kann, wozu es gemacht ist, wenn Du es nicht erneuerst und wiederherstellst“. Der Begriff „Bild“ ist für das gesamte Denken Anselms zentral. Schon Augustinus hatte die Einsicht, daß die menschliche Vernunft zum Bilde Gottes geprägt ist, als über jeden nur möglichen Zweifel erhaben zu beweisen versucht. Nur aufgrund einer solchen Vorprägung kann ja im Menschen Gott aufleuchten, kann er sich gleichsam zu seinem Bild formen lassen; nur so ist er in der Lage, in freiem Gehorsam Antwort auf ein Wort zu geben, in dem Gott sich ihm in seinem dreifaltigen Wesen eröffnen will. Auch Anselm intendiert eine rein apriorische Beweisführung, die sich auf kein Aposteriori, d. h. auf keine Daten empirischer Wahrnehmung oder Vorgaben verbindlicher Tradition stützt.

Durch Schuld verfinsterte Vernunft

Und doch verweist er hier mit aller Deutlichkeit auf empirisch-geschichtliche Rahmenbedingungen für diese Argumentation aus reiner Vernunft: der Mensch, wie er de facto ist, kann solche Beweise weder führen noch verstehen. Seine Verstrickung in Schuld verstellt ihm den Blick dafür, solange Gott nicht in einer neuen, gnadenhaften Zuwendung die Vernunft wieder zu klarer Sicht frei macht. Mit diesem Verständnis der Beziehung zwischen Glaube und Vernunft war Anselm einer der wenigen Theologen des Mittelalters, die auch nach der Reformation noch für ein in die Tiefe gehendes ökumenisches Gespräch ernsthaft in Frage kamen (s. II 5b [3]).

Einführung in die Fundamentaltheologie

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