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8. Der Feenschimmel
ОглавлениеSie waren bereits wieder einige Zeit unterwegs, als die Pferde plötzlich unruhig wurden und anfingen, aufgeregt zu wiehern und zu scheuen. Einige Reiter hatten Mühe, ihre Tiere daran zu hindern, aufzusteigen und sie abzuwerfen. Das hinterste Packpferd strauchelte und riss sich los. Bevor es jemand einfangen konnte, war es auch schon in einer Lücke im Unterholz verschwunden. Nur kurz war noch das Knacken trockener Äste zu hören. Die Reiter brachten ihre Pferde endlich zum Stehen, wendeten und kamen zu Siegfried zurück, der nur mit Mühe die anderen Pferde beruhigen konnte.
„Was ist geschehen?“, fragte Cai, der Siegfried als Erster erreichte.
Cai nahm an, dass die Ursache für das wilde Gebärden der Tiere hinter der Gruppe zu suchen war.
„Ich weiß es nicht“, antwortete der Ritter, noch etwas außer Atem. „Das letzte Tier war unruhiger als die anderen. Plötzlich fing es an, aufgeregt an der Leine zu zerren. Bevor ich es beruhigen konnte, riss es sich los und verschwand dort in der engen Lichtung. Alles ging so schnell, dass ich keinen Grund für das Verhalten erkennen konnte. Ich hatte genug mit den anderen Pferden zu tun. Gesehen habe ich jedenfalls nichts.“
Cai war abgestiegen und blickte in die freie Stelle im Unterholz.
„Hier scheint ein Pfad zu beginnen“, stellte er fest.
Vom Pferd selbst war nichts mehr zu sehen.
„Halt, wartet!“, rief Tai´gor hinter ihm, ehe Cai den Pfad betreten konnte. „Geht auf keinen Fall allein dort hinein.“
„Wir können auf das Pferd und die Ausrüstung nicht verzichten“, sagte Cai bestimmt. „Irgendjemand muss es zurückholen.“
„Ken´ir und ich werden gehen“, meinte der Elf. „Wir kennen die Gefahren besser als Ihr. Doch Ihr könnt uns begleiten. Die anderen bleiben hier und verlassen den Platz nicht. Haltet Euch hinter uns, Cai.“
Die beiden Elfen gingen voran und trugen ihre Bögen mit eingelegten Pfeilen in der Hand. Das veranlasste Cai, sicherheitshalber sein Schwert zu ziehen.
„Bleibt dicht hinter uns“, hörte er Ken´irs Stimme. „Es wäre gefährlich, uns zu verlieren.“
Dann sagte er einige Worte in der Elfensprache zu Tai´gor, der zur Antwort nur nickte, aber den Blick nicht umwandte. Cai ärgerte sich ein wenig über die Gängelung, ließ sich aber nichts anmerken. Am Ende mochten die beiden Elfen ja Recht haben.
Dicht aufeinander folgten die drei dem Pfad. Es fiel kein Wort und nur die Schritte von Cai waren schwach zu hören. Hier erlebte er zum ersten Mal, was er bisher immer nur von anderen gehört hatte. Elfen beherrschten die Kunst, sich schnell und lautlos zu bewegen, und ohne Spuren zu hinterlassen, obwohl er deutlich sah, dass sie fest auf dem Boden entlanggingen. Er hatte von Fährtenlesern gehört, dass nur die besten von ihnen und nach langer Übung die Fußabdrücke von Elfen erkennen konnten.
Der Pfad war eng. Er ließ keinen Platz für zwei nebeneinander. Eigenartigerweise ragten keine Zweige in ihn hinein. Es schien fast, als würden sie den Pfad meiden. Es sah nicht so aus, als ob ihn irgendwer freihielt, denn er konnte keine abgeschlagenen Aststümpfe erkennen. Weit konnte man trotzdem nicht vorausschauen, dazu beschrieb der Pfad zu viele Kurven.
Der Boden war weich und nachgiebig und zeigte keinerlei Spuren von anderen Benutzern mit der Ausnahme ihres eigenen Packtieres. Cai vermutete, dass es mehr ein Wechselpfad für die Tiere des Waldes war, als dass er von Elfen benutzt wurde. Er schlängelte sich immer tiefer in den Wald hinein. Ken´ir erklärte ihm später, dass der Pfad durch den Zauber von Einhörnern, von denen es noch einige im Valedrim-Wald gab, gewirkt wurde, auch wenn sie ihn vielleicht schon lange nicht mehr benutzten, und Cai hatte richtig angenommen, dass Elfen ihn nur selten gingen.
Cai glaubte, dass der Elf sich mit ihm einen Spaß erlaubte, als er von Einhörnern sprach, trotzdem wünschte er sich, einmal einem zu begegnen. Aber Ken´ir konnte ihm da nur wenig Hoffnung machen. Einhörner waren scheue Wesen, behauptete er, und würden selbst das Herannahen von Elfen frühzeitig bemerken. Wenn sie sich im Unterholz verbargen, waren sie selbst für sie kaum auszumachen, so sehr verschmolzen sie mit ihrer Umgebung, doch freistehend besaßen sie ein schneeweißes Fell. Nur sehr erfahrene Jäger konnten sie schemenhaft erkennen, und das kam äußerst selten vor. Für Elfenjäger waren Einhörner jedoch keine Beute. Es waren auch keine Tiere im herkömmlichen Sinne. Zwar von pferdeähnlicher Gestalt, aber klüger und weiser und, wie mancher behauptete, sprachkundig im Umgang mit Elfen oder Menschen. Sie galten als heilig und durften bei Todesstrafe nicht getötet werden. Das wäre bei den Elfen tatsächlich eines der ganz wenigen Vergehen gewesen, die eine derartige Strafe nach sich gezogen hätten, war aber niemals vorgekommen.
Langsam und vorsichtig pirschten sie weiter. Die Geräusche hier mitten im Wald schienen Cai deutlicher und unheimlicher als auf der Straße. Seltsame und nie gehörte Rufe unbekannter Tiere erreichten seine Ohren. Gelegentlich raschelte und knackte es zu beiden Seiten des Weges, wenn ein Tier, von den Kriegern aufgescheucht, weiter in den Wald hineinfloh. Cai konnte zwar nie etwas erkennen, er hatte aber das Gefühl, von tausend Augen beobachtet zu werden. Von den Elfen vor sich hörte er keinen Laut, und er konnte ihnen nur vorsichtig folgen. Dabei spürte er eine noch nie erfahrene innere Spannung. So leise er sich auch verhielt, er war überzeugt, dass er sich für Ken´ir und Tai´gor wie ein Trampeltier anhören musste. Einmal glaubte er ein Stück vor sich das ängstliche Wiehern eines Pferdes zu hören, war sich aber nicht sicher. Plötzlich hielt Tai´gor, der voranging, an und hockte sich zu Boden. Er blickte sich aufmerksam um und deutete schließlich vor sich auf den Pfad.
„Schau, Ken´ir“, machte er seinen Stammesgenossen auf seine Entdeckung aufmerksam.
Tai´gor beugte sich über die Stelle. Cai war herangekommen und erkannte trotz des Zwielichtes eine neue Fährte. Es waren die Abdrücke von vier dreizehigen, krallenbewehrten Tatzen. Die Schleifspur zwischen den Abdrücken ließ auf einen schweren, hinterhergezogenen Schwanz schließen. Die Fährte kam aus einem dunklen Loch im Unterholz hervor und folgte den Hufabdrücken des Packtieres. Cai schaute sich nun auch nach allen Seiten um, vor allem in den Pfad hinter ihnen, sah aber nichts Außergewöhnliches und hörte nichts Auffälligeres als die üblichen Waldgeräusche.
„Ein Muna“, stellte Ken´ir fest. „Er muss kurz nach dem Pferd aus seinem Versteck gekommen sein. Cai, ich fürchte, dass wir das Pferd nicht mehr lebend wiederfinden werden, wenn überhaupt. Munas sind äußerst geschickte Jäger, schnell und kraftvoll. Und sie geraten leicht in einen Blutrausch. Sie gehören zu den gefährlichsten Tieren unseres Waldes. Wir haben Glück, ihm nicht unerwartet begegnet zu sein. In diesem Fall scheint die Art seiner Beute klar.“
„Muna?“, fragte Cai. „Was ist das?“
„Die tückischsten Raubtiere, die es in unserem Wald gibt“, erklärte Tai´gor. „Hofft, ihnen nie zu begegnen. Sie sehen aus wie kurzbeinige Wölfe mit einem ungewöhnlich langgewachsenen Körper, sind aber ungleich gefährlicher.“
„Lasst uns trotzdem weitersuchen“, bat Cai. „Vielleicht können wir noch etwas von dem Gepäck retten. Das Pferd wird nicht mehr weit gekommen sein, wenn Ihr Recht habt.“
Die beiden Elfen willigten nur widerstrebend ein. Vorsichtig und nun auf einen Angriff gefasst, gingen sie weiter. Schon hinter der nächsten Biegung fanden sie das erste Bündel. Bald darauf lagen weitere Teile der Ausrüstung auf dem Weg verstreut. Und hier entdeckten sie auch die ersten Blutspuren. Die Hufabdrücke waren an dieser Stelle deutlich unregelmäßiger und verloren ihre Ordnung, als wäre das Pferd erschrocken und davongelaufen.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Cai konnte den Bewegungen der beiden Elfen kaum folgen. Ken´ir und Tai´gor waren bis zu nächsten Windung des Pfades vorangegangen, während er noch das Gepäck untersuchte. Als er aufblickte, sah er, dass Ken´ir sich hingehockt und Tai´gor sich dicht hinter ihm aufgestellt hatte. Im gleichen Augenblick schossen beide blitzschnell mehrere Pfeile auf etwas ab, das Cai von dort, wo er kniete, nicht sehen konnte. Er sprang auf und lief zu ihnen hinüber. Als er die beiden Elfen erreicht hatte, erblickte er das Pferd, oder vielmehr das, was von ihm übrig geblieben war, nur wenige Schritte entfernt vor sich auf dem Boden liegend. Daneben hauchte gerade der Muna, von mehreren Pfeilen getroffen, sein Leben aus. Es war ein Tier, wie es Cai in seinem Leben noch nicht gesehen hatte. Es war gut drei Schritte lang, trug einen Schuppenpanzer und besaß einen drachenähnlichen Schwanz. Lediglich der Kopf hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem eines Wolfes, fand er, allerdings mit einem bedrohlicheren Gebiss, das jetzt von Blut triefte. Den fingerlangen Krallen an den kurzen, kräftigen Läufen konnte man ansehen, dass sie fürchterliche Waffe waren.
„Nun haben wir Gewissheit über das Schicksal eures Pferdes“, meinte Tai´gor. „Wir hatten Glück, es ist nur ein kleiner Muna gewesen. Lasst uns das Gepäck zusammensuchen und von hier verschwinden. Munas jagen zwar meistens allein, aber sicher sollte man sich da nicht sein.“
Sie sammelten die Bündel und Taschen zusammen und kehrten eilends zu den anderen zurück.
Als sie bei der Straße ankamen, standen die anderen um Ritter Siegfried herum. Er lag ausgestreckt auf dem Boden. Melbart hatte sich niedergekniet und untersuchte ihn gerade. Die anderen sahen ratlos zu. So kam es, dass niemand die drei Krieger hinter ihnen bemerkte.
Bei der Gruppe angekommen, erlebten sie eine ziemliche Überraschung. Auf der Straße lag nicht Siegfried, wie es von weitem ausgesehen hatte, sondern ein Frau mit wallendem, blondem Haar in der Kleidung des Ritters. Es war niemand anderes als Adhasil. Sie war bewusstlos, aber augenscheinlich unversehrt. Cai war über die Maßen erstaunt. Bisher war Siegfried, oder in Wirklichkeit Adhasil, stets sehr zurückhaltend gewesen und hatte wenig gesprochen. Daher hatte noch keiner von ihnen den Verdacht geschöpft, dass sich jemand anderes hinter der Gestalt des Ritters verbergen könnte. Noch nicht einmal dem Magier schien etwas aufgefallen zu sein. Doch mancher hatte den Eindruck gewonnen, dass die Stimme nicht so recht zu einem Mann passen wollte.
„Was ist hier denn geschehen?“, fragte Tai´gor. „Und warum ist euer Begleiter eine Frau?“
Trotz des Ernstes der Lage mussten einige lächeln.
„Ihr wart gerade in den Wald gegangen, als plötzlich ein silberner Schatten schnell wie ein Blitz durch unsere Gruppe hindurchhuschte“, erklärte Fürst Hagil. „Keiner von uns konnte erkennen, was es war, denn dafür bewegte er sich zu schnell. Er kam lautlos zwischen den Bäumen heraus und verschwand auf der anderen Seite der Straße im Unterholz, ohne das erwartete Rascheln und Knacken der Äste, als wäre es ein Geist. Die Fürstin stand der Erscheinung am nächsten und schien beinahe von ihr berührt worden zu sein. Im gleichen Augenblick fiel sie zu Boden und blieb reglos liegen. Melbart ist sicher, dass es der Schatten eines Einhorns war.“
„Sie lebt noch und atmet ruhig wie im Schlaf“, klärte Melbart die anderen auf und erhob sich.
„Wir können nicht warten, bis sie vielleicht wieder zu sich kommt“, sagte Tai´gor entschieden. „Wenn wir hier bleiben, ist es nicht einmal sicher, ob sie überhaupt wieder aufwacht, denn wenn es ein Einhorn auf der Flucht war, das sie berührt hat, dann schläft sie den Schlaf-der-Feen. Schaut euch ihr Gesicht an. Es erscheint heiter und glücklich. Wir müssen uns beeilen, ehe sich ihre Seele entscheidet, dort zu bleiben, wo sie jetzt weilt. Sie gehört dort nicht hin und würde das Gleichgewicht stören. Die Frau schwebt in großer Gefahr. Nur die königlichen Heiler am Hofe Nôl´tahams können ihr helfen. Wir haben hier kein Gegenmittel. Selbst in Elim´dor wird es eine Weile dauern, sie aus dem Feenreich zurückzuholen, denn sie wird sich dagegen sträuben. Lasst uns also sofort aufbrechen.“
Melbart stimmte dem Elfen zu. Auch er wusste um die Gefahren, die Fürstin Adhasil in ihrem Zustand drohten.
Sie fertigten eilig aus zwei langen, dünnen Stämmen und einer Decke eine Trage an, die sie zwischen zwei Pferden befestigten. Nachdem sie Fürstin Adhasil vorsichtig daraufgelegt und die Gepäckstücke des toten Packtieres auf die anderen verteilt hatten, setzte sich der Tross wieder in Bewegung.
Alle Müdigkeit war verflogen. Die aufregenden Ereignisse hatten die Gefährten wieder munter gemacht. Nicht lange nach ihrem erneuten Aufbruch zehrte die Neugierde an Angholt. Er setzte sich mit seinem Pferd neben Tai´gor und fragte ihn nach dem Schlaf-der-Feen.
„Es ist ein geistesabwesender Zustand, und zwar im Sinne des Wortes“, erklärte er bereitwillig. „Wenn ein Einhorn in großer Angst flüchtet, dann kann es eine magische Seinsform annehmen. In diesem Zustand ist es sozusagen halbgeistig und befindet sich zwischen zwei Welten, der unsrigen und der Feenwelt, die seine Heimat ist.“
„Aber warum begibt es sich denn nicht völlig in die Feenwelt?“, fragte Angholt. „Wäre es dort nicht vor hiesigen Gefahren sicher?“
„Sicher schon“, sagte Tai´gor, „doch nicht immer gelingt ihnen in ihrer Aufregung der Wechsel. Das geschieht ja nur bei sehr großer Gefahr und in Todesangst. Dieser Vorgang ist sehr selten. Genaugenommen konnte dieser Unfall eigentlich überhaupt nicht geschehen. Allerdings kenne ich seine Ursache nicht. Jedenfalls verharrt ein solches Einhorn teilweise noch in unserer Welt und ist dann als flüchtiger, silberner Schatten zu erkennen. Weder Bäume noch Felsen oder andere gegenständliche Dinge sind dann noch ein Hindernis für das Einhorn, daher bewegt es sich völlig lautlos. Wir nennen es dann Feenschimmel. Wenn nun wie in diesem Fall jemand mit einem Feenschimmel in Berührung kommt, dann kann es geschehen, dass seine Seele sozusagen in die Feenwelt mitgerissen wird, während sein Körper in dieser Welt verbleibt. Er lebt noch, aber befindet sich am Rande des körperlichen Todes. Das ist der Schlaf-der-Feen. Ich selbst kann es nicht beurteilen, aber ich hörte, dass die Feenwelt ein überirdisch schöner, aber auch gefährlicher Ort sein soll. Denn fast alle, die drüben waren, wollten nicht wieder zurück. Das führt dann aber nach einiger Zeit zum Tod ihres Körpers. Die Feenwelt ist jedoch nicht jene Welt, die die Seelen von Verstorbenen aufnimmt, und früher oder später müssen sie aus ihr wieder zurückkehren. Könnt Ihr Euch vorstellen, was es bedeutet, in einem solchen Zustand wieder in unsere Welt zurückzukommen und seinen Körper nicht mehr vorzufinden? Dann muss man auf ewig hier leben, ohne an ihr wirklich teilhaben zu können und ohne jemals eine Möglichkeit zu haben, den natürlichen Weg eines Verstorbenen gehen zu können. Das muss ein wahrhaft grauenhafter Zustand sein. Deshalb müssen wir uns beeilen, den königlichen Hof zu erreichen. Nur dort können wir die Fürstin vor einem solchen Schicksal bewahren.“
„Gibt es denn nur eine Rettung von unserer Seite?“, wollte Angholt wissen.
„Nein, es wäre sogar einfacher, von drüben zurückzukehren“, meinte Melbart, „doch nur selten wollen es die Betroffenen selbst. Man muss sie dazu zwingen.“
„Auf welche Weise ist das möglich?“, wollte jetzt Cai wissen, der hinter Tai´gor und Angholt und neben Melbart ritt und dem Gespräch gelauscht hatte.
„Das ist schwierig zu erklären und ist nur auf geistigem Wege möglich“, meinte Melbart. „Meines Wissens haben nur einige bestimmte Elfen diese Kräfte und dazu zählen die Heiler Nôl´tahams.“
„Ich frage mich, warum Einhörner überhaupt zu uns herüberwechseln“, sagte Angholt. „Denn wenn es in der Feenwelt so überaus wunderbar ist, was veranlasst sie dann dazu?“
„Das ist ein ungelöstes Rätsel“, erklärte Melbart. „Jedenfalls kenne ich die Antwort darauf nicht.“
Angholt musste sich damit zufriedengeben. Er vermutete, dass dieses Rätsel eines der legendären „Großen Rätsel“ darstellte, die einen Teil der Geschichte der erdanischen Völker ausmachten und noch ihrer Lösung harrten.
„Könnt Ihr Euch vorstellen, was das Einhorn in solche Angst versetzt hat?“, fragte Cai. „Ist es möglich, dass der Muna daran schuld ist?“
„Das ist kaum vorstellbar“, antwortete Tai´gor. „Munas sind ein natürlicher Bestandteil dieser Welt und den Einhörnern nicht unbekannt. Keiner käme so nah an ein Einhorn heran, um ihm gefährlich zu werden. Außerdem sind diese heiligen Tiere nicht hilflos. Gegen einen Muna können sie sich allemal verteidigen.“
Angholt sah Tai´gor an und wollte ihn gerade fragen, womit sie sich verteidigen, wo sie doch in seiner Erinnerung immer so harmlos erschienen. Der Elf ahnte jedoch schon seine Frage.
„Sie haben magische Waffen“, klärte er Angholt auf. „Obwohl Einhörner weit davon entfernt sind, gefährliche Angreifer zu sein, verfügen sie über Kräfte, die nicht unterschätzt werden sollten.“
Angholt dachte nach. Noch nie hatte er eine so aufregende Geschichte gehört, und er bedauerte, nicht an der Stelle der Fürstin gewesen zu sein. Zu gern würde er die Feenwelt einmal selbst besuchen.
„Wie lange wird einem denn gestattet, drüben zu bleiben?“, fragte er. „Und gibt es noch andere Wege in die Feenwelt.“
„Wie lange?“, antwortete dieses Mal Melbart. „Das kann keiner sagen. Wer einmal dort war, der weiß, dass die Zeit dort anders vergeht, wenn man überhaupt von Zeit sprechen kann. Doch ein kurzer Aufenthalt kann hier schon eine halbe Ewigkeit sein oder eine lange Zeit drüben dauert hier nur ein Augenzwinkern. Es steckt voller Magie. Und der Zeitraum, in dem die Fürstin dort verweilt, dauert mir schon zu lange. Zu deiner zweiten Frage: Ja, es geht auch anders, aber darüber wollen wir hier schweigen.“
Mit dieser Antwort war Angholt keineswegs zufrieden, aber er ahnte, wenn Melbart über etwas nicht sprechen wollte, dann sagte er auch nichts. Einige Zeit ritt Angholt schweigend und grübelnd vor sich hin. Dann wagte er erneut eine Frage.
„Melbart, seid Ihr auch schon einmal im Feenreich gewesen?“
„Ja“, antwortete der Zauberer kurz.
Wenn Angholt sich eine ausführlichere Antwort erhofft hatte, wurde er enttäuscht.
„Ken´ir, bisher hatten wir noch keine Gelegenheit, über Euren Ausflug in den Wald zu sprechen. Wollt Ihr mir darüber berichten?“, lenkte Melbart von der Feengeschichte ab und Angholt hatte das Gefühl, als wollte der Zauberer damit auch bekunden, dass seine Geduld mit ihm zu Ende ging.
Ken´ir erzählte, was sie erlebt hatten und wurde in einigen Einzelheiten von Tai´gor ergänzt.
„Das erklärt mir aber noch nicht, was die Pferde in solch große Unruhe versetzt hat“, meinte Melbart nachdenklich. „Der Muna war noch zu tief im Wald. Ich bin sicher, dass die Ursache für das Verhalten der Pferde und die Flucht des Einhorns die gleiche war. Es fällt mir schwer, dafür eine Antwort zu finden. Irgendetwas hat sich an diesem Ort aufgehalten oder sich dort in diesem Augenblick ereignet. Etwas, was dort nicht hingehörte und Angst unter den Tieren verbreitet hat. Es muss etwas Furchtbares gewesen sein, wenn es sogar das Einhorn in die Flucht getrieben hat.“
So zog die Karawane weiter, Tai´gor und Angholt an der Spitze, gefolgt von Melbart und Cai, dann Ken´ir mit der kranken Fürstin und hintenan Hagil und Urth mit den Packpferden. Die Fürstin hatte immer noch einen glücklichen Gesichtsausdruck, wenn ihre Haut auch schon eine leichte Blässe angenommen hatte.
In einiger Entfernung hinter ihnen starrte ein schwarzglänzendes, pupillenloses Augenpaar aus dem Dickicht auf die Reitergruppe. Für einige Zeit hatte dieses unbeschreibliche Wesen sie noch verfolgt, wandte sich aber schließlich von ihnen ab. Wenn Melbart es in diesem Augenblick erkannt hätte, wäre ihm nicht nur das Verhalten der Pferde und des Einhorns kein Rätsel mehr gewesen, er selbst wäre von der Gegenwart dieser Gestalt erschüttert worden. Auch hätte Melbart sich dann über eine unerwartete und flüchtige Regung sicher sein können, die er nicht erklären konnte.