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5. Durch Niemandsland

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Nachdem Thorgren den Aghor-Pass hinter sich gelassen hatte, folgte er der alten Heerstraße hinunter ins Tal. Hier hatte das Unwetter besonders heftig gewütet. Einige Male musste er von seinem Pferd Mondblesse absteigen und ihn vorsichtig über Geröllawinen führen, die das Regenwasser aus den Berghängen gerissen und über die Straße gespült hatte. Einige Stämme lagen kreuz und quer über seinem Weg und erschwerten das Vorankommen. Mehr als einmal rutschten Felsbrocken unter seinen Stiefeln oder den Hufen seines Pferdes weg und brachten sie fast zu Fall.

Das Gewitter hatte jetzt endlich aufgehört, und es regnete kaum noch. Als Pferd und Reiter die Engstellen schließlich hinter sich gelassen hatten, ging es wieder besser vorwärts. Bald war die breite Handelsstraße von Rohndahl im Seenland nach Weißanger erreicht. Sie brachte Thorgren schneller voran. Jetzt waren es nur noch wenige Meilen bis zur Trollschlucht, durch welche die Straße aus den Grauen Bergen hinaus in die weite Mar-Ebene und bis zu der nach ihr benannten Mar-Kreuzung führte. Dort trafen sich alle Hauptstraßen aus dem Westen, Osten, Süden und Norden des Landes. Sämtliche wichtigen Handelswege stießen hier aufeinander. Erst dort wollte Thorgren seine nächste Rast einlegen, bevor er sich aufmachte, die letzte Etappe zur Grenze zwischen dem Seenland und dem Land-Der-Vielen-Feuer in Angriff zu nehmen. Es gab einige Möglichkeiten, in die lysidische Hauptstadt zu gelangen, aber Thorgren hatte sich entschlossen, die Hauptstraße zu benutzen, die ihn geradewegs und am schnellsten nach Schibrasch-dim führte.

Kurz vor der Trollschlucht riss die Wolkendecke auf und gab den Blick auf die Sterne und die strahlende Scheibe des Mondes Nubius frei. Hell schien das Licht auf den Reiter und die Landschaft herab. Thorgren unterdrückte einen Fluch. Gerade in dieser Schlucht wäre ihm der Schutz vor einer Entdeckung durch eine verdunkelnde Wolkenschicht sehr gelegen gekommen, denn die Schlucht trug ihren Namen nicht umsonst. In den Höhlen der Berghänge hausten Trolle, die Thorgren zwar noch nie zu Gesicht bekommen hatte, von deren Existenz er aber wusste. Bergtrolle vertrieben sich gelegentlich die Zeit damit, nächtliche Reisende zu überfallen, und beunruhigende Gerüchte über ihren Speiseplan machten die Runde. Ihr größter Gegner war das Tageslicht, in dem sie unweigerlich ihr Leben aushauchen würden, deshalb verließ kein Troll seine Höhle zwischen Sonnenauf- und -untergang.

Völlig sicher war die Straße tagsüber aber trotzdem nicht, denn Trolle verstanden sich darauf, Fallen zu stellen, die auch im Licht der Sonnen ihre Aufgabe erfüllten. Ihre Opfer blieben dann – tot oder lebendig – gefangen, bis sie in der kommenden Nacht von den Fallenstellern abgeholt wurden. Allerdings kam das selten vor, weil die Straße und besonders nachts nur noch selten benutzt wurde. Und selbst dann wurde nicht jeder Reisende Opfer eines Trolles.

In diesem Teil der Grauen Berge war Thorgren zudem noch niemals ein Troll unter die Augen gekommen, aber er hatte immerhin ihre Fährten gesehen und wusste, dass ihre Nähe kein Gerücht war.

Thorgren näherte sich vorsichtig dem Eingang der Schlucht. Bisher konnte er keine Anzeichen dieser Wesen erkennen. Die vereinzelten Felsbrocken an den Seitenrändern der Straße, im Mondlicht gut zu sehen, mochten auch natürlichen Ursprungs sein. Vielleicht hatte er Glück, und nach dem plötzlichen Abzug des Unwetters waren sie noch nicht aus ihren Höhlen herausgekommen. Die Schlucht war nur einige hundert Schritte lang, und wenn weiter vorne kein Hindernis im Weg lag, konnte Mondblesse ihn in kurzer Zeit hindurchtragen. Doch zunächst saß er ab und gebot dem Pferd, stehenzubleiben. Langsam und vorsichtig schlich er sich vorwärts, bis er eine Stelle erreichte, von wo er die Straße weit übersehen konnte. Er wollte sich nicht gerade dann auf ihr befinden, wenn sich dort irgendwo Trolle herumtrieben.

Der Mond tauchte die Umgebung in ein mildes Licht. Er ließ die nassen Berghänge vor Thorgren wie Silber erscheinen. Der Weg schien frei. Ein gutes Stück hinter dem Ausgang konnte Thorgren die schwachen Umrisse einer Wachfestung erkennen. In einigen Fenstern glomm trübes Licht und wirkte aus dieser Entfernung wie Glühwürmchen auf kaltem Felsgestein. Die Festung stand zu weit von den Ausläufern der Berge entfernt, als dass für ihre Besatzung noch eine Gefahr durch die Trolle bestanden hätte. Seit sie errichtet wurde, war noch kein Troll in ihrer Nähe beobachtet worden. Ihre gelegentlichen Fußabdrücke hörten stets kurz hinter dem Ausgang der Schlucht auf.

Thorgren entschied, dass es keinen Sinn hatte, noch länger zu warten. Mit dem kurzen Schrei eines Käuzchens rief er Mondblesse herbei und sprang auf seinen Rücken. Ohne den Befehl seines Herrn abzuwarten, stob das Tier los und galoppierte mit erstaunlicher Geschwindigkeit durch die Schlucht. In der Stille nach dem Sturm kam Thorgren das Geklapper der Hufe unnatürlich laut vor. Er war sich sicher, dass diese Geräusche über das halbe Gebirge zu hören waren.

Sie hatten den Ausgang noch nicht ganz erreicht, als splitternd und krachend neben und hinter ihnen zwei schwere Felsbrocken niederstürzten. Wie durch ein Wunder wurden weder Pferd noch Reiter verletzt, und schon kurze Zeit später waren sie außer Gefahr.

Hoch in den Berghängen blickten ihnen matte Augenpaare aus den Köpfen zweier unförmiger Gestalten hinterher. Mit einem enttäuschten Grollen wandten die beiden Trolle sich wieder ab.

Thorgren ließ sein Pferd auslaufen und in einen gemütlicheren Schritt fallen. Als er die Festung erreichte, wurde er von zwei Wachen angehalten.

„Halt! Wer seid Ihr?“, rief ihm einer der Krieger entgegen.

Thorgren wusste, dass ihn aus der Festung Bogenschützen beobachteten. Obwohl Frieden herrschte, gab es genügend zweifelhafte Gestalten in den Ländern von Erdos.

„Ich bin Thorgren, Seneschall König Harismunds und in seinem Auftrag unterwegs. Hier ist des Königs Siegel.“

Er reichte der Wache ein silbernes Medaillon an einer ebensolchen Kette. Harismund verfügte über viele Krieger, und so konnte Thorgren nicht erwarten, dass ihn jeder dieser Männer kannte. Ein Offizier trat aus dem Schatten hinzu und sagte: „Du kommst zu einer ungewöhnlichen Stunde, Thorgren. Ich hoffe, die Trolle haben dich dein Leben nicht allzu knapp retten lassen. Das Bersten der Felsen war bis hierher zu hören.“

„Gunther!“, erwiderte Thorgren überrascht, denn vor ihm stand ein alter Freund. „Welch eine unerwartete Freude, dich hier zu treffen. Wie lange ist es her, dass wir uns das letzte Mal sahen? Bestimmt zwei Jahre. Was die Trolle angeht, hatten mein Freund“, dabei klopfte er Mondblesse anerkennend an den Hals, „und ich noch einmal Glück. Außer einem tüchtigen Schrecken ist uns nichts passiert. Nicht ohne Grund versuche ich, diese Gegend zu meiden. Ich hatte dich hier nicht erwartet.“

„Ich hatte auch nie die Absicht, hier Dienst zu tun“, gab Gunther zu, „aber der König schickt einen nicht immer dorthin, wohin man möchte. Was treibt dich zu so früher Stunde in diese Gegend? Am Tag wäre es sicherer gewesen.“

Thorgren befand sich plötzlich in einer Zwickmühle. Natürlich durfte er den Grund seiner Reise nicht nennen, trotzdem konnte er kaum angeben, dass er aus lauter Freude an einem Nachtritt hier entlangkam.

„Du hast es eben selbst gesagt“, wich Thorgren aus. „Der König schickt uns nicht immer dorthin, wohin wir wollen. Und ich wollte schon gar nicht um diese Zeit in die Trollschlucht. Daran erkennst du, dass mein Auftrag wichtig ist und keinen Verzug duldet. Verzeih mir, dass ich darüber zu diesem Zeitpunkt nicht reden kann. Vielleicht reicht es dir aber, dass du den Grund in naher Zukunft erfahren wirst. Jetzt aber muss ich dich bitten, mich weiterreiten zu lassen. Es ist wirklich eilig.“

Thorgren hatte keine Angst, festgehalten zu werden, doch er kannte die Vorliebe seines Freundes für gesellige Stunden und endlose Gespräche und wollte vermeiden, dass er ihn einlud, den Rest der Nacht in der Festung zu verbringen. In diesem Augenblick kam Thorgren auch sein Amt am Hofe König Harismunds zugute, das ihn über Gunther stellte. Dadurch verbot sich für den Wachoffizier die Forderung nach einer ausführlichen Antwort. Gunther wog das Siegel des Königs noch einmal in der Hand und gab es Thorgren dann zurück.

„Ich werde dich nicht aufhalten, obwohl mich durchaus interessieren würde, welcher Art dein Auftrag ist. Doch ein Ton in deiner Stimme verrät mir, dass ich selbst unter Folter nichts aus dir herausbringen könnte“, meinte er lachend. „Was immer deine Aufgabe ist, ich wünsche dir viel Erfolg und mögen die Götter mit dir sein.“

„Lebe wohl“, wünschte Thorgren seinem Freund zum Abschied und trieb Mondblesse wieder an.

So trennten sich ihre Wege wieder, und Thorgren dachte bei sich, die Hilfe der Götter werde ich tatsächlich benötigen.

Der Morgen graute, als er an der Mar-Kreuzung ankam. Diese Kreuzung und die dort aufeinandertreffenden Straßen gab es schon seit Jahrhunderten, sie waren aber bis zum lysidisch-seenländischen Krieg nur wenig befestigt gewesen. Noch während des Krieges wurden die Kreuzung und die Straßen in einen besseren Zustand versetzt, um ein schnelles Vorankommen der Kriegsheere zu ermöglichen. Erst nach dem Krieg erfolgte dann der Ausbau zu befestigten Handelswegen. Allein die Straße in Richtung Südwesten, die durch inzwischen unbewohntes Gebiet bis zur lysidischen Hauptstadt führte, hatten die Seenländer vernachlässigt.

Thorgren ließ sein Pferd eine halbe Stunde ruhen und grasen, während er sich über seine Vorräte aus der Großen Höhle hermachte. Auch für eine Pfeife nahm er sich noch die Zeit, bevor er seinen Weg fortsetzte. Er schlug zunächst die südliche Richtung ein und wandte sich dann nach Westen. Wenn alles glücklich verlief, konnte er am übernächsten Tag die Grenze zum Land-Der-Vielen-Feuer erreichen.

Astur erhob sich bereits majestätisch über dem östlichen Horizont. Nicht lange, und Pelin würde ihm im Westen folgen. Beide versprachen einen warmen Tag. So konnte er hoffen, dass Kleidung und Ausrüstung bald wieder trocken sein würden.

Der Tag verlief ruhig. Wie erwartet begegneten ihm keine Reisenden, und bei strahlendem Sonnenschein durchquerte er die friedlichen, ebenen Gebiete des westlichen Seenlandes. Wie der Name schon ausdrückte, kam er an einigen kleinen und größeren Seen vorbei, die von Wäldern und Wiesen umgeben wurden. Einige Flüsse, von Auen gesäumt, durchzogen das Land, und so musste Thorgren mehrmals Flussläufe auf Brücken überqueren, von denen manche nur noch wenig vertrauenerweckend waren.

An diesem Tag erlebte Thorgren noch eine angenehme Überraschung. Dieser Teil des Seenlandes war ihm nicht sehr vertraut. Daher stellte er am späten Nachmittag mit Verwunderung fest, dass die Gegend doch nicht so unbewohnt war, wie er geglaubt hatte, denn nachdem ihm irgendwann einige Bauernhöfe in der Nähe der Straße aufgefallen waren, erreichte er am Abend und zur rechten Zeit ein kleines Dorf, das – noch erstaunlicher – sogar über ein Gasthaus verfügte. Anscheinend hatten sich einige Bewohner dieses Landstriches doch dazu entschlossen, dort zu bleiben. Aber genaugenommen hatte der Krieg zwischen Lysidien und dem Seenland auch mehr im Norden stattgefunden, und diese Gegend war nur wenig davon betroffen gewesen. Aber die Nähe zum Land-Der-Vielen-Feuer hatte viele Einwohner dazu veranlasst, die Gegend zu verlassen.

Das Gasthaus war nicht besonders edel, es hatte nicht einmal einen offenkundigen Namen, und Thorgren wunderte sich, wie es überhaupt überleben konnte, denn Reisende mussten selten sein. Aber es kam ihm gerade recht, und da es bereits spät war und in nicht mehr allzu ferner Zeit die Abenddämmerung einsetzen würde, entschloss sich Thorgren, hier für diese Nacht ein Zimmer zu nehmen.

Der Ort lag so einsam, dass es schon ein unglücklicher Zufall gewesen wäre, hier auf Bekannte zu stoßen. Und so war es dann auch. Nicht nur, dass er dort auf niemanden stieß, der ihn als den Seneschall des Königs hätte erkennen können, er war auch der einzige Übernachtungsgast in dem Wirtshaus. Es schien wenig besucht zu werden, denn das alte Holzhaus machte auch von innen einen etwas verwahrlosten Eindruck.

Während er in der Gaststube sein Abendessen zu sich nahm, betraten nacheinander einige Einheimische den Raum und setzten sich an den Schanktisch. Sie warfen dem Fremden nur einen kurzen Blick zu, ohne ihn dann weiter zu beachten. Also scheinen gelegentliche Reisende hier kein allzu großes Aufsehen zu erregen, dachte Thorgren. Diese Gäste waren Bauern, schloss er aus deren Unterhaltung, die sich um Vieh, Grundstücke, Nachbarn, schlechte Preise und Ähnliches drehte. Thorgren beneidete sie in gewisser Weise um ihr ruhiges Leben. Während er dasaß, sein Bier trank und eine Pfeife rauchte, lauschte er dem Gespräch und stellte fest, dass es sich ausschließlich um Dinge des Dorflebens handelte. Keiner schien sich für die Welt draußen zu interessieren. Glückliche Menschen, dachte Thorgren. Er verließ die Schankstube und legte sich schlafen.

Am nächsten Morgen brach Thorgren früh auf. Sein Frühstück packte er ein, um es unterwegs zu essen. Das Land, durch das er nun kam, war eintönig und einsam. Die Ebene ging bald in ein Gelände mit geschwungenen Hügeln über, die fast ausschließlich von Gras bedeckt waren und kaum den Anblick eines Baumes oder Strauches boten. In der Ferne erblickte er gelegentlich den grüngrauen Streifen eines Waldes, und es dauerte nicht lange, da blieb auch der letzte Bauernhof hinter ihm zurück.

Seenländer bekam er an diesem Tag keine zu Gesicht und das Einzige, was sich bis zum Abend änderte, waren die höher werdenden Berge des Landes-Der-Vielen-Feuer, die sich im Laufe des Vormittags allmählich über den Horizont erhoben.

In dieser Nacht würde er unter freiem Himmel schlafen müssen. Er ritt noch, solange er etwas sehen konnte, dann verließ er die Straße und wandte sich ein Stück landeinwärts. Schon in der nächsten Senke fand er im schwachen Licht der Sterne einen kleinen Hain am Ufer eines Baches. Dort wollte er bleiben.

Nicht, dass Thorgren Angst gehabt hätte, neben der Straße zu nächtigen. Es war unwahrscheinlich, dass ihm dort Gefahr drohte. In dieser einsamen Gegend war das Geschäft von Straßenräubern sicher zu wenig lohnend, als dass sie dort auf Opfer lauern würden. Thorgren fühlte sich nur nicht wohl, wenn er unter freiem Himmel schlafen musste. Er wollte zwischen sich und den Sternen noch etwas anderes sehen. Und dieser Busch war genau das, was er gesucht hatte.

Thorgren entlud sein Pferd und ließ es frei. Er wusste, dass Mondblesse ihm nicht weglaufen würde. Er aß noch etwas, hüllte sich in seine Decke und schlief mit dem Kopf auf seiner Tasche bald ein.

Als er aufwachte, war es bereits hell. Obwohl er geschützt zwischen einigen Sträuchern gelegen hatte, hatte der Morgentau doch seine Spuren hinterlassen. Alle Dinge, die nicht unter seiner Decke versteckt waren, fühlten sich klamm an. Thorgren schlug die Decke zur Seite und streckte sich. Zwischen den Zweigen hindurch sah er Mondblesse grasen.

Ohne Unterbrechung und landschaftliche Veränderungen erreichte er am späten Vormittag den Grenzübergang. Wenn es auch ein Übergang hätte sein können, so war die Straße doch geschlossen. Es gab keinen Verkehr zwischen den beiden Ländern. Unmittelbar hinter der Grenze säumten zwei grob gemauerte Wachtürme die Straße, zwischen denen ein herabgelassenes Falltor den Durchgang versperrte. Von den Wachtürmen entfernten sich zu jeder Seite so weit das Auge reichte mannshohe Grenzmauern. Sie waren aus unbehauenen Feldsteinen errichtet. Thorgren wusste, diese Mauer nahm die ganze Länge der Grenze zwischen beiden Ländern ein. In größeren Abständen konnte er Wachsoldaten erkennen, die hinter dem Wall auf- und abgingen. Als er das Tor erreichte, stellten sich ihm drei Wachen entgegen. Sie ähnelten in ihrer Erscheinung den Seenländern, stellten gewaltige Bärte zur Schau und trugen grobe Kleidung, bestehend aus wollenen Hosen und Hemden und darüber Westen aus roh gegerbtem Leder. In ihren breiten Gürteln steckte eine Vielzahl verschiedener Messer. In ihren Händen hielten sie Schild und Speer und an den Seiten trugen die Wachen die berüchtigten Krummschwerter, die sie gekonnt handhabten und sie zu gefürchteten Gegnern machten.

Thorgren hielt sein Pferd an, blieb aber auf dem Tier sitzen.

„Wer bist du, Fremder, und wohin willst du?“, fragte einer der Krieger in einer rauen, fremdartigen Sprache und kam einige Schritte auf Thorgren zu.

Thorgren, der die Sprache der Lysidier gelernt hatte, antwortete ihm nicht ganz akzentfrei: „Ich grüße euch. Ich komme als Gesandter meines Herrn Harismund, König des Seenlandes. Er schickt mich zu eurem König Zethimer in einer wichtigen Staatsangelegenheit. Ich wäre euch also dankbar, wenn ihr mich durchlasst oder in Begleitung zu ihm bringt.“

„Ein Gesandter? Warum sollten wir dir glauben?“, entgegnete der Wachoffizier zweifelnd. „Du hast weder eine Eskorte noch ein Gefolge, und deine Bekleidung zeichnet dich auch nicht gerade als einen königlichen Boten aus. Kannst du dich ausweisen? Wie ist dein Name?“

Abermals zog Thorgren das Siegel Harismunds aus der Tasche. Es trug des Königs Bild und seinen Schriftzug. Er hielt es dem Mann hin.

„Schaut Euch das Bildnis und die Schrift an. Es ist das Siegel meines Königs. Ich bin Thorgren von Hedau, König Harismunds Seneschall.“

Der Wächter nahm es in die Hand und schaute es sich abwägend an. Schließlich hieß er Thorgren absteigen und warten. Während die beiden anderen Wachen Thorgren nicht aus den Augen ließen, ging er in die Wachstube. Thorgren konnte sehen, wie er den rechten Turm betrat.

Er wandte sich ab und blickte in die beiden Sonnen, die hoch und eng beieinander am Himmel standen. Er musste niesen. Als er sich die feuchten Augen trockengewischt und die Nase geschnaubt hatte, sah er sich um. Es war sehr warm und ein schwacher Ostwind wehte ihm ins Gesicht. In der Ebene vor der Grenze auf dem seenländischen Gebiet war weit und breit nur grüne Steppe. Einzelne Bäume oder Baumgruppen und Sträucher unterbrachen die Eintönigkeit. Anzeichen einer Besiedlung gab es hier nicht mehr, aber er erblickte einige weidende Rinder, von denen er nicht sagen konnte, ob sie wirklich seenländisch waren oder vielleicht doch lysidisch. Thorgren entschloss sich, es auch gar nicht wissen zu wollen.

Er wandte sich wieder dem Land-Der-Vielen-Feuer zu. Auch hinter dem Steinwall dehnte sich fruchtbares Weideland aus, auf dem er, durch niedrige Mauern begrenzt, weite Grasflächen erkennen konnte, auf denen ebenfalls Rinder und auch Pferde friedlich nebeneinander grasten. In einiger Ferne begann ein anscheinend endloser Wald, der leicht anstieg. Der Horizont war geprägt von mächtigen Bergen. Thorgren erkannte eine Kette von Vulkanen unterschiedlicher Größe und Formen. Einige schienen Leben zu enthalten, denn sie stießen hohe Rauchwolken aus. Das Land trug seinen Namen nicht umsonst.

Der Wachoffizier kehrte wieder zurück.

„Eine Eskorte wird Euch nach Schibrasch-dim geleiten“, eröffnete er Thorgren. „Hier, nehmt das Siegel zurück. Wir bitten Euch aber, der Eskorte Eure Waffen zu übergeben. Wenn entsprechend beschieden wird, erhaltet Ihr sie später wieder.“

Thorgren kam der Forderung nur unwillig nach, doch er hatte keine Wahl, und seinen Auftrag wollte er nicht durch unbedachtes Handeln in Gefahr bringen, deshalb fügte er sich der Anordnung der Wache. Er kam als Botschafter in ein Land, das mit seinem vor nicht langer Zeit einen großen Krieg geführt hatte. Die Ursache für diese Auseinandersetzung war eher nichtig gewesen. Es ging um Handelszölle und Abgaben auf Salz, das aus Lysidien in das Seenland verkauft wurde. Doch der Streit weitete sich aus und wer letztlich den Krieg begonnen hatte, war bis in jene Tage nicht klar. Am Ende gab es aber weder einen Sieger noch einen Besiegten, stattdessen großes Elend auf beiden Seiten. Sämtlicher Handel wurde in der Folgezeit eingestellt, und die Lysidier zogen sich hinter ihren Wall zurück. Er, Thorgren, war im Auftrag seines Königs hergekommen, um diesen Zustand zu beenden. Er gürtete also sein Schwert ab und löste sein Messer. Dann übergab er alles den beiden Kriegern, die ihn an den Hof Königs Zethimers begleiten sollten.

König Harismund hatte einige Gründe, warum er nicht selbst nach Schibrasch-dim reisen konnte. Nur einer davon war der befürchtete Widerstand an seinem eigenen Hof. Daher mussten die ersten Schritte im Geheimen getan werden. Er hatte Thorgren von Hedau geschickt, um den Weg zu einem späteren Treffen zwischen ihm und König Zethimer zu ebnen, falls der lysidische König dazu bereit sein würde. Thorgren sollte versuchen, die beiden Länder schon einmal etwas näher zusammenzubringen, insbesondere vor dem Hintergrund der neuen Bedrohung aus dem Nordosten. Dafür musste er klug und geduldig handeln, umso mehr, weil seine Aufgabe dadurch erschwert wurde, dass es zunächst kein Bündnis für den Frieden werden würde, sondern für einen möglichen Krieg. Thorgren war sich nicht sicher, ob Lysidien bereit sein würde, seinem ehemaligen Kriegsgegner gegen einen Feind beizustehen, der für das Land-Der-Vielen-Feuer scheinbar von nur geringer Bedeutung war.

Die Rache des Kryonos

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