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12. Das lysidische Grenzfort

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Nachdem Thorgren, Angulfin und Zihanor Schibrasch-dim verlassen hatten, ritten sie die breite Straße hinauf zu dem der Stadt vorgelagerten Wald. Es war die gleiche Strecke, die Thorgren einen Tag zuvor aus der entgegengesetzten Richtung gekommen war. Als sie den Waldrand erreicht hatten, drehte sich Zihanor noch einmal um und blickte auf seine Heimatstadt.

„Ja, es mag sein, dass dir dieser Anblick für lange Zeit nicht mehr vergönnt sein wird“, meinte Angulfin, der die Gedanken des Sohnes König Zethimers erriet.

„Und wenn ich einst wieder hier stehe, mag ich ein anderer geworden sein“, prophezeite Zihanor ahnungsvoll.

Im Stillen dachte er: Wenn ich überhaupt noch einmal hierher zurückkehre. Trotz aller Unternehmungslust befiel ihn plötzlich doch eine gewisse Nachdenklichkeit.

Sie wendeten ihre Pferde und ritten in den Wald hinein. Das Wetter war wie geschaffen für eine Reise. Astur und Pelin standen wie Hand in Hand am Himmel und sandten ihre wärmenden Strahlen auf das Land. Eine leichte Brise ging, und die Luft war erfüllt von dem Gesang zahlloser Vögel. Die Umgebung bot keinen Anlass zu finsteren Gedanken. Und doch trug sich auch Thorgren mit Zweifeln. Obwohl kein erkennbarer Grund bestand, glaubte er, dass ihm die Zeit unter den Fingern zerrann, dabei hatte ihn nicht einmal der Geist seines Urahns zur Eile aufgefordert. Aber Thorgren konnte sich nicht vorstellen, dass ihnen alle Zeit der Welt blieb, um das bevorstehende Übel für die Völker abzuwenden. Mehr noch nagte an ihm, dass er nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie ihre Aufgabe, über deren Einzelheiten bisher nur wenige Worte gefallen waren, zu bewerkstelligen sein würde. Lange Zeit schwieg er. Schließlich wandte sich Zihanor an ihn.

„Thorgren, Ihr macht einen schwermütigen Eindruck. Habt Ihr Bedenken wegen des Ausganges der Geschichte?“

Thorgren zwang sich zu einem Lächeln.

„Sieht man mir das an?“, fragte er. „Ja, es stimmt, ich habe tatsächlich über die Zukunft nachgedacht. Es gibt so viele Fragen. Alles ist unklar. Dabei meine ich nicht die Suche nach Branwyn, sondern das, was danach kommt. Es ist alles so vage. Was wir zu tun haben, wurde gesagt, doch wie wir es anstellen können, weiß ich nicht. Und auch nicht, was wirklich auf uns zukommt. Ich gebe zu, diese Unsicherheit beunruhigt mich.“

„So ist das mit Dingen, die sich gerade erst entwickeln“, meinte Angulfin. „Auch uns, und damit meine ich Melbart und mich, sind noch viele Fragen unbeantwortet. Doch hat mich die Erfahrung gelehrt, dass sich manches von selbst aufklärt und Sorgen verflüchtigen sich oft ohne unser Zutun. Zu viele Gedanken trüben nur das Gemüt. Wie ein Sprichwort sagt: Eine Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Und der Weg wird uns zeigen, in welche Richtung es geht. Wir stehen ja gerade erst am Anfang und vieles müssen wir einfach auf uns zukommen lassen.“

„Das kann ja alles sein“, sagte Thorgren. „Trotzdem wünschte ich mir etwas mehr Klarheit. Es würde mir – uns – die Sache einfacher machen.“

„Wer kann das schon sagen“, erwiderte Angulfin. „Aber ich wage die Prophezeiung, dass uns das Schicksal, wie ich es vorläufig nennen möchte, zur rechten Zeit Hinweise geben wird, wenn wir sie nur erkennen.“

Thorgren sah den Magier nachdenklich an. „Das klingt, als ob dir unser »Schicksal« nicht ganz so verborgen ist wie uns.“

„Vergiss nicht, dass ich ein bedeutender Zauberer bin“, erinnerte ihn Angulfin feierlich. Auch wenn er damit nicht einmal übertrieben hatte, entsprach seine Erscheinung in keiner Weise dieser Einschätzung. „Das bringt so mit sich, mehr zu wissen als andere.“

„Manches davon wäre mir aber bestimmt hilfreich“, meinte Thorgren. „Wie wäre es, wenn du dein Wissen mit mir teilen würdest?“

„Tja, ich fürchte, das, was du wissen willst, besteht im Augenblick noch aus reinen Vermutungen. Alles, was ich dazu sagen könnte, weißt du schon. Und das, was ich vermute, würde dir nur wenig helfen.“

„Aber du sagst es mir, wenn deinen Vermutungen zu Gewissheiten werden“, entgegnete Thorgren bissig.

„Das ist meine Aufgabe.“

Thorgren misstraute den rätselvollen Winkelzügen der Magier. So verschlungen konnten die Gedanken eines gewöhnlichen Menschen gar nicht sein. Und er war sicher, dass Angulfin durchaus mehr zu sagen gehabt hätte, als er vorgab.

Nachdem sie den Wald durchquert hatten, verließen sie die Straße auf einem Weg in südöstliche Richtung, während die Straße selbst nach Nordosten weiterführte. Bis dahin waren ihnen erstaunlich viele Reisende begegnet. Die meisten waren Händler auf dem Weg von oder nach Schibrasch-dim, von denen viele mit schwer beladenen Wagen unterwegs waren. Nur wenige hatten leere Kutschen, die sie irgendwo wieder mit neuen Waren füllen wollten. Gelegentlich trafen sie auf Krieger, zu Pferd oder zu Fuß, die mit einem unbekannten Ziel die Hauptstadt verließen oder in sie zurückkehrten. Einige von ihnen mochten berittene Boten sein. Thorgren fragte sich, ob darunter auch bereits Meldegänger waren, die Nachrichten über das neue Bündnis zwischen Lysidien und dem Seenland verbreiteten. Doch wer immer ihnen begegnete, es waren ausschließlich Lysidier. Nie trafen sie auf Vertreter anderer Völker, und das mochte die neugierigen und manchmal auch argwöhnischen Blicke erklären, die ihnen zugeworfen wurden.

„Uns sind bisher schon viele Reisende begegnet“, stellte Thorgren fest, „doch es waren alles Eure Landsleute, Zihanor. Gibt es keinen Verkehr mit anderen Ländern, wenn schon nicht mit dem Seenland?“

„Es stimmt, wir haben nur wenige Verbindungen in die Welt“, bestätigte Zihanor. „Seit dem Ende des letzten Krieges leben wir sehr zurückgezogen. Es gibt Spötter im eigenen Land, die behaupten, wir lecken uns immer noch die Wunden. Tatsächlich ist es aber so, dass wir ein reiches Land sind und uns sehr gut selbst versorgen können. Alles, was wir benötigen, können unsere Handwerker, und wir verfügen über sehr gute Handwerker, selbst herstellen und aus eigenen Rohstoffen. Daher sahen wir noch keinen Anlass, uns anderen Ländern zuzuwenden.“

„Ihr meint damit das Seenland, nehme ich an. Wir können offen darüber sprechen“, sagte Thorgren.

„Das Seenland im Besonderen, ja. Und mit wem sonst sollten wir Handel treiben? Im Westen liegt nur noch das Meer, im Süden wird unser Land durch das unüberwindliche Barrieren-Gebirge begrenzt. Es ist wenig über die Länder bekannt, die dahinter liegen. Und im Osten ist die Grenze zum Seenland, wohin wir uns vielleicht nun gerade erst wieder öffnen. Lediglich mit den Felsgnomen im Norden wird ein wenig Handel getrieben. Ein engeres Bündnis besteht zwischen uns und ihnen aber nicht, und weder sie noch wir streben ein solches an. Ihr wisst ja selbst, dass auch die Zwerge ein sehr zurückgezogenes Dasein führen. Es wird sicher einige Zeit dauern, bis mein Land und Eures ein unbeschwertes Verhältnis entwickeln werden.“

„Daran besteht kein Zweifel. Ich hoffe aber, wir haben einen Anfang gemacht“, sagte Thorgren. „Doch könnt Ihr Euch glücklich schätzen, in einem so reichen Land zu leben. Ihr sagtet, bei Euch wird ein geringer Handel mit den Felsgnomen getrieben. Also steht Lysidien zumindest zu diesem Volk in einer gewissen Beziehung?“

„Ja, aber nur zu wenigen Zwergen, genauer gesagt, zu einer Sippe, die der Kolzathun“, antwortete Zihanor. „Sie lebt schon sehr lange im Norden unseres Landes. Die Sippe betreibt die Erzminen von Isgarand. Sie hat sich stets als vertrauenswürdig und als zuverlässiger Handelsgenosse erwiesen. Mag sein, dass es daran liegt, dass wir ihnen nur wenige Vorschriften machen, aber immerhin kommt durch sie überhaupt erst der Handel zwischen unseren Völkern zustande. In erster Linie jedoch sind sie erstklassige Bergleute, daher sind sie sehr wichtig für uns und haben sich einige Vergünstigungen erworben.“

„In meinem Land leben zwar keine Zwerge, soweit ich weiß“, meinte Thorgren, „doch gibt es im Grünland ebenfalls eine Sippe, die dort Bergbau betreibt. Das scheint die hervorragendste Fähigkeit der Zwerge zu sein.“

Die drei Reiter hatten die Straße verlassen und den schmalen Weg eingeschlagen, der sie bis an die Dagau bringen würde. Auf ihm konnten sie am schnellsten das Dagau-Delta erreichen. Er wurde nicht mehr oft benutzt, und wenn, dann meistens von Bauern, vereinzelten Reisenden oder von Kriegern auf ihrem Weg von oder zu dem Grenzfort, in dem sie in der kommenden Nacht unterkommen wollten. Der Weg stammte noch aus dem Krieg gegen das Seenland und war damals zu einer befestigten Straße ausgebaut worden. Doch seit sie keine besondere Bedeutung mehr hatte, war sie etwas vernachlässigt worden, und die Natur hatte sich die Straße teilweise wieder einverleibt. An manchen Stellen war sie nach Niederschlägen versandet oder von Erde bedeckt worden, auf der sich schnell Gras ausgesät hatte. Vom ehemaligen Pflaster war dort nichts mehr zu sehen. Bäume und Gestrüpp am Wegesrand hätten sie schon zugewuchert, wenn sie nicht immer wieder notdürftig zurückgeschnitten worden wären.

Insgesamt machte der Weg also einen ziemlich verwahrlosten Eindruck, doch er war die kürzeste Strecke zu den Schwarzen Sümpfen und wohl auch die sicherste in unsicheren Zeiten, denn größtenteils war er zu beiden Seiten so zugewachsen, dass sich Reiter in seinem Schutz einigermaßen unbeobachtet fühlen konnten. Wenn alles gut ging, würden sie die Dagau-Brücke in der südlichen Mar-Ebene des Seenlandes in drei Tagen erreichen. Von dort war es kaum mehr als ein halber Tagesritt bis zu den Stromschnellen der Dagau, wo sie mit der Gruppe aus Weißanger zusammentreffen sollten. Dieser Zeitpunkt war auf den nächsten Vollmond festgelegt worden.

Nach einiger Zeit kamen sie an eine Furt, die sich irgendwann einmal durch eine Verlagerung des Flussbettes gebildet hatte, das den Weg kreuzte. Infolge der regelmäßigen Überschwemmungen in den Frühjahren wurde der Weg an dieser Stelle von einer dicken Schlammschicht bedeckt und war von Gras bewachsen. Jetzt war das Gewässer schmal und nur knietief. Die Durchquerung bereitete ihnen keine Schwierigkeiten. Dahinter entschlossen sie sich, eine Rast einzulegen, da die Pferde ausreichend Wasser und Futter fanden. Doch lange hielten sie sich nicht auf, denn bis zum Abend wollten sie das Wachfort an der Grenze des Landes erreichen. Dort beabsichtigten sie, zu übernachten und ihre Vorräte zu ergänzen.

Der Ritt verlief ereignislos. Am frühen Nachmittag erblickten sie das silberne Band der Dagau. Der Pfad lief gerade auf sie zu und schwenkte dann am Ufer ein. Thorgren fragte sich, warum die Straße damals so nah am Fluss angelegt worden war und auch Zihanor konnte ihm keinen anderen Grund nennen, als dass der Fluss möglicherweise sein Bett verlagert hatte. Tatsächlich war an einigen Stellen der Weg in einem so schlechten Zustand, dass sie nur schlecht vorankamen. Dann grenzte er geradewegs am Wasser. Mancherorts war er abgesackt und so feucht, dass die Pferde bis über die Fesseln in den Morast einsackten, ehe sie Halt auf den darunter liegenden steinernen Resten der alten Straße fanden. Mehr als einmal mussten die Reiter absteigen, um die Tiere zu entlasten. Nur den zwei Packpferden konnten sie keine Erleichterung verschaffen. In den feuchten Niederungen wurden die drei Reiter in der Hitze des Nachmittags von Myriaden von Mücken heimgesucht, die unentwegt die Gruppe umschwirrten. So waren sie immer wieder froh, wenn sie festeren Boden erreichten und im schnelleren Schritt der Pferde und bei einer leichten Brise diesen Quälgeistern entfliehen konnten.

Schließlich ließen sie die Senken des Auentales hinter sich und der Weg schlängelte sich eine Hügelgruppe empor. Dort empfing sie ein angenehm kühler Wind, und sie hatten einen großartigen Ausblick auf die Flusslandschaft. Zu ihrer Linken erhob sich majestätisch und zum Greifen nah der Rabenberg. Obwohl es Sommer war, trug sein Gipfel immer noch eine Schneekappe.

„Schau, Zihanor!“, rief Angulfin und streckte seinen Arm in die Richtung des Berges aus. „Der Berg dort! Das ist der Rabenberg. Dort lag einst das, was wir zu finden hoffen.“

Er scheute sich in diesem Augenblick, den Namen des Achôn-Tharéns auszusprechen. Selbst in dieser Wildnis mochte jemand lauschen, der besser nichts davon erfahren durfte. Wenn allerdings ein unwahrscheinlicher Zufall gewollt hätte, dass dieser Jemand die Geschichte des Berges kannte, dann wäre es ihm sicher nicht schwergefallen, aus Angulfins Ausruf gewisse Schlüsse zu ziehen.

Zihanor hatte den Rabenberg zwar schon gesehen, doch war er ihm nur selten so nahe gewesen wie in diesem Augenblick. Er war beeindruckt von seiner Ruhe und Erhabenheit. In der Mar-Ebene war der Berg weit sichtbar und zu ihrem Wahrzeichen geworden. Zihanor erfuhr von Thorgren, dass nicht wenige Ritter und Fürsten ihn in ihre Wappen und Banner aufgenommen hatten. Und obwohl er seit über eintausend Jahren versiegelt und verwaist war, ging von ihm für viele immer noch etwas Heiliges aus.

Nachdem Kryonos das Achôn-Tharén an sich gebracht hatte, waren die überlebenden Priester dieser schaurigen Nacht wieder in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Zuvor waren, soweit es möglich war, die Toten aus den Höhlen geborgen und in einer großen Zeremonie und im Beisein aller Könige der beteiligten Länder verbrannt und dann in dem Berg bestattet worden. Anschließend verschlossen die Priester alle noch zugänglichen Höhlen bis auf das Hauptgewölbe. Darin befanden sich immer noch der Altar und die goldene Schale für die Aufbewahrung des Achôn-Tharéns. Schließlich vermauerten sie den Eingang des Berges, versiegelten ihn und machten ihn durch einen Zauber unsichtbar, sodass er nie wiederentdeckt wurde. Seither ruhte der Rabenberg, und es war nicht bekannt, dass jemand gewagt hätte, sich ihm bis zu seinem Fuß zu nähern, geschweige denn, ihn zu besteigen. Man sagte, er strahle eine mystische Kraft aus, die jeder in seiner Nähe spüren konnte und als Drohung empfand. Kein König des Seenlandes hatte je wieder Anspruch auf ihn erhoben.

Trotzdem war er nicht von allem Leben entblößt. Bis zu einer gewissen Höhe war er von Pflanzen aller Art bewachsen und in den eisigen Höhen umflogen den schneebedeckten Gipfel ständig zahllose Krähen, deren heisere Rufe an klaren, windstillen Tagen bis zum Erdboden zu hören waren. Auch einige Adlerpaare hatten in den zerklüfteten Hängen eine Heimat gefunden und schienen den Berg als ewige Wache zu umkreisen. Es ging die Legende um, dass sie die Geister der umgekommenen Priester in sich trugen, die auf die Rückkehr des Achôn-Tharéns warteten. Nur echte Raben waren nie in seiner Nähe beobachtet worden.

„Er scheint zum Greifen nah und ist doch so unerreichbar fern“, meinte Zihanor versonnen, der viele Geschichten über diesen Berg gehört hatte. „Man kann seinen Zauber fast spüren.“

„Nun ist es nicht mehr weit bis zum Grenzfort“, riss ihn die Stimme Angulfins aus seinen Gedanken. „Vor dem Untergang Pelins werden wir dort sein.“

Nach einer Weile und einem jetzt besseren Weg kam schließlich die kleine Festung in Sicht.

Über den Zinnen der beiden Türme wehten weit sichtbar die Banner König Zethimers. Das Fort war von einer hohen, weit ausholenden Schutzmauer umgeben, in deren Innerem die Wachmannschaft und alles, was sie benötigte, untergebracht war. Der Weg, auf dem die Reiter sich näherten, führte geradewegs auf ein eisenbeschlagenes Holztor zu, das in die Mauer eingelassen war. Wie schon bei der Festung auf der Straße nach Schibrasch-dim, die Thorgren auf seinem Hinweg zur Hauptstadt passiert hatte, führte auch hier eine hohe Grenzmauer zu beiden Seiten von der Festung weg und verschwand in den nahen Wäldern. Soweit die Reiter sehen konnten, war sie nicht von Grenzwachen besetzt.

Bei Einbruch der Dämmerung erreichten sie das Tor der Festung. Dort wurden sie von zwei Wachen empfangen. Sie machten nicht den Eindruck, als wären sie ein großes Hindernis für jemanden, der in übler Gesinnung in die Festung eindringen wollte. Aber Zihanor und Angulfin wussten, dass dieser Eindruck täuschte. Wenn die Krieger vor dem Tor auch nicht unüberwindlich erschienen, so wussten sie doch, dass gleichzeitig manche Augenpaare aufmerksamer Wachen in der Festung auf sie gerichtet waren. Und an diesem Abend umso mehr, weil nur selten Reisende in diese Gegend kamen. Sie konnten jederzeit wohlgezielte Pfeilschüsse auf sie abgeben. Auch wenn Fremde aus dem Inland kamen, mussten sie nicht unbedingt freundlich gesinnt sein.

Die drei Reiter waren bereits frühzeitig entdeckt worden, da sie sich keine Mühe gaben, sich unauffällig der Festung zu nähern. Und als sie auch noch als Landsleute verschiedener Herkunft erkannt wurden, kam sogar so etwas wie Neugier bei den Wachen auf, die mit Abwechslungen nicht gerade gesegnet waren. Die meisten empfanden ihren Dienst in dieser abgeschiedenen Gegend ohnehin als ein Strafkommando. Mit zwei Seenländern, wie es schien, und einem Druiden, stand ein äußerst merkwürdiges Häuflein vor dem Tor. Dazu waren sie auch noch aus der falschen Richtung gekommen.

Zihanor hielt sein Pferd kurz vor den beiden Wachen an und sagte einige Worte in einer Mundart zu ihnen, die Thorgren nicht verstand. Offenbar schienen sie ihn aber nicht als den Sohn König Zethimers zu erkennen, denn während der eine Krieger durch eine enge Tür im Tor verschwand, blieb der andere ungerührt vor ihnen stehen. Noch ehe die Wache wieder zurückkehrte, wurde das Tor von innen geöffnet und ein anderer Mann, ein Vorgesetzter, kam ihnen entgegen.

„Verzeiht die Unwissenheit meines Untergebenen, Prinz“, entschuldigte er sich bei Zihanor. Ihm war es sichtlich unangenehm, dass die Wache ihn und seine Gefährten hatte warten lassen. „Seid willkommen und tretet ein“, forderte er Zihanor und seine Begleiter auf.

Wie sollte er Zihanor auch als Lysidier, noch dazu als Sohn Zethimers erkennen, wenn er keinen Bart trägt, dachte Thorgren schmunzelnd.

In der Zwischenzeit war der Befehlshaber des Forts über die Ankunft der drei Reiter unterrichtet worden. Sie hatten kaum den Innenhof erreicht, nachdem das Tor wieder geschlossen worden war, als ihnen der Hauptmann Gorangor entgegenkam, um sie zu begrüßen.

„Na, Gorangor, alter Halunke, dir scheint die Einsamkeit hier ja gut zu bekommen“, rief Zihanor lachend, als er seinen alten Bekannten sah. „Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, ist dein Bart kaum ergraut.“

„Und wie ich sehe, ist dir immer noch keiner gewachsen“, stellte der Hauptmann freundlich spottend fest. „Wann wirst du endlich ein Mann? Aber du hast Recht, dieser götterverlassene Ort hier ist der einzige unseres Landes, an dem man sich ungestört erholen kann. Das Einzige, was unsere Stimmung hier draußen noch verbessern könnte, wäre eine Wagenladung mit Frauen. Die enthält uns dein Vater aber hartnäckig vor.“

„Tja, das sind die Härten eures Daseins als ehrenhafte lysidische Krieger“, sagte Zihanor belustigt. „So kommt ihr aber wenigstens nicht auf dumme Gedanken und in die Gefahr, euren Dienst zu vernachlässigen.“

Gorangor war jetzt nahe genug herangetreten, um die zwei Fremden genauer erkennen zu können. Als er Thorgren musterte und ihn als Seenländer erkannte, runzelte er kurz und misstrauisch seine Stirn, wandte sich jedoch wieder Zihanor zu.

„Man merkt doch gleich, dass du immer noch ein eingefleischter Junggeselle bist, Zihanor“, stellte Gorangor fest. „Wie ich sehe, befindest du dich in einer bemerkenswerten Begleitung. Seit wann reitet ein lysidischer Königssohn zusammen mit Seenländern? Hat sich wieder einmal etwas zugetragen, von dem wir hier als Letzte erfahren, oder seid ihr heimlich unterwegs? Euer Kommen war nicht angekündigt, und diese Strecke wird nicht gerade sehr häufig benutzt.“

„Ganz im Gegenteil“, widersprach Zihanor lächelnd. „So, wie es aussieht, bist du einer der Ersten, die über die jüngste Entwicklung Kenntnis erhalten. Wir sind sehr wohl mit Wissen und Billigung meines Vaters hier. Doch die Reise wurde kurzfristig beschlossen, und sie hat tatsächlich einen nur wenigen bekannten Grund. Dieser Seenländer heißt Thorgren. Er hat eine bedeutende Stellung am Hofe des seenländischen Königs Harismund. Und der Druide hier ist Angulfin. Gemeinsam sind wir zu – Geschäften – ins Seenland unterwegs.“

„Ich habe mir schon gedacht, dass es Angulfin ist“, meinte Gorangor und blickte den Druiden interessiert an. „Ihr werdet Euch sicher nicht mehr an mich erinnern, doch wir sahen uns vor nicht langer Zeit am Hofe Zethimers, wenn wir auch nicht miteinander sprachen.“

„Ihr seid mir tatsächlich nicht aufgefallen“, sagte Angulfin. „Es war nur ein kurzer Aufenthalt.“

„Wie dem auch sei, ich vermute, ihr wollt heute hier übernachten?“, fragte Gorangor.

„So hatten wir es uns gedacht“, bestätigte Zihanor. „Und nicht nur das, wir benötigen noch einige Vorräte für unsere Weiterreise.“

„Selbstverständlich“, sagte Gorangor. „Doch lasst uns erst eure Pferde in die Ställe bringen. Dann zeige ich euch euren Schlafraum. Allerdings müsst ihr bei uns mit sehr einfachen Verhältnissen vorlieb nehmen. Aber das weißt du ja.“

Hauptmann Gorangor gab einigen seiner Krieger den Befehl, die Pferde zu versorgen und das Gepäck der Reisenden in die Wohnräume zu bringen. Gemeinsam gingen sie dann in seine kleine Dienststube, wo sie ungestört miteinander sprechen konnten.

„Ist hier in den letzten Tagen alles ruhig gewesen?“, begann Zihanor ohne Umschweife. „Ich frage nicht ohne Grund, wie du gleich erfahren wirst.“

„Ja, geradezu nervtötend ruhig“, meinte er. „Wir haben keinerlei ungewöhnliche Beobachtungen gemacht. Sonst hätte ich auch bereits einen Boten nach Schibrasch-dim geschickt. Warum?“

„Zuerst will ich dir erklären, warum ich mit Thorgren und Angulfin unterwegs bin“, antwortete Zihanor. „Thorgren kam gestern an unseren Hof und brachte sowohl schlechte Nachrichten als auch einen bedenkenswerten Vorschlag seines Königs mit. Es scheint sich ein Krieg anzubahnen, der auch uns in Gefahr bringen könnte. Dir sind sicher noch die Legenden von Kryonos bekannt, die in unserem Volk bis heute überdauert haben?“

„Sehr entfernt“, meinte Gorangor. „Und ich habe mich auch nie allzu sehr dafür interessiert. Schließlich liegt seine Zeit weit zurück. Ich nehme an, du erwähnst seinen Namen nicht ohne Grund.“

„So ist es“, bestätigte Zihanor. „Es sieht so aus, als würde er wieder aus der Versenkung auftauchen. Dafür gibt es deutliche Hinweise, wie uns nicht nur von Thorgren, sondern auch vom Magier Melbart, einem Ordensbruder Angulfins, geschildert wurde. Und einer davon ist das immer häufigere Auftreten von Bestien. Deshalb meine Frage nach irgendwelchen außergewöhnlichen Vorkommnissen.“

„Dann kündigen sich wohl schlechte Zeiten an“, prophezeite Gorangor finster. „Trotzdem, bisher sind uns keine Bestien oder andere offensichtlichen Späher unter die Augen gekommen. Seit Tagen seid ihr die ersten Reisenden, die dieses Fort erreichen. Gestern kam zwar ein Versorgungstrupp aus Schibrasch-dim zurück, aber auch diesen Kriegern war nichts Ungewöhnliches begegnet. Ist die Lage sehr ernst?“

„Um das herauszufinden, sind wir unter anderem unterwegs“, sagte Zihanor. „Wir werden versuchen, mehr über den Feind in Erfahrung zu bringen.“

Gorangor blickte sie zweifelnd an.

„Verzeih´ meine Bedenken, aber wenn ich mir vorstelle, dass nur ihr drei ins Namenlose Land reiten wollt, dann wird mir etwas unwohl. Und ich nehme an, dort werdet ihr hinmüssen, um etwas zu erfahren, wenn mein geringes Wissen über diesen Kryonos ausreicht. Glaubt ihr wirklich, dort viel erreichen zu können? Wieweit hofft ihr zu kommen?“

„Nun, weit genug“, antwortete dieses Mal Thorgren. „Doch macht Euch nicht zu viele Sorgen um den Sohn Eures Königs. Wir werden nicht allein gehen. Wir sind auf dem Weg zu einem festgelegten Ort, um mit noch einigen anderen Kriegern zusammenzutreffen. In diesem Augenblick sind viele Kundschafter der Seenländer und Namurer auf dem Weg in den Norden und Osten. Wir sind nur ein Trupp von vielen. Ihr seht, es geschehen bereits Dinge in dieser Auseinandersetzung, von denen Ihr noch nichts wisst.“

„Trotzdem, wenn Zihanor und ein Magier Euch begleiten, dann kann euer Spähtrupp kein gewöhnlicher sein, vermute ich“, stellte der Hauptmann findig fest.

„Sehr gut vermutet“, erwiderte Angulfin. „Wir haben tatsächlich einen besonderen Auftrag.“

Es entstand eine kurze Pause und Gorangor merkte, dass Angulfin nicht die Absicht hatte, ihn näher zu erklären.

„Aha, ich verstehe“, meinte er, obwohl das natürlich nicht der Fall war. „Und geheim ist er sicher auch, schätze ich. Nun, dann werde ich euch auch nicht weiter ausfragen. Doch rate ich euch, vorsichtig zu sein. Das Namenlose Land ist berüchtigt. Und das ist ja kein Geheimnis. Welches ist nun der Vorschlag von Thorgren, von dem du gesprochen hast, Zihanor?“

„Nun, wie gesagt, er stammt nicht von ihm selbst, sondern von König Harismund. Thorgren hat ihn lediglich überbracht, aber ich weiß, dass er ihn unterstützt“, begann Zihanor. „Harismund hat meinem Vater ein Bündnis vorgeschlagen. Ein Bündnis zwischen unseren beiden Völkern. Nur wenige wissen bisher davon und du gehörst mit zu den Ersten.“

„Ein Bündnis? Zwischen dem Seenland und Lysidien?“, fragte er ungläubig. „Das kann ich mir schlecht vorstellen. Hatten wir uns nicht aus gutem Grund von ihnen ferngehalten. Stehen die Dinge etwa schon so schlecht? Ist dein Vater etwa darauf eingegangen?“

„Zugegeben, viele werden Eure Bedenken teilen, nicht nur in Eurem Land“, meinte Thorgren. „Und der Zeitpunkt für diesen Wunsch meines Königs könnte ungünstiger nicht sein. Wer wird nicht vermuten, dass wir ein Bündnis nur anstreben, weil uns die Kriegsgefahr über den Kopf zu wachsen droht. Doch tatsächlich hat das eine nur mittelbar mit dem anderen zu tun. Glaubt es mir.“

„Thorgren sagt die Wahrheit“, versuchte Zihanor die Zweifel des Befehlshabers der Festung zu zerstreuen. „Es sind viele Gründe genannt worden, und auch ich bin sicher, dass Harismunds Ansinnen Vorteile für uns bringen wird. Es werden bessere Zeiten anbrechen. Doch deine, jetzt noch verständliche Haltung zeigt, welche Widerstände im eigenen Land wir noch zu überwinden haben werden.“

„Das kommt sehr plötzlich“, meinte Gorangor nachdenklich und nach einigem Zögern fuhr er fort. „Vielleicht habt ihr aber Recht. Schließlich wissen wir hier draußen nicht viel von dem, was sich in der Welt abspielt. Aber es ist schon ein merkwürdiges Zusammentreffen zwischen König Harismunds Vorschlag und der wachsenden Gefahr durch diesen Kryonos.“

„Genau dieser Sachverhalt wird sicher noch eine Bürde für das Bündnis werden“, stellte Angulfin fest. Oder es vielleicht auch erleichtern, fügte er in Gedanken hinzu. „Doch Ihr werdet sehen, es gibt keine andere Möglichkeit.“

„Tja, das bleibt abzuwarten“, sagte Gorangor unentschlossen. „Ist das der Grund, warum du an diesem Ritt teilnimmst, Zihanor?“

Dieser nickte und meinte: „Einer der Gründe. Und ich bitte dich, über das, was du jetzt erfahren hast, vorerst Stillschweigen zu wahren. Aber jetzt weißt du, warum demnächst Befehle an euch ergehen könnten, die auf einen Krieg hindeuten. Ich wollte ehrlich zu dir sein.“

„Dafür danke ich dir“, erwiderte Gorangor.

Gorangor war durchaus kein Dummkopf, doch sein bisheriges Leben war geprägt von einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Seenland und den Menschen dort. Deshalb dauerte es noch einige Zeit, bis er seinen Widerstand aufgeben konnte. Und das geschah schließlich bei einigen Ereignissen in naher Zukunft, die in keinen Berichten erwähnt wurden.

Nach diesem Gespräch, das noch einige Zeit fortgeführt wurde, nahm Zihanor seine Pflicht als Sohn König Zethimers wahr und begutachtete den Zustand der Festung und der Männer dort. Thorgren und Angulfin erhielten von Gorangor die Erlaubnis, die Wachtürme zu erklimmen. Noch war es nicht zu dunkel, und sie wollten in der milden Abendluft noch einmal die Aussicht erkunden. Am nächsten Tag mussten sie in aller Frühe wieder aufbrechen und hatten dann keine Gelegenheit mehr dazu.

Von der Höhe des Wachturmes bot sich ihnen ein großartiges Schauspiel. Der Turm überragte die Bäume der Umgebung, und Thorgren und Angulfin konnten weit über die geschwungene Landschaft blicken, zumindest so weit, wie es die Lichtverhältnisse zuließen. Während Astur schon vor einiger Zeit untergegangen und der westliche Horizont bereits in tiefes Blau getaucht war, leuchtete der östliche Himmel noch feuerrot. Pelins gelbe Scheibe war erst vor wenigen Augenblicken versunken. Genau über ihren Köpfen vereinigten sich das Blau und das Rot des Himmels zu einem mystischen Violett, das langsam in Richtung Osten wanderte.

Thorgren und Angulfin standen hinter den Zinnen und atmeten tief durch. Die kühle Abendluft war eine willkommene Abwechslung zu der Hitze des vergangenen Tages. Plötzlich berührte Thorgren Angulfin, der gerade in eine andere Richtung geblickt hatte, am Arm und rief: „Schau, Angulfin, dort im Osten, das Wetterleuchten!“

Auch einige Wachen waren jetzt auf die seltsame Erscheinung aufmerksam geworden. Fern und unter einer dünnen Wolkendecke flackerten heftig und ununterbrochen gewaltige Blitze auf, die den östlichen Himmel in ein blutrotes Wolkenmeer tauchten. Selbst der Gipfel des Rabenberges leuchtete unstet in ihrem Widerschein. Vor diesem Hintergrund glaubten die Männer zwei kleine, dunkle Schatten eilig über den Himmel ziehen zu sehen. Doch sie waren so schnell verschwunden, wie sie erschienen waren. Wenig später endete das rätselhafte Schauspiel schlagartig mit einem letzten, großen Aufflackern. Stumm sahen Thorgren, Angulfin und die Wachen noch eine Weile in die Richtung in der Erwartung neuer Erscheinungen. Doch es wiederholte sich nicht.

„Habt ihr so etwas schon einmal gesehen?“, wandte sich der Magier an die Krieger.

„Nein, noch niemals“, erhielt er zur Antwort. „Andererseits – einige unserer Wachen berichteten vor einigen Tagen von einer ähnlichen Beobachtung. Unwetter sind in den Sommermonaten nicht selten, doch eine derartige Erscheinung war uns bisher unbekannt. Wisst Ihr, was das eben war?“

„Hm, es war auf jeden Fall ungewöhnlich“, meinte Angulfin, gab aber keine weitere Erklärung ab. „Thorgren, lass uns wieder hinuntergehen. Ich glaube nicht, dass noch irgendetwas geschehen wird.“

Er hatte es mit einem Mal eilig, den Turm zu verlassen. Als sie im Innenhof standen, hielt Thorgren Angulfin am Ärmel fest.

„Habe ich mir das nur eingebildet oder hast du auch die beiden Schatten gesehen?“, fragte er. „Sie schienen entgegen den ziehenden Wolken zu fliegen.“

„Du hast ein gutes Auge“, lobte Angulfin. „Ja, es stimmt, es waren zwei Schatten, die in den Norden flogen. Es waren die Schatten von zwei Nebeldrachen. Ich bin sicher, dieses Spektakel hat Kryonos veranstaltet, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was er damit bezweckt hat.“

„Du meinst, es waren Kimocs, Schwarze Geister?“

„Ja, ich bin sicher“, bestätigte Angulfin. „Hoffen wir, dass sie noch nichts Bestimmtes suchen, obwohl Kryonos inzwischen sicher über die Verteidigungsanstrengungen der Seenländer und Namurer Bescheid weiß.“

Thorgren kam ein Gedanke, der ihm nicht sehr verlockend erschien.

„Hältst du es für möglich, dass er seine Späher gar nicht ausgeschickt hat, um feindliche Krieger zu beobachten, sondern um etwas ganz anderes zu suchen?“, fragte er. „Vielleicht das Achôn-Tharén? Und eignen sich Geister nicht vielleicht sogar besser dazu, als irdische Wesen?“

„Kannst du etwa Gedanken lesen?“, fragte Angulfin. „Ich habe nämlich auch gerade an diese Möglichkeit gedacht, denn ich glaube nicht, dass er in dieser Richtung untätig ist, zumal er die Nähe des Achôn-Tharéns spürt. Lass uns nun zu Zihanor und Gorangor gehen.“

Sie trafen vor dem Eingang zum Dienstzimmer des Festungsführers auf die beiden Lysidier. Beide standen in dem flackernden Licht von zwei Fackeln, die in ehernen Haltern zu beiden Seiten der Tür in Kopfhöhe angebracht waren, und unterhielten sich. Zihanor war zufrieden mit dem, wie Hauptmann Gorangor die Festung führte. Doch im Augenblick sprachen sie ebenfalls über die Leuchterscheinung am Himmel, die auch ihnen auf ihrem Rundgang nicht entgangen war. Unbemerkt von Thorgren und Angulfin hatten sie am anderen Ende der Mauer gestanden und dem Schauspiel zugesehen.

„Was haltet Ihr von der Leuchterscheinung, Angulfin?“, fragte Gorangor. „Habt Ihr dafür eine Erklärung? Mir ist so etwas noch nie unter die Augen gekommen, und wie ich eben erfahren habe, Zihanor auch nicht.“

„Auf keinen Fall war es ein Unwetter“, erklärte Angulfin. „So viel ist sicher. Lasst uns drinnen weiterreden.“

Gemeinsam betraten sie den Raum und schlossen die Tür. Sie waren wieder unter sich.

„Ich will ehrlich sein“, begann Angulfin. „Die Richtung und Heftigkeit der Erscheinung lässt auf Kryonos schließen. Gorangor, Ihr seht jetzt selbst, dass seine Macht wieder an Stärke gewinnt. Ihr habt einen kleinen Vorgeschmack auf unseren Gegner erhalten.“

„Na ja, beeindruckend war diese Vorstellung“, fand Gorangor, aber aus seinen Worten klang noch nicht allzu viel Achtung vor Kryonos. „Ich verstehe nur nicht, warum er einen Feldzug planen sollte und gegen wen. Wer hat ihm einen Grund dafür gegeben?“

„Einen Grund?“, fragte Angulfin mit einem bitteren Lächeln. „Einen Grund braucht er nicht. Mir scheint, Euch ist noch nicht klar, mit welchem Gegner wir es zu tun haben. Kryonos ist die Verkörperung des Bösen. Wo immer er auftaucht, und wann immer er die Macht dazu hat, überzieht er die Völker mit Krieg, vernichtet und unterjocht sie.“

„Ihr hört Euch an, als wäre Kryonos kein irdisches Wesen und nicht ursprünglich von Erdos, denn hier hat er noch nicht viel angerichtet, soweit ich weiß“, bemerkte Gorangor. „Was wisst Ihr über ihn?“

„Einiges. Und Ihr habt Recht mit Eurer Vermutung. Kryonos ist viel mehr. Doch darüber will ich hier nicht sprechen, denn so gefährlich er ist, so rätselhaft und unverständlich ist er für die Sterblichen“, sagte Angulfin. „So, wie die Dinge liegen, befindet Ihr Euch hier aber nicht in unmittelbarer Gefahr. Trotzdem möchte ich Euch bitten, die Augen aufzuhalten. Ihr kennt Bestien? Gut. Diese Wesen sowie möglicherweise Felsgnome und Uranen sind die Geschöpfe beziehungsweise die Verbündeten von Kryonos. Zögert nicht, sie zu bekämpfen, wenn ihr sie sicher erkannt habt.“

„Und schickt sofort Meldung an meinen Vater“, ergänzte Zihanor.

„Ihr meint es wirklich ernst, nicht wahr?“, stellte Gorangor fest. „Gut, wir werden die Augen offenhalten.“

„Danke. Und denkt daran, es ist auch zu eurer Sicherheit“, meinte Zihanor.

„Ja, das ist wohl so. Doch lasst uns nun zu etwas Angenehmeren kommen. Ich glaube, das Abendessen ist inzwischen aufgetragen. Es ist zwar einfach, aber ich hoffe, willkommen nach eurem anstrengenden Ritt heute.“

Das war einmal eine gute Nachricht, und für einige Zeit vergaßen sie ihre Sorgen. Trotz allem verlief das Essen in gelöster Runde, und Zihanor und Gorangor, die seit ihrer Kindheit eine enge Freundschaft verband, gaben einige ihrer aufregendsten Abenteuer und Streiche zum Besten. Die Tatsache ihrer Freundschaft war für Zihanor vor allem der Grund dafür gewesen, warum er Gorangor verhältnismäßig ausführlich über die Dinge unterrichtet hatte, die vor sich gingen. Kryonos und die von ihm ausgehende Gefahr jedoch wurden an diesem Abend nicht mehr erwähnt. Und die drei Gäste erklärten mit keinem Wort, welcher Art ihre »Geschäfte«, wie Zihanor es genannt hatte, wirklich waren. Es wurde jedoch kein sehr später Abend für die Gefährten. In der Gewissheit eines frühen Aufbruchs am nächsten Morgen gingen sie bald schlafen.

Noch vor der Morgendämmerung hatten sie ihre Pferde wieder bepackt und waren fertig zur Abreise. Das Tor war bereits geöffnet.

„Lebe wohl, Zihanor, und pass auf dich auf“, verabschiedete sich Gorangor. „Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Auch euch anderen eine gute Reise, wohin immer sie euch führen wird.“

„Lebe auch du wohl und möge dein Bart noch lange wachsen und nicht grau werden“, sagte Zihanor lachend.

Dann wendeten die drei Gefährten ihre Pferde und ließen das Grenzfort hinter sich. Im Gegensatz zur Festung an der Hauptstraße nach Schibrasch-dim, setzte sich hier der Weg nicht geradeaus durch das Bauwerk fort. So mussten sie es durch das gleiche Tor wieder verlassen und einen Bogen um die Außenmauern machen, um den Grenzwall durch eine kleine Bresche zu durchqueren. Dann befanden sie sich auf dem Gebiet des Seenlandes. Es gab auf dieser Seite jedoch keine ständigen Wachen Harismunds und ebenso wenig einen Weg, der in das Seenland hineinführte. Das Grenzfort der Lysidier lag wirklich in einer vollkommen abgeschiedenen Gegend, die nicht einmal die Seenländer für würdig hielten, sie zu überwachen, und wenn man es sich recht überlegt, ist es nur sehr schwer verständlich, warum es überhaupt bis in jene Tage bemannt war. Aber es erklärt, warum es niemand für nötig gehalten hatte, die Bresche zu schließen.

Die Rache des Kryonos

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