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6. Schwierige Verhandlungen
ОглавлениеIn Begleitung der kleinen Kriegereskorte verließ Thorgren die Festung durch das hintere Tor in das Landesinnere. Kurze Zeit später durchquerten sie eine Senke, die vor den Grenzanlagen nicht einzusehen gewesen war. Der Weg führte entlang eines Sees, den sie nach einer halben Umrundung hinter sich ließen, als die Straße den nächsten Hügel erklomm.
Schweigsam ritten sie auf einer gut ausgebauten Straße. Die beiden Krieger hatten Thorgren in ihre Mitte genommen. Sie hielten einen langsamen Galopp. Das Land war gefällig. Die Straße wand sich zwischen manchen Hügeln hindurch. Überall sah er die bekannten Steinwälle, die die Weideflächen begrenzten und für dieses Land so bezeichnend waren. Hier und dort standen kleine Wäldchen und in manchen Senken spiegelten kleine Gewässer silbrig das Licht der Sonnen.
Je weiter sie sich von der Grenze entfernten, desto häufiger trafen sie auf Bauernhöfe. Selten kamen sie durch kleine Orte; und Städte waren noch gar nicht aufgetaucht. Einige Male überwand die Straße Flussläufe über breite Brücken, teils aus Holz, teils aus Stein, von denen das größte Gewässer die Dagau war, die durch unzählige Schleifen aus den westlichen Bergen durch Schibrasch-dim bis in die Schwarzen Sümpfe führte. Da es die Zeit der Ernte war, arbeiteten vielerorts Bauern mit ihren Knechten auf den Feldern. Der Anblick ähnelte in auffälliger Weise denjenigen, die in diesen Wochen viele Gegenden des Seenlandes boten.
Schließlich bog die Straße in einen dichten Wald ein, der Thorgren ungewohnt finster vorkam und ihm das Atmen zu erschweren schien. Dieser Eindruck wurde durch einen schwachen Hauch von Schwefel verstärkt. Das dichte Dach der Baumwipfel ließ kaum Sonnenlicht hindurch, und das wenige, das den Waldboden erreichte, war grau, grün und fahl und schien die Lebewesen, die sich in ihm aufhielten, zu ersticken. Dünne, scheinbar endlose Stämme reckten sich gegen den Himmel und wurden von zahllosen Schlingpflanzen umschlungen. Die Luft war unangenehm kühl und feucht, fast modrig. Solange Thorgren durch den Wald ritt, schien ein ständiger, feiner Regen von den Baumkronen auf sie niederzugehen, obwohl der Himmel klar war, bevor sie in den Wald eindrangen, und Thorgren keine einzige Regenwolke gesehen hatte. Neben bekannten Vogelstimmen hallten merkwürdige, fremde Tierschreie durch den Wald, die von überall herzukommen schienen und eine eindeutige Richtung, aus der sie kamen, nicht auszumachen war.
Doch kaum eine Stunde später öffnete sich der Wald in eine weite Ebene. Vor ihnen lag Schibrasch-dim, die Hauptstadt Lysidiens mit dem Königspalast Zethimers. In den fernen Hügeln, die die Ebene umlagerten, sah Thorgren einige Dampf- und Rauchfahnen emporsteigen. Ähnliche Erscheinungen waren ihm unterwegs bereits einige Male aufgefallen, besonders dadurch, dass sie die Reiter mit einem unangenehmen Geruch nach faulen Eiern bedacht hatten. Jetzt war die Luft erfüllt von einem kräftigeren Geruch von Schwefel. Es waren die berühmten heißen Quellen. Sie und die Vulkane boten in fremden Ländern reichlich Stoff für die wildesten Gerüchte und Sagen über geheimnisvolle unterirdische Lebewesen.
Schibrasch-dim ähnelte mit seinen weiten Hauptstraßen, von denen sich eine Unzahl von Gassen in die Wohngebiete abzweigte, in mancher Hinsicht der grünländischen Hauptstadt. In seiner Ausdehnung war diese Stadt sogar noch größer als Weißanger. Sie bedeckte einen Großteil der Ebene und ihre Vororte erstreckten sich bis in die flachen Hügel, die sie umgaben.
Die Häuser waren niedrig und sorgfältig errichtet und durchwegs in weißer Farbe gehalten. Eine hohe und stark befestigte Mauer umfasste die Stadt. Sie war gekrönt von Zinnen und besaß in gleichmäßigen Abständen kleine Wehr- und Beobachtungstürme. Wie die Häuser der Stadt stand auch die Mauer ganz in Weiß da. In jeder Himmelsrichtung öffnete sich ein großes Tor, das jeweils von zwei Wachtürmen und einem verbindenden Wehrgang eingerahmt wurde. Die Torflügel bestanden aus schwarzem Eisen und konnten nur durch ein verstecktes und undurchschaubares Hebel- und Rollenwerk geöffnet und geschlossen werden, wenn nötig sogar erstaunlich schnell. Die Tore wie auch die ganze Stadtmauer galten bei den Bewohnern als unbezwingbar, und obwohl Schibrasch-dim in der Geschichte des Landes einige Male belagert worden war, konnte die Stadt mit Stolz von sich behaupten, tatsächlich noch niemals erobert worden zu sein. Kein Zweifel, Schibrasch-dim war keine arme Stadt.
Das Prachtvollste war aber die Burg des Königs. Sie lag rötlich glänzend in den Abendsonnen vor ihnen. Mitten in der Stadt auf einen flachen Hügel erbaut, wurde sie von drei kreisförmigen Mauern umgeben. Das Hauptgebäude war der mächtige, viereckige Turm in der Mitte, von dem in jede Himmelsrichtung ein großzügig angelegter Flügel fortführte, dessen Abschluss wiederum ein kleiner Turm bildete. Auf jedem zinnenbewehrten Burgturm wehte das Banner des Königs. Großartig und Ehrfurcht gebietend breitete Schibrasch-dim sich vor Thorgren aus.
Sie ritten die Straße in das flache Tal hinab. Wenig später standen sie vor dem ersten der vier Osttore, die sie durchqueren mussten, um bis zum König zu gelangen. Nachdem die Eskorte sich bei dem Wachhabenden gemeldet hatte, wurden sie von einem weiteren Krieger durch die zwei Tore der beiden äußeren Palastmauern bis zum großen Tor der inneren Mauer geleitet, das offenstand. Sie meldeten sich bei der Torwache an, und nachdem sie Thorgren in die Obhut des Hofmarschalls übergeben hatten, verließen die drei Soldaten ihn wieder. Seine Waffen und Mondblesse wurden vorläufig von der Wache in Empfang genommen.
Der Hofmarschall stellte sich Thorgren als Omaron vor. Er war ein Mann mittleren Alters, was bei den Lysidiern etwa einhundert Jahre entsprach. Neben dem üblichen Vollbart zierte eine Art Turban aus einem hellgrünen Stoff seinen Kopf. Er trug eine einfache, aber tadellose weinrote Robe ohne erkennbare Rang- oder Ehrenabzeichen.
Thorgren und Omaron gingen gemeinsam über den Innenhof auf den Mittelturm zu, den sie durch eine kleine Tür betraten. Thorgren bat seinen Begleiter um die Gelegenheit, sich erfrischen und seine Kleider wechseln zu dürfen. Er wollte dem König nicht gezeichnet von einer mehrtägigen, anstrengenden Reise gegenübertreten.
„Wie Ihr wünscht“, sagte Omaron unverbindlich. „Ich führe Euch zu Eurer Kammer. Dort steht Euch Wasser zum Waschen zur Verfügung. Ich selbst werde Euch dort wieder abholen und in der Zwischenzeit Eure Ankunft dem König melden.“
Nachdem Omaron Thorgren durch einige dunkle, enge Flure geführt hatte, betraten sie nun einen lichteren Korridor. Nach wenigen Schritten erreichten sie eine Tür, hinter der der Raum lag, der dem Gast zugedacht war. Omaron verabschiedete sich für kurze Zeit.
Das Zimmer war groß und wohnlich eingerichtet. Zwei Fenster, mit gelblichem Glas ausgestattet, gaben den Blick auf den Innenhof frei und gestatteten den Eintritt von ausreichend Helligkeit, um das Gemach von der letzten Abendsonne in ein warmes, goldenes Licht zu tauchen. Die Wände waren mit bestickten Tüchern abgehängt, und neben einem breiten Bett besaß das Zimmer einen großen Wandschrank, einen Tisch mit zwei Stühlen sowie einen Waschtisch, auf dem bereits eine Schale mit klarem Wasser stand, daneben lag ein Stück Seife. Dahinter an der Wand hing ein rechteckiger, makelloser Spiegel, eingerahmt von verzierten Holzleisten. Zumindest dieser Raum verhieß einen angenehmen Aufenthalt.
Thorgren legte sein Reisegepäck auf den Tisch und nahm ein frisches Gewand heraus, das der Bedeutung seines Besuches gerecht wurde. Nicht lange, nachdem er sich gewaschen und umgekleidet hatte, klopfte es auch schon an der Tür und Omaron trat auf seine Einladung hin ein.
„Der König ist unterrichtet und bereit, Euch zu empfangen“, klärte er Thorgren auf. „Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.“
Inzwischen hatte Thorgren bemerkt, dass Omaron ein durchaus kultivierter Lysidier war und damit nicht unbedingt dem Ruf entsprach, den dieses Volk unter den Seenländern genoss.
Wieder betraten sie den Korridor und folgten ihm in die gleiche Richtung, in die sie vorher gegangen waren. Er machte zwei, drei Biegungen und endete vor einer schweren Tür aus dunklem, poliertem Eichenholz. Omaron öffnete sie und beide betraten einen großzügig ausgestatteten Raum von etwa der doppelten Größe von Thorgrens Schlafgemach.
„Wir befinden uns hier im kleinen Empfangssaal“, erklärte Omaron. „Die Speisen auf dem Tisch stehen zu Eurer Verfügung. Nach der langen Reise müsst Ihr hungrig sein. Der König wird Euch gleich empfangen. Entschuldigt mich kurz.“
Omaron verließ den Raum durch die gegenüberliegende Tür. Thorgren sah sich um. Das Zimmer war recht groß und kam einem Saal tatsächlich nahe. Nur auf der einen Seite hatte es Fenster, durch die Thorgren im letzten Tageslicht eine gute Aussicht über die drei Ringmauern um die Burg und einen Teil der Stadt mit der großen Wehrmauer hatte. Fern am Horizont erhob sich drohend der gewaltige Kegel eines Vulkans. Im Augenblick scheinbar erloschen, aber jederzeit bereit, seinen Inhalt erneut auszuspeien.
Thorgren wandte sich dem Essen zu. Er trank einen Becher Milch und nahm den gebratenen Schenkel eines ihm unbekannten Tieres. Er schmeckte vorzüglich. Gegenüber der Fensterseite befand sich ein Kamin, eingebaut in die Wand. Es brannte an diesem Abend allerdings kein Feuer darin. Über dem Kamin hingen Bilder von vermutlich früheren Herrschern oder den Mitgliedern der Königsfamilie. Wie sich einige Sitten in allen Burgen und Schlössern doch gleichen, dachte Thorgren. Er nahm sich einen Apfel und begann, den Raum zu erkunden.
Er konnte merkwürdige Jagdtrophäen bewundern. Einige Tiere kannte er. Da hingen die Köpfe von Wildschweinen, Hirschen und Rehen. Auch eine Art Elch und ein Bär befanden sich dort. Daneben sah er aber auch Unbekanntes. Ein merkwürdiger Schädel war darunter, der große Ähnlichkeit mit dem eines Drachens hatte, so wie Thorgren sie aus manchen Legenden kannte. Soweit er wusste, gab es östlich der Grauen Berge keine Drachen mehr, und ihm selbst war nie einer begegnet. Seine Zähne wirkten auch jetzt noch Furcht einflößend. Doch am beeindruckendsten war die mit zwei Dornen bewehrte Zunge. Thorgren stellte sie sich als eine schreckliche Waffe vor. Ein Stück weiter hing der Kopf einer Schlange. Seiner Größe nach zu urteilen, musste das Tier wenigstens eine Länge von zehn Schritten gehabt haben. Aus der glänzenden, grauen Haut des Schädels blickten ihn zwei starre, ebenfalls graue Augen an, die trotzdem auf geheimnisvolle Weise lebendig wirkten. Die Trophäe war so aufgehängt, dass zwei mächtige Giftzähne erkennbar waren und dem Betrachter das bedrohliche Gefühl vermittelten, auch jetzt noch von mörderischer Gefährlichkeit zu sein.
Thorgren ging einige Schritte weiter. Plötzlich stockte ihm der Atem und das Stück Apfel, das er gerade abgebissen hatte, blieb ihm fast im Hals stecken. Unauffällig hinter einer Säule hing der Kopf eines – Elfen. Das war das Demütigendste und Unehrenhafteste, was einem solchen Wesen widerfahren konnte. Thorgren wusste zwar, dass den Lysidiern einige grausame Wesenszüge nachgesagt wurden, aber mit einer solchen Abscheulichkeit an diesem Ort hatte er nicht gerechnet. Doch schnell gewann er seine Selbstbeherrschung zurück. Er war ein Krieger und hatte manches Schreckliche gesehen und erlebt.
„Gefällt Euch diese kleine Trophäensammlung?“, hörte er eine Stimme hinter sich fragen. Thorgren drehte sich um und blickte auf Omaron. Er stand mitten im Raum und lächelte. „Ich bin überzeugt, Ihr seid von einigen Stücken beeindruckt“, fuhr Omaron fort und ein gewisser Stolz schwang in seiner Stimme. „Dieser Drache hier, kaum älter als ein Jahr, hat König Ziramon, den Vater unseres jetzigen Herrschers, acht seiner Männer und einen Arm gekostet. Oder die Schlange dort. Sie entstieg eines Morgens der Dagau und griff die Torwachen bei der Stadtmauer an. Bis dahin hatten wir noch nie ein derartig großes Tier dieser Art gesehen.“
Thorgren deutete auf den Kopf des Elfen und wollte gerade seine Meinung dazu äußern, als ihm der Hofmarschall zuvorkam.
„Ich ahne, was Ihr sagen wollt, aber haltet uns nicht für so barbarisch und grausam, dass wir unsere Feinde entehren. Wir bringen mächtigen Gegnern, die in ehrlichem Kampf gefallen sind, eine große Achtung entgegen. Dieser Kopf hat hier schon einige Jahrhunderte seinen Platz. Er stammt aus einer wilderen Zeit. Wir beseitigen traditionell keine Trophäen unserer Ahnen. Das würde wiederum unsere Ahnen entehren, was, wie Ihr sicher verstehen werdet, für uns schwerer wiegt. Dass Feinde als Trophäen dienten, kam allerdings äußerst selten vor, und dieser Elf muss ein besonderer Gegner gewesen sein. Tatsächlich ist aber nicht bekannt, wer er war. Meines Wissens sind aber niemals Seenländer in dieser Weise hergerichtet worden, wenn Euch das beruhigt. Und nun ist es an der Zeit, König Zethimer gegenüberzutreten.“
Thorgren konnte nur mit Mühe seinen Unwillen verbergen, doch nun galt es, Wichtigeres zu besprechen. Er hoffte, diesen Raum nicht wieder betreten zu müssen. Die Behauptung Omarons, dass Seenländer von dem Schicksal, als Trophäe zu enden, angeblich verschont geblieben waren, beruhigte Thorgren keineswegs. Wie konnte er sich dessen sicher sein? Und es bedeutete wohl auch, dass sie von den Lysidiern nicht für mächtige Gegner gehalten wurden, was ihn mit einem gewissen Verdruss erfüllte.
Auf dem Weg zum König stellte er beiläufig die Frage nach Angulfin. Omaron sah ihn überrascht an: „Ihr kennt ihn? Ja, der Magier ist hier. Ihr werdet ihm gleich begegnen.“
Sie näherten sich schließlich einer doppelflügeligen Eichentür, vor der zwei waffenstarrende Wachen standen. Jetzt spürte Thorgren, wie sich eine gewisse Unruhe in ihm breitmachte. Die Tür wurde nach innen geöffnet und ein riesiger Thronsaal tat sich vor ihnen auf. Ganz am anderen Ende, auf einem erhabenen Podest, saß Zethimer in einem gewaltigen Sessel. Um ihn herum stand eine kleinere Gruppe von Beratern und, wie es aussah, einige hochrangige Heerführer.
Der Thronsaal war lang, und zu beiden Seiten waren hohe, schmale Fenster mit ebenfalls goldgetönten Glasscheiben in die Mauer eingelassen. In diesen Abendstunden fiel kaum noch Licht herein. Die Halle musste fast einen ganzen Flügel der Burg in Anspruch nehmen. Zahlreiche Bildhauereien aus Marmor und Stuckarbeiten an der Decke verzierten den Saal. Vor den nackten Wänden hingen Teppiche, in die Geschehen eingewoben waren, von denen Thorgren annahm, dass sie sich im Laufe der Geschichte des Königshauses zugetragen hatten. Doch er ließ sich davon nicht ablenken und schritt mit erhobenem Haupt und den Blick nach vorn gerichtet auf den König zu. Es gab keine Tische und Sitzgelegenheiten. Die Halle war fast leer, doch der Boden war ausgelegt mit einem riesigen Teppich, der die Schritte der Besucher dämpfte. In respektvollem Abstand zum Thron blieben Thorgren und Omaron stehen und verneigten sich.
„Der Abgesandte des Königs Harismund, Seneschall Thorgren von Hedau, Herr“, stellte der Hofmarschall den Besucher vor.
Der König musterte ihn schweigend und mit ernstem Gesicht. Thorgren spürte, wie er versuchte, seine Gedanken zu erraten. Thorgren wartete, bis der König das Wort ergriff. Dieses Verhalten gebot die Höflichkeit. Seine Unruhe wuchs.
„So, Ihr seid also den weiten Weg von Thorafjord hierhergekommen, um mit mir zu verhandeln, nehme ich an“, stellte Zethimer mit einer tiefen, strengen Stimme, die eines Herrschers würdig war, sachlich und ohne Umschweife fest. „Ein Freundschaftsbesuch ohne tieferen Grund wird es wohl nicht sein. Dann lasst einmal hören, was es für König Harismund so Wichtiges gibt, das er seinem alten Feind mitteilen möchte.“
Thorgren blickte in die listigen, grimmigen Augen des alten Königs. Er wusste, dass er klug vorgehen musste, um etwas zu erreichen. Er hatte einen Herrscher vor sich, der in langer Regierungszeit Schläue, Weisheit und Bedachtsamkeit erworben hatte – und bei Bedarf eine ebensolche Entschlossenheit und auch Grausamkeit erwarten ließ.
„Zunächst möchte ich Euch die Grüße meines Königs übermitteln und Euch versichern, dass er Euch nicht als seinen Feind ansieht. Er bedauert, was damals geschehen ist und hält es für an der Zeit, das Verhältnis zwischen unseren beiden Völkern zu verbessern. Geschehenes lässt sich nicht ungeschehen machen. Wenn auch schlimme Dinge darunter waren, sollten sie unser Denken und Handeln doch nicht für alle Zeit beeinträchtigen“, begann Thorgren.
„Das sind gewählte Worte“, meinte Zethimer. „Sehen wir, was Ihr noch zu sagen habt.“
„Mein König hat den Wunsch, mit Euch ein Übereinkommen zu treffen, zum Wohle unserer beiden Völker“, erklärte Thorgren weiter. „Er weiß, dass der Krieg, der vor nicht langer Zeit zwischen unseren Völkern herrschte, eine schwere Bürde für ein neues Vertrauen zwischen unseren Ländern bedeutet. Es ist ihm sehr daran gelegen, diesen Zustand zu beenden. Er bietet Euch an, neue, weitgehende Handelsbeziehungen aufzunehmen. Ihr habt ein wohlhabendes Land und wir stehen Euch nicht nach. Es könnten sich fruchtbare Verbindungen ergeben, sofern Ihr ebenfalls bereit seid, Euer Land unserem zu öffnen. Natürlich wird es weiter Verhandlungen geben. Mein Besuch soll nur ein erster Schritt sein.“
König Zethimer sah Thorgren nachdenklich an. Ähnliche Gedanken waren auch ihm nicht fremd, doch hatte er noch keine Notwendigkeit zur Eile gesehen. Und auch jetzt war ihm noch nicht daran gelegen, überstürzte Zugeständnisse zu machen. Vorerst wollte er abwarten und seine Entscheidungen abwägen. Dass König Harismund auf ihn zuging, stärkte zwar seinen Standpunkt, aber er wollte hören, was dessen Abgesandter noch zu sagen hatte. König Zethimer lebte nicht am Ende der Welt, obwohl sein Reich im Westen an das Große Meer grenzte. Doch er unterhielt ein Netz von Kundschaftern, die ihn über die Ereignisse in den Nachbarländern auf dem Laufenden hielten. So war er gut über die Dinge unterrichtet, die geschahen oder sich anbahnten, und ihm war der drohende Schatten, der über Erdos heraufzog, nicht entgangen. Daher ahnte Zethimer, warum ihm König Harismunds Anliegen gerade jetzt vorgetragen wurde. Doch er wartete darauf, dass Harismunds Seneschall von selbst darauf zu sprechen kam.
„Eure Worte sind sorgfältig gewählt“, sagte der König. „Ich bin nicht abgeneigt, darüber nachzudenken. So viel könnt Ihr Eurem König schon einmal berichten. Doch für unbedachte Eile gibt es keinen Grund. Auch erscheint es mir, dass der Wunsch nach neuem Handel mit Lysidien nicht der einzige Anlass für Euren weiten Weg ist.“
Thorgren fühlte sich auf peinliche Weise durchschaut und überlegte, wie er den zweiten, aber drängenderen Grund seines Besuches dem König erklären konnte, denn Grund zur Eile gab es durchaus.
„Ihr habt Recht“, gab er schließlich unumwunden zu, denn es erschien ihm ehrlicher und damit erfolgversprechender, nicht um die unangenehmen Gründe seines Besuches herumzureden. „Meinen König beschäftigt eine Sorge, die ihn ebenfalls dazu veranlasst hat, mich zu diesem Zeitpunkt zu Euch zu schicken. Und es ist eine Sorge, die Euch genauso betreffen wird. Euer Einwand beweist, dass Ihr über die Geschehnisse, die Ursache für unsere Sorge sind, unterrichtet seid. Ich möchte ein wenig ausholen, wenn Ihr erlaubt. Vielleicht kann ich Euch über eine Entwicklung unterrichten, die Euch noch nicht bekannt ist. Sicher ist Euch noch der verheerende Krieg gegen Kryonos in Erinnerung, wenn er auch schon lange zurückliegt. Ich habe Unterlagen bei mir, die klar darauf hindeuten, dass sich durch ihn, den wir besiegt glaubten, neues Unheil ankündigt. Das Volk der Bestien ist Euch sicher bekannt. Lange Zeit regte es sich kaum, und wir konnten uns vor ihm sicher fühlen. Doch jetzt häufen sich die Hinweise darauf, dass sich etwas ändert. Die Bestien tauchen in letzter Zeit ungewöhnlich oft an unseren Grenzen im Norden und Osten auf. Ihre Kraft und Entschlossenheit hat zugenommen, und ihre Überfälle erscheinen geordneter, planvoller. Es gibt nur eine Macht, die Ursache für diese Entwicklung sein kann, und das ist Kryonos. Die vermehrten Vorstöße der Bestien halten wir für ein sicheres Anzeichen, dass Kryonos sich wieder erhebt. Ich habe einige Schriftstücke bei mir, die meine Aussage bestätigen.“
Thorgren zog eine Rolle aus seinem Umhang und übergab sie Omaron, der sie dem König weiterreichte. Sie enthielt mehrere beschriebene Blätter, die eigenhändig von König Harismund verfasst worden waren, und trug sein Siegel. Der König des Seenlandes schilderte darin die bedrohliche Lage und äußerte die Bitte um Beistand. Er versuchte mit deutlichen Worten, Zethimer davon zu überzeugen, dass die Gefahr, je größer sie werden würde, auch eine Gefahr für sein Reich darstellte. Nur in einem gemeinsamen Handeln bestand eine Aussicht, ihr siegreich zu begegnen, schloss Harismund.
Zethimer nahm die Rolle in Empfang, besah sich das Siegel und nachdem er von seiner Echtheit überzeugt war, öffnete er sie bedächtig. Als er alles gelesen hatte, rollte er die Blätter wieder zusammen, behielt sie aber noch in der Hand. Er sah Thorgren an.
„Nun, ich sehe, Euer König versteht sich wie Ihr auf kluge Worte“, sagte er. „Seine Vorschläge könnten die Neigung zu einer voreiligen Zustimmung begünstigen, aber auch den Verdacht erwecken, dass Eure anfängliche Rede eine Einleitung für dieses Anliegen war, um eine Entscheidung zu Euren Gunsten zu erleichtern.“
Thorgren und Harismund hatten befürchtet, dass der König so denken würde. Der Seneschall sagte: „Mein König hat mit Euren Vorbehalten gerechnet, doch er lässt Euch mitteilen, dass das eine nicht unmittelbar mit dem anderen zu tun hat. Einen Gesandten zu Euch zu schicken, beabsichtigte er schon seit geraumer Zeit, doch Widerstände am eigenen Hof hatten es bis jetzt verzögert und hätten es wohl auch noch länger getan, wenn sich die Dinge nicht so besorgniserregend entwickelt hätten. Die Wahrheit ist, dass diese Ereignisse also eher Harismunds Entschluss beschleunigt haben, Euch einen Botschafter zu schicken, als dass sie eure Entscheidungen beeinflussen sollten, obwohl wir hoffen, das will ich nicht verhehlen, dass Ihr sie zu gegebener Zeit berücksichtigen werdet. Diese Widerstände an seinem Hof sind auch der Grund, warum ich allein zu Euch kam und ohne eine Gefolgschaft. Nur wenige wissen um meine Reise. Eure Unterstützung im Kampf gegen Kryonos, der unvermeidlich erscheint, würde die Zustimmung gewisser Kreise an seinem Hof erleichtern. Auf diese Weise sind beide Ereignisse miteinander verbunden, wenn es auch ursprünglich so nicht absehbar war.“
„Trotzdem, mein Land liegt weit entfernt“, wandte der König ein. „Nur ein kleiner Teil grenzt an die Nördlichen Winterberge, von wo mir eine Gefahr drohen könnte. Und es wäre uns ein Leichtes, uns dort zu verteidigen, wenn Kryonos sich dazu entschlösse, auch uns anzugreifen. Nichts deutet aber darauf hin. Nicht einmal fremde Späher wurden bisher gesichtet, und glaubt mir, unser Wachnetz ist sehr eng. Warum also sollte ich ein Interesse daran haben, den Beginn einer möglichen friedlichen Beziehung mit einem Krieg für ein – nicht befreundetes – Land zu erkaufen, möglicherweise mit dem Verlust vieler meiner Krieger?“
„Weil Ihr ein kluger Herrscher seid“, sagte Thorgren. Dabei versuchte er zu vermeiden, dass es sich so anhörte, als wollte er dem König schmeicheln, oder gar spöttisch zu klingen. „Seht, dass unser Bündnis mit einem möglichen Krieg gegen einen gemeinsamen Gegner beginnt, ist ein unglücklicher Umstand“, gab Thorgren zu, „und fürwahr von uns nicht gewollt. Andererseits ist es so: Kryonos wird wahrscheinlich sehr stark werden. Stark genug, um die Völker, die östlich von Euch liegen, zu besiegen. Dann stündet Ihr plötzlich allein vor dieser Bedrohung, da wir als Verbündete nicht mehr existieren würden. Doch schließt Ihr Euch unserer Gemeinschaft an, dem Bündnis aus den Völkern der Elfen, der Namurer und der Seenländer, stünden unsere Aussichten zu bestehen erheblich besser. Vieles, was nach einem siegreichen Krieg folgte, könnte unseren beiden Völkern zum Vorteil sein.“
„Wie könnt Ihr so sicher sein, dass sich Kryonos zu alter Größe erhebt?“, fragte König Zethimer, der durchaus der Ansicht war, dass die Gründe, die Thorgren vorbrachte, vernünftig klangen.
„Nun, die Gefahr ist bereits größer geworden, als aus dem Schreiben meines Königs hervorgeht“, antwortete Thorgren. „Während meiner Reise zu Euch sind Ereignisse eingetreten, die noch nicht bekannt waren, als ich Harismunds Hof verließ. Ich erinnerte Euch bereits an den Großen Krieg gegen Kryonos vor über eintausend Jahren. Kryonos´ Schwarze Geister in Gestalt von Nebeldrachen, zahllose Bestien und unzählige Uranen-Söldner überzogen Erdos mit Krieg und Vernichtung und drohten, alle Völker auszulöschen. Mit Hilfe der Götter gelang es einer Schar verwegener Krieger, unter denen sich auch ein Lysidier befand, unter der Führung des Königs Merowinth über das Kepirgebirge und durch einen Teil des Namenlosen Landes bis in die Domgrotten des Verlorenen Berges zu gelangen, dorthin, wo bis heute Kryonos haust. Sie nahmen ihm das Achôn-Tharén, dessen Namen Ihr sicher bereits gehört habt, und damit auch seine Macht. Über dessen Verbleib ist allerdings nichts bekannt, nicht einmal gerüchteweise. Jedoch war er nun entmachtet und des Einflusses über seine Geisterdiener beraubt. Keiner von diesen Helden kehrte jemals wieder zurück. Eure wie unsere Sagen berichten von diesen Ereignissen.“
„Ja, es war ein furchtbarer Krieg, die damals geführt werden musste“, bestätigte Zethimer und nickte zustimmend.
Thorgren fuhr fort: „Es ist nicht lange her, da begannen die Bestien, und neuerdings mit der Unterstützung von Felsgnomen, unsere nördlichen und östlichen Grenzen unsicher zu machen.“
„Felsgnome, sagt Ihr?“, unterbrach ihn Zethimer. „Davon erwähnte Euer König nichts in seiner Nachricht. Das ist fürwahr besorgniserregend, wenn es stimmt.“
„Dafür kann ich mich verbürgen. Wir kennen den Grund aber noch nicht, denn eigentlich sind sich Zwerge und Bestien alles andere als freundlich gesonnen. Jedenfalls hätte niemand den Bestien ein solches offensichtlich geordnetes Handeln zugetraut, nachdem sie über Jahrhunderte nur so dahinvegetiert hatten. Doch nun weiß ich, was der Grund dafür ist. Auf meinem Weg zu Euch erfuhr ich aus einer zuverlässigen Quelle, dass Kryonos erneut erwacht, sehr wahrscheinlich wieder zu seiner alten Stärke kommt, zumindest aber alles unternehmen wird, um sie zurückzuerhalten, und zu unser aller Gefahr zu werden droht. Doch diese Tatsache war meinem König noch nicht bekannt, als er diese Schreiben verfasste. Wir alle müssen uns klar darüber sein, dass uns wahrscheinlich ein Krieg ins Haus steht, der kaum vermeidbar ist, auch wenn ihn keiner von uns will, und der in seiner Grausamkeit weit über jene Auseinandersetzung hinausgehen wird, die immer noch unsere beiden Reiche voneinander trennt.“
Ein Murmeln ging durch die Zuhörer. Nur König Zethimer blieb schweigsam und blickte finster.
„Erlaubt Ihr mir, die Quelle dieser Nachricht zu erfahren“, fragte er schließlich.
„Verzeiht mir, wenn ich sie vorerst geheimhalten muss“, entgegnete Thorgren. „Ich versichere Euch ihre absolute Zuverlässigkeit, doch darf ich sie weder nennen noch habe ich handfeste Beweise bei mir, die Euch leicht überzeugen könnten. Vieles ist noch zu unklar, waren seine Worte. Ich kann Euch nur bitten, mir zu glauben. Dann werdet Ihr einsehen, dass ein Bündnis unserer Länder unter diesen Umständen dringend ratsam ist, ein Bündnis aus Eurem Reich, dem Seenland, dem Grünland und den Valedrim-Elfen. Es befindet sich jedoch jemand an Eurem Hof, der meine Worte bestätigen kann, und dem es zusteht, meine Quelle zu nennen. Es ist Angulfin.“
Thorgren schwieg und ließ seine Worte auf den König wirken. Bisher hatte er noch an keiner Geste erkennen können, ob sie auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Für eine Weile schwieg auch der König.
„Ich werde über Eure Worte nachdenken“, versprach er schließlich. „Ihr könnt Euch zurückziehen.“
Thorgren verneigte sich und verließ mit Omaron den Saal. Noch während er sich vom König abwandte, erkannte er unter den umstehenden Männern eine kleine Gestalt in einer grauen Druidenkutte. Der Mann hatte sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten, und erst jetzt hatte Thorgren ihn gesehen. Er glaubte, dass das Angulfin war, der Ordensbruder Melbarts, auch wenn ihm sein Gesicht, das er kannte, verborgen geblieben war.
Auf dem Korridor äußerte der Hofmarschall seine Vermutung, dass sich der König noch an diesem Abend mit seinen Beratern über Thorgrens Anliegen besprechen würde. Mit einer Entscheidung war jedoch nicht vor morgen zu rechnen. Zethimer war kein Freund übereilter Entschlüsse.
„Ich werde Euch jetzt zu Eurem Gastgemach bringen“, erklärte Omaron. „Ihr werdet Euch ausruhen wollen.“
„Wie wird sich der König entscheiden?“, fragte Thorgren. „Ihr kennt ihn. Glaubt Ihr, meine Worte haben auf ihn eine Wirkung gehabt?“
„Dazu kann ich nicht viel sagen“, meinte der Hofmarschall. „Ihr habt gut gesprochen – aus meiner Sicht. Doch kann ich Eure Frage weder mit Ja noch mit Nein beantworten. Ihr müsst abwarten. Doch er wird eine Entscheidung fällen, so viel kann ich Euch sagen.“
„Wollt Ihr mir einen Gefallen tun?“, fragte Thorgren.
„Und welchen?“
„Ich muss mit Bruder Angulfin sprechen. Ich sah ihn gerade im Gefolge des Königs, glaube ich. Könntet Ihr eine Begegnung zwischen ihm und mir einrichten. Es ist sehr wichtig. Möglicherweise auch für Euer Volk.“
Omaron sah Thorgren misstrauisch an.
„Wenn es so wichtig für unser Volk ist, warum habt Ihr es dann nicht gerade eben bei unserem König vorgebracht?“, fragte er.
„Nun, um ehrlich zu sein, kenne ich den Inhalt der Botschaft nicht, die ich ihm überbringen soll“, erwiderte Thorgren. „Es wird Euch seltsam erscheinen, aber es ist die Wahrheit. Es ist – sagen wir einmal – eine für Uneingeweihte nicht zugängliche Botschaft und nur für Angulfin bestimmt. Ein gemeinsamer Freund gab sie mir für ihn mit.“
„Darf ich den Namen dieses – Freundes – erfahren“, bohrte Omaron nach.
Er nahm am Hofe König Zethimers eine Stellung ein, in deren Verantwortung auch ein Teil der Sicherheit des lysidischen Reiches fiel. Daher war seine Frage durchaus berechtigt.
„Ich bitte Euch um Nachsicht, aber ich darf diesen Namen nicht nennen“, antwortete Thorgren. „Wenn ihn Euch Angulfin sagt, dann ist es recht. Mir jedoch steht es nicht zu. Doch ich versichere Euch, es ist jemand, der keine unfreundlichen Absichten hat, wenn Euch das beruhigt.“
„Nicht unbedingt“, meinte der Hofmarschall. „Was würdet Ihr denken, wenn Fremde in einer so wichtigen Angelegenheit wie der Euren an den Hof König Harismunds kämen, dann aber Geheimnisse austauschten, die auch noch Folgen für Euer Land haben könnten. Dinge, von denen keiner um Euren König und nicht einmal er selbst etwas erfahren soll, und deren Urheber nicht genannt werden darf, auch wenn diese Fremden behaupteten, freundliche Absichten zu haben? Glaubt Ihr, das wäre kein Anlass zu Argwohn?“
„Ich gebe Euch Recht, Harismund, und mit ihm einige andere, wären nicht sehr angetan davon. Und doch sind mir die Hände gebunden.“
„Das ist bedauerlich, aber ich freue mich über Euer Verständnis“, meinte Omaron leicht spöttelnd. „Ich will offen sprechen. Euer Ansinnen mag ehrlich sein, aber Ihr kommt als Vertreter eines verfeindeten Landes. Behaltet diesen Umstand im Auge. Deshalb müssen wir Lysidier vorsichtig sein. Das, was Ihr vorgetragen habt, war durchaus bedenkenswert, trotzdem könnt Ihr kaum erwarten, in so kurzer Zeit das volle Vertrauen des Königs erworben zu haben, geschweige denn seine Freundschaft. Ihr könnt zwar mit unserem Respekt rechnen, solange ihr Euch so verhaltet, dass Ihr ihn verdient, aber betrachtet Euch vorerst als geduldeter Gast an diesem Hof, nicht als Freund des Königs oder eines anderen. Damit meine ich jedoch nicht, dass Ihr Euch wie ein Gefangener fühlen sollt.“
Thorgren lächelte offen. „Ich verstehe Euch, Omaron. Und ich bin mir meiner Lage durchaus bewusst. In gewisser Hinsicht ist sie ja auch nicht unheikel. Es liegt mir fern, Euch zu bitten, Euren König in meinem Sinne zu beeinflussen. Und ich verspreche Euch, dass ich mich angemessen verhalten werde.“
„Was mich betrifft, bin ich bereit, es zu glauben“, erwiderte der Hofmarschall weniger streng. „Und was Eure Bitte betrifft, denke ich, sie erfüllen zu können. Angulfin ist bei uns gut bekannt und ein Vertrauter des Königs. Ich werde also sehen, was ich für Euch tun kann. Hier ist Eure Unterkunft. Ich bitte Euch, sie nicht zu verlassen. Es ist zu Eurer eigenen Sicherheit. Ihr findet dort alles, was Ihr braucht.“
Thorgren fühlte sich keineswegs ungerecht behandelt. Auch Harismund würde es nicht dulden, wenn sich Fremde, insbesondere aus nicht befreundeten Ländern, ohne Begleitung in seinem Schloss herumtrieben. Ein Bote, auch wenn er mit einem ehrbaren Vorschlag seines Herrn kam, mochte trotzdem ein Kundschafter sein. Thorgren konnte nicht erwarten, über jeden Verdacht erhaben zu sein, bis seine ehrlichen Absichten zweifelsfrei bewiesen waren. Volles Vertrauen war nicht in wenigen Stunden zu erwerben, da hatte Omaron schon Recht. Trotzdem hätte es ihn durchaus gereizt, sich in diesem prachtvollen Palast umzusehen. Omaron schloss die Tür hinter Thorgren, verzichtete aber darauf, sie zu verriegeln. Thorgren war sicher, dass die Wachen auf dem Flur ein aufmerksames Auge auf ihn haben würden. Im Augenblick war ihm das jedoch gleichgültig. Er fühlte sich nicht als ein Gefangener, und er spürte die Müdigkeit nach den Anstrengungen der Reise. Ihm war vor seinem Besuch beim König eine Mahlzeit gereicht worden. Das Geschirr war abgeräumt, und außer ein wenig Obst war jetzt nichts mehr aufgetischt. Aber er verspürte auch keinen Hunger.
Da es bereits spät war, legte sich Thorgren auf das Bett, das dabei kurz und heftig ächzte. Er wollte aber noch nicht schlafen, da er hoffte, dass an diesem Abend noch ein Treffen mit Angulfin zustande kam.
So lag Thorgren ausgestreckt, die Arme unter seinen Kopf verschränkt, und lauschte. Er hatte eines der Fenster zum Innenhof geöffnet. Die Geräusche geschäftigen Treibens erreichten sein Ohr. Auch um diese Zeit war in der Burg noch einiges los. In einer Schmiede wurde noch gearbeitet, und laut war das Klappern von Hufen zu hören. Obwohl es bereits Nacht war, kamen noch ein paar Reiter an oder ritten fort. Zwei kichernde Mädchen, vermutlich Mägde, gingen mit Eimern über den Innenhof, vielleicht, um am Brunnen Wasser zu schöpfen. Die Eimer ließen sie laut gegeneinander schlagen, während sie lebhaft plauderten und lachten. Andere Hufgeräusche tauchten auf und wurden lauter. Sie waren schwerer, langsamer, von Horn auf Pflastersteinen verursacht und von einer beruhigenden Männerstimme begleitet. Thorgren vermutete, dass es sich um Lastochsen handelte – oder vielleicht Schlachttiere auf ihrem letzten Weg.
Zwei Kerzen erhellten trübe sein Gemach. Die Flammen flackerten unruhig in der seichten, warmen Brise, die durch das Fenster hereinkam. Thorgrens Gedanken begannen, sich von dem Hofleben abzuwenden und gingen auf Wanderschaft, bis sie schließlich immer schwächer wurden. Gegen seinen Willen übermannte ihn schließlich der Schlaf.
Durch ein lautes Klopfen an seiner Tür wachte er wieder auf. Er wusste zwar nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch die Kerzen waren nur wenig heruntergebrannt, er konnte also noch nicht sehr lange geschlafen haben. Etwas steif und zerschlagen stand er von seinem Bett auf und ging zur Tür. Kurz bevor er sie erreichte, wurde das Klopfen wiederholt. Als er öffnete, stand Angulfin vor der Tür. Völlig unerwartet befand er sich in der Begleitung von Melbart. Sie waren allein. Nirgends gab es Wachen. Thorgren ließ die beiden Zauberer eintreten und schloss die Tür wieder. Schlagartig war er munter geworden.
„Ich bin etwas überrascht, aber erfreut“, begrüßte Thorgren die beiden Magier. „Angulfin hatte ich ja erwartet, aber mit dir, Melbart, hatte ich hier und jetzt nicht gerechnet. Kann ich aus deiner Anwesenheit schließen, dass sich schon wieder irgendetwas ereignet hat, von dem ich nichts weiß?“
„Mit Recht, mein Freund“, bestätigte ihm Melbart. „Es sind Ereignisse eingetreten, die meine kurze Anwesenheit hier erfordern. Doch zuvor kannst du mir jetzt meinen Kristall zurückgeben, den du von mir in der Großen Depothöhle erhalten hast. Diese Aufgabe hat sich von erledigt.“
Thorgren ging zu seiner Tasche und nahm den grünen Kristall heraus, sah ihn noch einmal abschätzend an und legte ihn Melbart in dessen geöffnete Hand. Der wiederum gab ihn Angulfin, der den Kristall grinsend in Empfang nahm. Thorgren blickte die beiden ein wenig verständnislos an.
„Ein kleiner Spaß unter Zauberern“, erklärte Melbart schmunzelnd.
Thorgren nickte verstehend, obwohl das nicht ganz den Tatsachen entsprach.
„Na schön, meinetwegen“, meinte er. „Könnt ihr schon etwas dazu sagen, was bei den Beratungen König Zethimers herausgekommen ist.“
Angulfin wurde wieder ernst.
„Deshalb sind wir hier“, meinte er. „Zethimer ist ein schlauer alter Fuchs. Er neigt nicht dazu, Entscheidungen aus dem hohlen Bauch heraus zu fällen. Du musst wissen, dass die Erinnerungen an den Krieg zwischen Lysidien und dem Seenland in ihm noch wach sind, obwohl er selbst ihn nur als Kind erlebte und ihm das meiste erzählt wurde. Trotzdem will er das Ansinnen König Harismunds nicht von vornherein ablehnen. Ich glaube sogar, er ist dem Vorschlag zugeneigt. Ihm ist klar, dass er durch die Unterstützung des Seenlandes gewisse Vorteile, auch für sein Volk, erlangen könnte. Andererseits muss auch er an seinem Hof gegen Widerstände ankämpfen, genauso wie König Harismund. Das verlangt auch von ihm geschicktes Vorgehen und verhindert rasche Entscheidungen. Im Augenblick scheint er jedoch in einer Zwickmühle zu sitzen. Denn wie er dich auch schon fragte, warum sollte er ein Bündnis für den Frieden mit einem Krieg beginnen? Morgen gehen die Beratungen weiter. Rechne damit, dass du auch noch einmal hinzugezogen wirst.“
„Vielleicht haben wir eine Möglichkeit, seinen Entschluss zu beschleunigen“, meinte Melbart. „Wie wir weiß auch er vom Achôn-Tharén. Angulfin hat mich davon unterrichtet, dass du es in deine Erklärungen ebenfalls hast einfließen lassen. Natürlich konntest du zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, dass unsere schlimmsten Befürchtungen wahr zu werden scheinen. Das Achôn-Tharén ist tatsächlich auf dem Weg zu Kryonos, wie ich es auf dem Aghor-Pass bereits vermutet habe.“
„Das ist schlecht, sehr schlecht, aber nach dem, was du mir bereits gesagt hast, Melbart, nicht unerwartet“, erklärte Thorgren. „Doch bist du dir sicher, und ist Kryonos bereits wieder in seinem Besitz?“
„Genau hier liegen die Schwierigkeiten“, meinte Melbart. „Nein, wir wissen nicht, wo es sich derzeit befindet. Es deutet aber vieles darauf hin, dass es wieder in die Welt entlassen wurde. Und es scheint bereits seine Wirkung auf Kryonos auszuüben. Noch kann er nicht in seinem Besitz sein, sonst würden seine Schergen entschlossener in Erscheinung treten, vermuten wir. Es wurden die ersten Kimocs, Nebeldrachen, beobachtet. Noch fern, undeutlich und abwartend, doch ist das ein sicheres Anzeichen für den Einfluss, den das Achôn-Tharén bereits entwickelt. Ohne seine Kraft könnte er die Kimocs nicht einsetzen.“
[Diese bloße Vermutung war verständlich, waren die Anzeichen doch zu diesem Zeitpunkt noch nicht eindeutig. Tatsächlich jedoch war das Achôn-Tharén am Tag zuvor bereits wieder in den Domgrotten angekommen. Es sollte aber noch eine Weile dauern, bis das offenbar wurde und es seine volle Wirkung entfaltete.]
„Das hört sich wirklich nicht gut an“, meinte Thorgren. „Aber bist du überzeugt davon, dass deine bloße Vermutung Zethimer zum Beitritt zu unserem Bündnis bewegen können wird?“
„Ich hoffe es“, meinte Melbart. „Ich werde ihm in eindrucksvollen Worten die daraus entstandene Lage schildern, und wenn er sein Volk retten will, dann kann er es nur zusammen mit den anderen Völkern, die sich gegen Kryonos stellen. Doch wird dein zweiter Auftrag dadurch nur noch drängender. Bisher waren es hinsichtlich des Achôn-Tharéns Annahmen, jetzt scheint es Gewissheit zu geben, dass es nach Erdos zurückkehrt. Ich fürchte, die Art deiner Aufgabe wird immer klarer. Du wirst auf die Suche nach dem Achôn-Tharén gehen. So ist es beschlossen. Und wir wissen noch nicht, wie dringlich die Lage ist. Ich werde versuchen zu erreichen, dass Zethimer dich so bald wie möglich entlässt.“
„Beschlossen? Von wem?“, fragte Thorgren. „Was ist das jetzt wieder für eine Geschichte?“
Angulfin fing an zu lachen und Melbart machte ein verdrießliches Gesicht.
„Es scheint, als hätten deine Worte, die du Zethimer gegenüber geäußert hast, auf dich am wenigsten Eindruck gemacht“, meinte er. „Hast du die Begegnung mit Nigall schon vergessen, und seine Botschaft. Dein Besuch bei Branwyn hat natürlich mit der Suche nach dem Achôn-Tharén zu tun, nicht mit dem unmittelbaren Kampf gegen Kryonos. Das wird deine Aufgabe sein. Ich sagte dir in der Aghor-Höhle, bei König Wechis hat ein Wehrrat stattgefunden. Anschließend gab es eine weitere Besprechung. Dabei ist der Beschluss gefallen, dir Gefährten an die Seite zu stellen.“
„Dann gehe ich also nicht allein in dieses Wagnis?“, fragte Thorgren erstaunt, denn er war sicher gewesen, dass die Aufforderung Nigalls nur ihm galt. Er hätte auch nicht gewusst, wen er vom Hof Zethimers mitnehmen sollte.
„Nein, du bekommst ein kleines Gefolge“, erklärte Melbart. „Es sammelt sich gerade bei König Wechis in Weißanger. Es werden sechs Mitstreiter sein. Näheres erfährst du später.“
„Sechs?“, wiederholte Thorgren. „Das sind viele.“
„Für dein Unternehmen aber nicht zu viele“, meinte Melbart. „Vielleicht werden es auch neun. Wir werden sehen.“
„Und du bist sicher, wir sollen das Achôn-Tharén finden?“, wollte Thorgren wissen. „Ich habe doch noch nicht einmal eine Vorstellung, wie das Ding überhaupt aussieht. Nach allem, was ich gehört habe, dreht sich mir jetzt schon der Magen um, wenn ich daran denke.“
Melbart blickte nachdenklich auf den Boden, dann sah er Thorgren an.
„Ich schlage vor, wir verschieben das auf später. Es ist nicht der nächste Schritt, und wer weiß, wie viel du von Branwyn darüber erfahren wirst. Belassen wir es jetzt dabei.“
„Damit bin ich nicht einverstanden“, beschwerte sich Thorgren. „Ich weiß nicht allzu viel über Kryonos, aber genug für die Gewissheit, dass er ein ziemlich übler Gegner ist. Meinst du nicht, ich sollte aus diesem Grund einiges mehr über meinen Weg erfahren, der »beschlossen« ist. Also wäre es nur gerecht, wenn du mir berichtest, was du mir darüber sagen kannst. Aus deinen Worten schließe ich, dass du mehr darüber weißt als ich.“
„Also gut, du hast Recht“, meinte Melbart. „Bisher war es unklar, und wir erhofften uns genauere Einsicht durch Branwyn, der Seherin. Auch König Nigall hatte dir nichts Bestimmtes mitgeteilt. Dass sich Kryonos regt, konnte auch andere Gründe gehabt haben. Nun ist die Ursache dafür aber klar. Und für dich gibt es nur dieses eine Ziel: Du musst das Achôn-Tharén finden und unschädlich machen. Wie, kann ich dir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Wir wissen nur, dass diese Aufgabe vor dir liegt. Glücklicherweise hast du es nicht nur aus unserem Munde gehört, sondern auch von Nigall, wenn auch ein wenig verschwommen. Wie deine Suche nach Branwyn beginnt, das können wir dir allerdings schon sagen.“
Und nun berichtete Melbart entgegen seiner ursprünglichen Absicht doch noch in Einzelheiten über den Wehrrat bei König Wechis und über die geheime Versammlung, die danach folgte. Bei ihrer letzten Begegnung in der Großen Depothöhle hatte Melbart noch darüber geschwiegen, denn er wollte zunächst die Versammlung seines Ordens abwarten. Außerdem sollte Thorgren zuerst möglichst unbelastet von zukünftigen Entwicklungen das Anliegen König Harismunds bei König Zethimer vortragen.
Melbart erklärte Thorgren, dass sich bald eine kleine Kriegerschar auf den Weg zu den Schwarzen Sümpfen machen würde. Im Dagau-Delta sollten sie sich dann treffen. Der Besuch bei Branwyn war nur der erste Teil seiner Fahrt, die das Ziel hatte, das Achôn-Tharén zu finden. Und die Seherin würde ihm dabei behilflich sein, wenn sie selbst auch nicht daran teilnahm.
Thorgren war über Melbarts Ausführungen nicht wenig verwirrt, und gefallen wollte ihm die ganze Geschichte schon gar nicht, aber er musste diese Herausforderung wohl oder übel annehmen, wenn er auch jetzt noch keine klare Vorstellung davon hatte, was auf ihn zukam, und warum gerade er dazu ausersehen war. Dass es angeblich in seiner Abstammung begründet war, erschien ihm kein ausreichender Grund. Unter diesen Umständen war er froh darüber, dass ihn andere begleiten würden, auch wenn er sie noch nicht kannte, abgesehen von Cai Grevenworth. Mit den anderen Namen konnte er zumeist nicht allzu viel anfangen. Thorgren blieb bei seinem Entschluss, nicht mehr an den Hof König Harismunds zurückzukehren. Er würde ihm stattdessen morgen ein Schreiben schicken, das seinen König über den Verlauf seiner Gespräche unterrichtete. Dann wollte er geradewegs zu den Schwarzen Sümpfen aufbrechen.
In der folgenden Nacht schlief Thorgren ziemlich schlecht. Üble Träume suchten ihn heim. Immer wieder wechselte sich das Gesicht des toten Elfen mit dem Kopf des Drachens und einer rötlich strahlenden Kugel ab. Dazwischen erschienen vor seinen inneren Augen ganze Horden von Bestien, viele von ihnen auf ihren Artgenossen reitend, die die Länder von Erdos verwüsteten. Über allem standen die beiden Sonnen Astur und Pelin und aus jeder blickte das Gesicht einer Schlange höhnisch grinsend auf Erdos herab. Thorgren wusste, es war das Gesicht von Kryonos.
Kurz nach dem ersten Sonnenaufgang wurde Thorgren von Omaron zur Morgenmahlzeit abgeholt. So richtig schmecken wollte sie ihm aber nicht, obwohl köstliche Speisen aufgetragen waren. Omaron fiel die eigenartig bedrückte Stimmung seines Gastes auf, erkundigte sich aber nicht nach dem Grund. Er konnte sich kaum vorstellen, dass seine Worte am Vorabend daran schuld waren. Nach einigen Überlegungen kam er zu dem Schluss, dass vielleicht die Unterredung mit Angulfin und diesem anderen Magier, Melbart, damit zu tun haben mochten. Aber auch das versuchte Omaron nicht zu ergründen, aus höflicher Zurückhaltung.
Nach dem Mahl suchten beide den König auf. Bisher hatte Thorgren weder Melbart noch Angulfin gesehen. Er hoffte aber, die beiden noch vor seinem Aufbruch zu treffen.
Dieses Mal versammelten sie sich in einem kleinen Raum abseits des Thronsaales, in den Thorgren den König und seine Berater am Tage zuvor hatte hineingehen sehen, nachdem Zethimer ihn entlassen hatte. Außer dem König befanden sich jetzt nur noch vier weitere Männer in diesem Zimmer. Wie erhofft, waren es die beiden Zauberer. Ein weiterer, jüngerer Mann stand bei ihnen, der Thorgren unbekannt war. Er hatte erkennbare Ähnlichkeit mit Zethimer und Thorgren vermutete sofort, dessen Sohn gegenüberzustehen. Dieser junge Mann blickte ihn mit ernster Aufmerksamkeit und ein wenig abschätzend an. Thorgren fiel auf, dass er hier den ersten Lysidier ohne Bart vor sich hatte, der ihm je begegnet war. Der vierte in der Runde war der Waffenmeister, in dessen Obhut Thorgrens Waffen gegeben worden waren.
„Nun Thorgren, ich hoffe, Ihr hattet eine erholsame Nacht“, wurde er vom König begrüßt, der eine erstaunliche Veränderung durchgemacht zu haben schien und einen spürbar umgänglicheren Eindruck machte als am Tag zuvor. „Ich habe mir die Antwort auf König Harismunds Anliegen noch einmal gründlich überlegt und bin zu dem Entschluss gekommen, seinem Hilfegesuch zu folgen, falls es notwendig werden sollte. Dabei habe ich noch einmal Eure Worte durchdacht, die überzeugend klangen, die Schriftrollen König Harismunds studiert und schließlich muss ich zugeben, dass einige Bemerkungen der beiden Magier hier ihren Teil zu meiner Entscheidung beigetragen haben. Ich werde Eurem König also mitteilen, dass ich dem Bündnis beitreten werde, in der Hoffnung, dass er sich später auch noch an die Zusagen für die Zeit nach dem Krieg erinnert. Doch seid gewarnt, auch ich habe Widerstände zu überwinden und kann nicht sagen, wie lange es dauern wird, bis ich mein Versprechen einlösen kann.“
Innerlich atmete Thorgren auf. Er war froh, dass er das Anliegen seines Königs so erfolgreich hatte vortragen können. Zethimer hatte unerwartet schnell entschieden, aber Thorgren ahnte, dass Melbart und Angulfin ihren Teil dazu beigetragen hatten. Nun stand, so hoffte Thorgren, seinem baldigen Aufbruch nichts mehr im Weg.
„Eure Majestät, ich freue mich, Euren Entschluss zu hören“, sagte er. „Dann waren meine Reise zu Euch und meine Bemühungen nicht vergebens.“
„Diese Sorge kann ich Euch nehmen“, sagte Zethimer. „In diesem Augenblick wird eine Depesche an König Harismund vorbereitet, die meine Antwort enthält. Doch nun zu einem weiteren Punkt, den ich mit Euch besprechen will, unabhängig von den anderen Dingen. Euch dürfte bekannt sein, das Magier im Weitergeben von Nachrichten – sagen wir einmal – etwas wählerisch vorgehen. Trotzdem hat Melbart durchblicken lassen, dass Ihr noch heute auf einen Weg gehen werdet, der große Mühsal und Gefahren birgt, aber für den Ausgang der Auseinandersetzung mit Kryonos eine nicht unerhebliche Bedeutung haben könnte, und deren glückliches Ende ein gewisses Maß an Ruhm und Ehre verheißt. Ihr werdet verstehen, dass ich im Interesse meines Hauses daran nicht unbeteiligt sein möchte. Natürlich lassen es meine Aufgaben nicht zu, Euch selbst zu begleiten. Daher habe ich mich entschlossen, Euch meinen Sohn Zihanor an die Seite zu stellen, es ist auch sein Wunsch.“ Er legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes, der neben ihm stand. Also hatte Thorgren richtet vermutet. Zethimer fuhr fort: „Zihanor ist ein ausgezeichneter Reiter, unerschrockener Kämpfer und guter Fährtenleser. Er wird Euch zweifellos ein guter Weggefährte sein. Seid Ihr bereit, Zihanors Begleitung anzunehmen?“
Thorgrens Gesichtszüge hellten sich auf. Zihanor hatte auch ohne die Anpreisungen seines Vaters einen guten Eindruck auf ihn gemacht, und er wusste, dass seine Menschenkenntnisse ihn selten im Stich ließen.
„Es wird mir eine Freude und Ehre sein“, sagte Thorgren. „Doch ich muss Euch warnen. Die Gefahr ist jetzt noch nicht abzuschätzen, und wenn ich an König Merowinth erinnern darf, ein tragisches Ende nicht unmöglich.“
„Ich fürchte weder Kampf noch Gegner und Geister“, sagte Zihanor bestimmt. „Seid gewiss, dass ich keiner Gefahr aus dem Wege gehen werde, die uns begegnen wird.“
Thorgren musste lächeln.
„Ich hoffe, dass uns Geister erspart bleiben werden, aber an gewöhnlichen Gegnern wird es wohl nicht mangeln“, sagte er. „Also dann, willkommen in unserem kleinen Kreis. Melbart sagte mir, es werden noch einige andere zu uns stoßen.“
Thorgren reichte Zihanor seine Rechte zum Handschlag und Zihanor ergriff die angebotene Hand. So wurde das erste Bündnis zwischen dem Seenland und Lysidien seit dem Ende ihres Krieges besiegelt.
„Doch bevor ich aufbreche, bitte ich um die Rückgabe meiner Waffen, ohne die ich den Hof nicht verlassen werde“, sagte Thorgren.
„Das ist bereits veranlasst“, klärte ihn Zethimer auf und gab dem Waffenmeister ein Zeichen.
Dieser übergab Thorgren dessen Schwert und Messer. Sie waren in tadellosem Zustand.
An diesem morgendlichen Gespräch waren die beiden Magier nur als stumme Zeugen beteiligt. Gleich nach dessen Beendigung begannen die beiden neuen Gefährten mit den Reisevorbereitungen. Doch da Thorgren seine Sachen bereits beisammen hatte und Zihanor in weiser Voraussicht ebenfalls fast abreisefertig war, dauerte es nicht lange, bis sie sich im Innenhof der Burg trafen. Zuvor hatte Thorgren noch eine zweite Botschaft an seinen König geschrieben, in der er ihn, ohne auf Einzelheiten einzugehen, davon unterrichtete, dass seine Rückkehr nach Thorafjord noch einige Zeit auf sich warten lassen würde, da ihn unerwartete Aufgaben in Anspruch nahmen. Beide Botschaften wurden noch in der gleichen Stunde mit einem berittenen Boten an Harismunds Hof in Thorafjord ausgeschickt.
Dann endlich kam der Abschied. Während Thorgren und Zihanor ihre Pferde im Hof bepackten, kamen König Zethimer, Melbart und Angulfin hinzu.
„Die Zeit der Trennung ist nun gekommen“, sagte der König und ein Anflug unterdrückter Wehmut lag in seiner Stimme. „Ich kann Euch nur meine besten Wünsche auf den Weg mitgeben und den Segen der Götter für Euch erflehen. Komm´ nach einer erfolgreichen Fahrt heil wieder nach Hause zurück, mein Sohn.“
Beide umarmten sich ein letztes Mal.
„Ich werde unserem Haus und unserem Land Ehre machen“, versprach Zihanor. „Lebe wohl, Vater.“
Dann stieg er voller Tatendrang auf sein Pferd, das ebenfalls von seiner Unternehmungslust angesteckt worden zu sein schien und unruhig hin- und hertänzelte. Es war ein großer, kräftiger Schimmel, dem seine edle Abstammung anzusehen war. Ein Stallknecht kam auf die Gruppe zu und hielt ein weiteres vollbepacktes Pferd am Zügel. Er übergab es Angulfin, der den beiden überraschend eröffnete, dass er sie begleiten würde.
„Zwar habe ich es bisher nicht erwähnt“, sagte er, „doch mein Bruder und ich haben beschlossen, dass es gut wäre, wenn ich euch einen Teil des Weges begleite, falls ihr nichts einzuwenden habt. Wie weit, werden wir sehen.“
Thorgren und Zihanor hatten selbstverständlich nichts dagegen einzuwenden, ganz im Gegenteil.
„Seid vorsichtig“, ermahnte sie Melbart noch. „Denkt daran, in der Welt gibt es zunehmend neugierige und zuweilen boshafte Augen. Vor allem seid auf der Hut vor den Nebeldrachen. Es wird nicht lange dauern, bis wir uns wiedersehen. Und nun lebt wohl, auch Ihr, König Zethimer.“
Melbart setzte seine Kapuze auf und wandte sich dem Tor in der Palastmauer zu. Thorgren ließ ihn nur für eine kurze Zeit aus den Augen. Als er wieder nach ihm schauen wollte, war der Zauberer verschwunden. Er konnte unmöglich bereits das Tor erreicht haben.
Ehe die drei Reiter durch den Torbogen verschwanden, winkten sie dem König noch einmal einen Gruß zu. Schweigend stand er im Hof, blickte hinter ihnen her und hoffte, seinen Sohn lebendig und gesund wiederzusehen.
Thorgren, Zihanor und Angulfin verließen Schibrasch-dim durch das Osttor, durch das Thorgren am Tag zuvor die Stadt betreten hatte.