Читать книгу Die Rache des Kryonos - Harald Höpner - Страница 6
4. Ein verzweifelter Plan
ОглавлениеNachdenklich und bedrückt saß König Wechis auf seinem Thron. Allein in seiner Halle, fühlte er plötzlich das Gewicht seines Amtes. Es war das erste Mal, dass er Beschlüsse von solcher Tragweite getroffen hatte und deren Folgen so ungewiss waren.
Noch einmal nahm er die erbeutete Schrift zur Hand und las sie in Ruhe durch. Es war ungewöhnlich, dass die Bestien schriftliche Befehle erhielten. Wechis wusste zwar nicht, ob es ein Einzelfall war, aber bestimmt war es bisher unüblich. Dieser Befehl war in uranischer Sprache verfasst. Möglicherweise galt er daher nur den uranischen Kriegern, und die Bestien hatten das Schriftstück an sich genommen, damit es nicht in die Hände der Grünländer fiel. So musste es gewesen sein, beschied Wechis.
Eine Bewegung in seinen Augenwinkeln ließ ihn aufblicken. Verwundert stellte er fest, dass nicht alle der Ratsteilnehmer den Saal verlassen hatten. Zurückgeblieben waren die Abgesandten des Elfenkönigs, die Fürsten Hagil und Thorgasmund sowie die Fürstin Adhasil. Aus dem Schatten einer Säule löste sich eine Gestalt in einem grauen Druidengewand, die Kapuze über ihr Haupt gestülpt. Mit vor der Brust verschränkten Armen näherte er sich dem König. Jetzt sahen ihn auch die anderen, und obwohl sie wussten, dass Melbart den Wehrrat aufsuchen wollte, erkannte ihn in diesem Augenblick nur Danan´hô.
„Es ist uns eine besondere Ehre, unseren weisen Ratgeber Melbart in dieser dunklen Stunde unter uns zu wissen“, sagte der Elf schmunzelnd.
Jetzt schlug der Mann die Kapuze zurück und ein verwittertes, graubärtiges Gesicht kam zum Vorschein, aus dem klare, listige Augen hervorstachen. Melbart liebte solche Auftritte. Er lächelte.
„Vor deinem wissenden Blick bleibt niemand unerkannt, Danan´hô.“
„Nur schwerlich jemand, den ich kenne und erwarte. Daher war es dieses Mal wahrlich keine Kunst.“
Das konnte der Elf leicht sagen, denn kurz vor der Versammlung hatte er mit Melbart ein paar Worte gewechselt. Der beiden Wortspiel gehörte wohl mit zu Melbarts Auftritt.
„Nun, König Wechis“, sagte der Magier, dem nicht entgangen war, dass der König ihn etwas argwöhnisch ansah, „habe ich Euch nicht versprochen, früher an Euren Hof zurückzukehren, als Ihr es erwartet? Nun ja, ich gebe zu, es ist sogar früher, als ich selbst dachte und beabsichtigte. Ich bat auch die Anwesenden aus Gründen, die wir hier zu besprechen haben, noch nicht zu gehen.“
„Der große Magier Melbart“, sagte König Wechis, nicht ganz frei von wohlwollendem Spott. „Ich fürchte, Eure Rückkehr verheißt nichts Gutes. Kaum wenden die Dinge sich zum Schlechten, da taucht Ihr wieder auf. Ich hätte es mir denken können. Trotzdem begrüße ich Eure Anwesenheit, denn ich kann nicht verleugnen, dass ich Euch als Ratgeber schätze. Wie sich wieder einmal erwiesen hat, steht Ihr auch bei den Elfen in besonderer Achtung, und –.“
„Und nicht weniger bei den Seenländern!“, ließ sich eine unbekannte Stimme aus dem Schatten einer Säule hören, worauf ein großer, kräftiger Mann ohne Waffen und Rüstung ins Licht hervortrat. „Verzeiht mein ungebührliches Eintreten, aber besondere Zeiten verlangen besonderes Handeln. Als Zeichen meiner friedlichen Absichten ließ ich meine Waffen zurück.“
König Wechis blickte überrascht auf. Er konnte sich nicht daran erinnern, einen Seenländer zum Wehrrat eingeladen zu haben. Und dass er beteuerte, friedvolle Absichten zu haben, war kaum eine bemerkenswerte Äußerung, denn es war nicht vorstellbar, dass er an diesem geschäftigen Tag in übler Gesinnung bis in die Nähe des Königs gelangt wäre. Mit heruntergezogenen Augenbrauen sagte Wechis: „Ihr seid ein unerwarteter Gast. Darf ich fragen, wer Ihr seid?“
„Ich kam auf die Bitte von Melbart“, antwortete der Fremde. „Mein Name ist Cai Grevenworth, und ich bin Ritter in der Reiterei König Harismunds.“
„Dann seid Ihr im Auftrag Eures Königs hier?“, vermutete Wechis.
„Nun, er äußerte keine Einwände dagegen, zu Euch zu reisen“, antwortete Cai ausweichend.
„Wie Cai sagte, er kam meiner Bitte nach, mich zu begleiten“, erklärte Melbart. „Ich komme in einer dringenden Angelegenheit an Euren Hof zurück. Es geht um eine wichtige Entscheidung, bei der die Anwesenheit Cais erforderlich ist.“
„Eine wichtige Entscheidung?“, wiederholte der König, der nicht wusste, was der Magier beabsichtigte.
„Deswegen sind wir hier“, sagte Melbart. „Wir müssen darüber reden. Und ich fürchte, die Umstände dulden keinen Aufschub.“
„Kaum ist der eine Kriegsrat beendet, da beginnt der nächste“, sagte Wechis etwas verdrießlich. „Gut, aber nicht hier. Gehen wir ins Kaminzimmer.“
Der König erhob sich von seinem Thron und führte seine Gäste in einen kleineren Raum hinter dem großen Saal, nachdem er einem Diener aufgetragen hatte, die Reichssymbole und die Königskrone wieder sicher zu verwahren. Er rief eine Wache und befahl ihr, dafür zu sorgen, dass sie nicht gestört wurden.
Da waren sie nun um König Wechis versammelt: Melbart, der Magier; der Ritter Cai; Danan´hô mit seinen Begleitern; die Fürstin Adhasil und die Fürsten Hagil und Thorgasmund. Außer Melbart wusste niemand, dass Cai unter einem anderen Vorwand als nach Weißanger zu reiten den Hof seines Königs verlassen hatte, und der aus diesem Grund auch keine Einwände dagegen gehabt haben konnte, dass Cai zu König Wechis geritten war.
„Ich denke, nun ist es an der Zeit, den Grund für das geheimnisvolle Erscheinen von Melbart und Cai zu erfahren“, leitete König Wechis erwartungsvoll ein. „Ich vermute, es ist ein gewichtiger Grund.“
„Ihr vermutet richtig“, erwiderte Melbart. „Was an den Grenzen geschieht, und ich betone ausdrücklich, auch an den Grenzen des Nordens, ist nur ein Vorspiel für einen neuen Krieg, von dem wir annehmen können, dass Kryonos ihn plant. So viel habt ihr euch auf der Versammlung ja bereits klargemacht, und ich kann es mit weiteren Anzeichen untermauern. Die Seenländer haben an ihren Nord- und Ostgrenzen die gleichen Beobachtungen gemacht wie Ihr. Dass Kryonos noch so vorsichtig vorgeht, ist für uns ein Zeichen, dass er bisher kaum seine alte Stärke zurückerhalten haben dürfte. Was mich wundert, sind diese Kundschafterzüge, von denen er eigentlich wissen müsste, dass sie uns warnen. Als wolle er uns von etwas anderem ablenken. Erinnert Ihr Euch an die Legende von König Merowinth, einen der frühen Herrscher über das Seenland und in gerader Linie von Nigall, dem Großfüßigen, abstammend, dem ersten König der vereinten Seenland-Provinzen?“
Natürlich war ihnen diese Legende mehr oder weniger vertraut. König Merowinth und seine Gefährten waren bekannte Helden in der Geschichte von Erdos.
Danan´hô wiederholte vor den Anwesenden noch einmal die Sage von Merowinth und seinen Gefährten und betonte, dass deren Schicksal, wenn es auch nie bewiesen werden konnte, für die Elfen unzweifelhaft mit dem Ende der Macht von Kryonos verbunden war.
„Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass die Bestien und alle auf deren Seite kämpfenden Wesen sich fluchtartig von den Schlachtfeldern zurückzogen und sich in alle Winde zerstreuten. Wir glauben, dass das Achôn-Tharén, das Kryonos einen wesentlichen Teil dieser Macht verlieh, damals in noch andere, uns unbekannte Hände gelangte, die es allerdings nicht wieder an Kryonos zurückgaben, da sein Einfluss erloschen blieb. Seit damals ist es verschollen, und wir fühlten uns über eintausend Jahre in Sicherheit. Bis heute. Wo das Achôn-Tharén verborgen ist, ist unbekannt“, schloss er.
„Wenn jedoch keiner der Krieger um König Merowinth jemals wieder zurückkehrte, wie könnt Ihr dann so sicher sein, dass diese Schar tatsächlich die Ursache für die Entmachtung von Kryonos war?“, wandte Cai ein.
Melbart hatte ihn zwar gebeten, an König Wechis´ Hof zu kommen, ihn über seine Absichten und dem, was ihnen zugrunde lag, aber im Unklaren gelassen.
Danan´hô nickte, als hätte er diesen durchaus berechtigten Zweifel erwartet, und seine folgenden Worte bestätigten das dann auch.
„Eure Frage kommt nicht unerwartet“, gab der Elf zu. „Ich kann Euch aber versichern, dass es tatsächlich keine unmittelbaren Zeugen, außer möglicherweise einige Kreaturen des Kryonos, gab. Heute werde ich ein Geheimnis preisgeben, das über eintausend Jahre von den Elfen gehütet wurde, doch die Umstände rechtfertigen diesen »Verrat«, und er erfolgt mit dem Wissen meines Königs. Es stimmt, nur wenige Eingeweihte kannten damals das Ziel von Merowinths Schar, die mitten im Krieg heimlich aufbrach, um Kryonos in seinen Höhlen anzugreifen. Einer dieser Eingeweihten war der Elfenkönig Her´eldan, der Großvater Nôl´tahams. Als nun der Krieg zu Ende war und Merowinth und seine Männer in den Monaten danach verschollen blieben, entschloss sich dieser König, nach ihnen suchen zu lassen. Etwa ein Jahr nach Merowinths Aufbruch schickte er einige Krieger in den Norden zu dem Verlorenen Berg. Durch einen unwahrscheinlichen Zufall entdeckten sie vier Tagesmärsche vor dem Ziel die Überreste einer kleinen Kriegerschar. Von den Leichen waren nur noch wenige Knochen übrig, und die Ausrüstung lag weit zerstreut. Um wen es sich handelte, war zunächst unklar, obwohl die Tatsache, dass die Ausrüstung unterschiedlichen Ursprungs war, sie fanden Gegenstände seenländischer, elfischer, grünländischer und zwergischer Herkunft, einen Hinweis auf eine gemischte Gruppe lieferte. Schließlich entdeckten sie ein Schwert, dass eindeutig König Merowinth zugeordnet werden konnte. Das war der Beweis dafür, dass die Krieger, deren Schicksal sie herausfinden sollten, umgekommen waren. Der Hergang konnte jedoch nicht mehr geklärt werden, und die Umstände ihres Todes blieben rätselhaft. Anschließend zogen die Elfen weiter zum Verlorenen Berg. Sie stellten bald fest, dass Kryonos´ Macht tatsächlich versiegt war, und allem Anschein nach Merowinths Vorstoß Erfolg gehabt hatte, denn sie wussten um den Plan des Königs, und einen anderen Grund für die Verlassenheit des Verlorenen Berges konnten sie nicht erkennen. Sie begegneten weder Bestienkriegern noch anderen seiner Kreaturen, und anders als sie erwartet hatten, waren die wilden Tiere, die einst vor dem Schrecken geflohen waren, wieder in diese Gegend zurückgekehrt. Die Elfen wagten sich bis in jene Halle vor, die Kryonos allem Anschein nach als Unterschlupf gedient hatte, konnten von ihm aber keine Spur entdecken. Wir vermuten, dass er sich tief unter den Berg zurückgezogen hatte. Schließlich kehrten die Elfen wieder in ihre Heimat zurück und erstatteten Her´eldan Bericht. Er und seine Berater kamen zu dem Schluss, dass das Achôn-Tharén aus den Höhlen entwendet werden konnte und es zumindest bis zu dem Zeitpunkt der Rückkehr des Suchtrupps noch nicht wieder zu Kryonos zurückgekehrt war. Seither blieb es verschollen. Her´eldan und seine Berater schlossen aber die Möglichkeit nicht aus, dass das Achôn-Tharén die Schuld an dem Tod Merowinths und seiner Krieger trug.“
„Diese Geschichte ist mir völlig unbekannt“, gab Wechis zu. „Ich kenne die Sage um Merowinth und alles, was drum herum erzählt wurde, nur als eine der vielen nebulösen Legenden aus der Vergangenheit. Also gibt es doch ziemlich sichere Anzeichen für den bisher vermuteten Ausgang der Fahrt von Merowinths Schar.“
„Dass Ihr nichts davon wusstet, erstaunt mich nicht“, meinte Danan´hô lächelnd. „Ich vermute, dass ich in diesem Kreis der Einzige bin, der davon Kenntnis hatte, und ich schätze sogar, nicht einmal Melbart kennt die Einzelheiten.“
Der nickte und grummelnd fügte er hinzu: „In der Tat. Ich hatte angenommen, dass mein Wissen über die Elfen und ihre Geschichte einigermaßen vollständig ist, doch offensichtlich vertraut man mir manche Dinge doch nicht an.“
Danan´hô schmunzelte, ging aber nicht weiter auf Melbarts Bemerkung ein, sondern wandte sich wieder an Wechis: „König Wechis, wenn die Fahrt für die Krieger auch tragisch endete, so war sie doch erfolgreich, denn das Achôn-Tharén war ohne Zweifel Kryonos entwunden, und wie sich später zeigte, blieb es das auch.“
„Doch warum hielten die Elfen diese Suche und ihr Ergebnis geheim?“, fragte Cai dazwischen.
„Tja, ehrlich gesagt, ich weiß es nicht“, musste Danan´hô zugeben. „Es wird sicher Gründe dafür gegeben haben, doch sind sie mir nicht bekannt. Sicher ist aber auch, dass die Geheimhaltung nicht so gut war, dass überhaupt nichts darüber bekannt wurde, denn nach und nach gelangten Bruchstücke dieses Unternehmens an die Öffentlichkeit, doch bevor sie sich zur Wahrheit zusammensetzen konnten, waren bereits mehr oder weniger wahre Legenden daraus entstanden. Vielleicht war es so auch beabsichtigt. Jedenfalls blieb das Achôn-Tharén in den folgenden Jahrhunderten verschwunden, und wir haben bis heute keine Ahnung, wo es sich befindet. Und so verbreitete sich unter den Völkern von Erdos ein trügerisches Gefühl der Sicherheit. Ja, es geriet größtenteils sogar in Vergessenheit.“
„Die Sicherheit war tatsächlich trügerisch“, bemerkte Melbart. „Das Achôn-Tharén wird wieder auftauchen und Kryonos erneut nach seiner alten Macht greifen, denn nur dieses legendäre Wesen ist in der Lage, ihm seine Kraft zurückzugeben, und es scheint bereits einen gewissen Einfluss auf Kryonos auszuüben. Doch unterschätzen wir ihn nicht. Auch ohne das Achôn-Tharén ist er ein sehr mächtiger Gegenspieler, aber nicht stark genug, eine ganze Welt wie Erdos mit all seinen Völkern zu unterwerfen. Dazu braucht er dessen Unterstützung.“
Es entstand ein nachdenkliches Schweigen im Raum. Fürstin Adhasil räusperte sich und fragte: „Dieses Achôn-Tharén, was ist das Ding überhaupt? Ich weiß eigentlich nicht mehr darüber, als dass es für Kryonos äußerst wichtig war und jetzt wieder ist, wie es aussieht.“
„Es stellt einen Teil der Macht des Himmels dar“, übernahm Danan´hô wieder die Erklärung. „Den Legenden zufolge ist es buchstäblich vom Himmel gefallen, daher diese Vermutung. In den Tagen vor seiner Ankunft erschien am nördlichen Himmel ein neuer Stern, der größer wurde und bald einer dritten Sonne glich, denn wie Pelin und Astur schien auch das Achôn-Tharén eine feste Bahn um Erdos zu beschreiben. Schließlich zog es seine feurige Spur über den Himmel und stürzte als gleißende, bläuliche Kugel in das Weite Sandmeer, südlich des Barrierengebirges. Die Bezeichnung Achôn-Tharén wurde ihm von den Sternenkundigen verliehen, die verständlicherweise bei dessen Erscheinen in erhebliche Aufregung gerieten, da keine Prophezeiung seine Ankunft angekündigt hatte. Sein Name bedeutet Feuer der Götter und entstammt der Elfensprache. Nur die Götter können unvorhersehbare Ereignisse geschehen lassen. Das Achôn-Tharén schlug also in das Weite Sandmeer ein. Aber erst nach vielen Tagen, als sich dort der Sturm und der Staub gelegt hatten, wurde eine Suchkarawane losgeschickt. Diese bestand aus Priestern, Sternenkundigen und Kriegern aus den Völkern der Seenländer, Waldelfen, Namurer, Lysidier und selbst der Felsgnome, die damals mit ihren Nachbarn noch häufigeren Umgang pflegten. Sehr lange brauchten sie nicht zu suchen. Der gefallene Stern lag auf einer Hügelkuppe und wies weit sichtbar mit seinem Licht den Suchenden den Weg. Es war, als wollte er gefunden werden. Groß war die Überraschung, als sie am Ort des Absturzes keine Zerstörungen feststellen konnten, obwohl der Feuerball überaus mächtig erschienen war, einen gewaltigen Sturm entfesselt und viel Staub aufgewirbelt hatte. Seltsamerweise wurde das Leuchten des Achôn-Tharéns umso schwächer, je näher die Karawane kam. Als sie es endlich erreicht hatten, lag es faustgroß und nun rötlich leuchtend vor ihnen. Es erschien beinahe lächerlich harmlos, strahlte aber eine unterschwellige Bedrohung aus, die einige Anwesende deutlich spürten. Trotz des ausgesandten Schimmerns fühlte sich das Achôn-Tharén kalt an. Bei den Versuchen, es aufzuheben, rann es den Priestern durch die Hände wie ein zäher Schleim. Dabei veränderte es seine Farbe ins Schwarze, jedoch ohne Folgen für denjenigen, der es berührte. Auf dem Boden formte es sich erneut zu einer Kugel und erhielt wieder seine rote Farbe. Merkwürdigerweise blieb kein Sand auf seiner Oberfläche kleben. Schließlich gelang es, das Achôn-Tharén in eine metallene Flasche fließen zu lassen. Ohne weitere Ereignisse wurde es zum Rabenberg ins Seenland gebracht. In harter Arbeit schlugen Felsgnome einige Höhlen in den Berg, von denen die größte das Achôn-Tharén aufnehmen sollte. Die anderen dienten seinen Hütern, es waren Priester aus allen Völkern, die an der Suche beteiligt gewesen waren, als Wohnräume. Bis dahin wusste noch niemand, was mit der Kugel anzufangen war und welche Eigenschaften sie hatte. Als vermeintliches Geschenk der Götter sollte sie an einem Ort aufbewahrt werden, der allen gehörte und jedem Zutritt gestattete. Deshalb gab der damalige König des Seenlandes, Merowinth, seinen Anspruch auf diesen Berg auf. Die Priester und Sternenkundigen sollten herausfinden, um was es sich bei dem Achôn-Tharén überhaupt handelte. So lag es einige Zeit in diesem Berg, ohne dass man seinen Geheimnissen auf die Spur kam. Dann folgte eine Nacht mit dem entsetzlichsten Unwetter, welches man in dieser Gegend je erlebt hatte. Der Donner ließ selbst den Rabenberg in seinen Festen erzittern, sodass alle Bergbewohner sich in die tieferen Höhlen zurückzogen, wo sie sich sicher fühlten. Das war ein verhängnisvoller Irrtum, denn nicht wenige sind in dieser Nacht durch die hereinbrechenden Sturzfluten in den Höhlen ertrunken. Groß war das Entsetzen am nächsten Tag, als die überlebenden Priester nicht nur feststellten, wie viele von ihren Brüdern ums Leben gekommen waren, sondern auch, dass das Achôn-Tharén verschwunden war. Es gab keine Zeugen, die das Verschwinden beobachtet hatten, da die Heilige Halle während dieser Zeit verwaist war. Nach wenigen Jahren, der Vorfall begann bereits in der Erinnerung der Erdaner zu verblassen, mehrten sich Gerüchte, dass im Osten ein neues Volk aufgetaucht sein sollte, das sich schlicht die Bestien nannte und, wo immer sie auftauchten, für Angst und Schrecken sorgten. Es waren grausame Kreaturen, wie man sie noch nie gesehen hatte. Allein ihre Erscheinung sorgte bald dafür, dass fast jeder Widerstand zusammenbrach. Schließlich sah man Kreuzungen aus Menschen und manchmal Elfen mit allen möglichen Tieren. Die harmloseren waren die Zentauren, die als Reittiere benutzt wurden. Gefürchteter waren die Löwenmenschen und Schlangenmenschen oder Schlangenelfen, wobei sowohl Tierköpfe auf Menschen- oder Elfenkörpern als auch umgekehrt Menschen- und Elfenköpfe auf Tierkörpern in Erscheinung traten. Es erfolgten Angriffe aus der Luft von Adlern mit Menschen- oder Elfenköpfen. Wolfelfen durchstreiften die Wälder. Jedoch waren die menschlichen und elfischen Körperteile nur noch grausame Zerrbilder ihrer natürlichen Erscheinung. Was aber alle gemeinsam hatten, das war ihre unnatürliche Kraft. Selten gelang es, diese Wesen gefangenzunehmen. Dabei fiel gelegentlich der Name Kryonos. Schließlich wurde zur Gewissheit, dass dieser Kryonos und mit ihm dreizehn Schwarze Geister die Bestien geschaffen hatten und sie beherrschten. Das sollte mithilfe einer kleinen roten Sonne geschehen sein, was als Hinweis auf das Achôn-Tharén galt. Das beantwortet auch eine Frage, die bisher keiner von euch gestellt hat. Konnte Kryonos tatsächlich nur durch den Verlust des Achôn-Tharéns entscheidend entmachtet werden? Eindeutig ja, denn nur, indem ihm das Achôn-Tharén genommen wurde, verloren er und die Schwarzen Geister auch den Einfluss auf die Bestien. Ehe Kryonos es im Rabenberg an sich bringen konnte, gab es diese Bestien nicht, und ebenso wenig die Schwarzen Geister, zumindest nicht auf Erdos. Dass sich weitere Krieger mit dem gleichen Ziel aufgemacht hatten, ist unwahrscheinlich. Also bleibt unsere Überzeugung, dass es nur Merowinth und seinen Kriegern gelungen sein konnte. Somit offenbarte sich jedenfalls, dass das Achôn-Tharén kein Geschenk, sondern ein Fluch der Götter war, wenn es denn überhaupt von den Göttern kam. Mit dieser Kugel war Kryonos in den Besitz einer gewaltigen Macht gelangt, und die wiederum ermöglichte es seinen Geistersklaven, in der Welt zu wirken, was ihnen sonst verwehrt gewesen wäre. Zu diesen Geistern gehörten nicht nur die dreizehn Schwarzen, sondern auch Runloc. Er stand zwischen den Schwarzen Geistern und Kryonos und war sein höchster Heerführer. Sie schufen also die Bestien, und waren in der Lage, ganze Heere auf unnatürliche Weise aufzustellen, um die anderen Völker zu unterwerfen. Das hatte den verheerendsten Krieg zur Folge, den Erdos je erlebt hatte. In einem verzweifelten, aber schließlich erfolgreichen Bemühen, gelang es dem König Merowinth mit seiner Gefolgschaft, Kryonos das Achôn-Tharén zu entreißen und so den Krieg zu unseren Gunsten zu entscheiden, wie ich vorhin berichtete. Immerhin war Kryonos nach seiner Niederlage mit seinen Geistern in den Felsen des Verlorenen Berges gefangen. Bis heute. Das ist die Geschichte des Achôn-Tharéns. Dessen Erscheinen und das Auftauchen von Kryonos kann daher kein Zufall gewesen sein. Sicher gehören beide zusammen und vielleicht war der Fund der Kugel durch erdanische Bewohner nicht einmal beabsichtigt gewesen, und das Achôn-Tharén wollte mit der Art seiner Erscheinung Kryonos auf sich aufmerksam machen. So erhielten wir durch eine glückliche Fügung aber einige Kenntnis über die Zusammenhänge.“
Damit beendete der Valedrim seine Schilderung.
Fürstin Adhasil nickte. „Dann lauert also eine unvorstellbare Bedrohung im Verlorenen Berg“, stellte sie fest. „Ich frage mich, warum die Uranen sich wieder mit den Bestien verbündet haben. Wenn die Überlieferungen die Wahrheit sagen, hatte sich dieses Volk nie vollständig an die Seite von Kryonos gestellt. Nur wegen seiner tückischen Versprechen hatten sich ihm einige Stämme angeschlossen und waren dann unter seinen Einfluss geraten, heißt es. Und selbst danach sollen sie noch unzuverlässige Bündnisgenossen gewesen sein.“
„Wir wissen nur, dass sie in letzter Zeit wieder gemeinsam in Erscheinung treten“, meinte Melbart. „Noch ist jedoch nicht klar, ob es sich nur um wenige Scharen von Uranen handelt, oder ob sich das ganze Volk auf die Seite von Kryonos geschlagen hat, geschweige denn, aus welchen Gründen es dazu gekommen sein mag. Trotzdem war die rasche Entscheidung von Euch, König Wechis, richtig, die Herrscher des Seenlandes und des Valedrim-Waldes über die Lage zu unterrichten. Nur ein gemeinsames Handeln kann die aufkeimende Gefahr vielleicht noch siegreich bekämpfen. Ich fürchte aber, dass gegen Kryonos´ Macht, einmal in voller Blüte stehend, nicht einmal ein Bündnis der Heere aller Länder sehr viel ausrichten kann. Es gibt nur eine Möglichkeit, ihm erfolgreich zu begegnen. Wir müssen das Achôn-Tharén finden, wenn es zurückkehrt, und abermals vor Kryonos in Sicherheit bringen, und dieses Mal endgültig, falls es nicht möglich ist, es zu zerstören.“
„Du verlangst viel“, meinte Cai.
„Mehr als das“, gab Melbart zu. „Doch es gibt keine andere Möglichkeit.“
„Wenn wir auch nicht wissen, wo das Achôn-Tharén sich die letzten eintausend Jahre befand, weil seine Macht offensichtlich nicht zur Geltung kam, so scheint seine Rückkehr kurz bevorzustehen, wenn ich richtig verstanden habe. Und Erdos ist groß. Wie sollen wir es finden und dann auch noch verhindern, dass es wieder in Kryonos´ Hände gelangt?“
„Noch kann es jedenfalls nicht schon wieder aufgetaucht sein“, meinte Fürst Thorgasmund. „Danan´hô, Ihr sagtet, das Achôn-Tharén sei damals mit einem ziemlichen Wirbel in unsere Welt gelangt. Davon, dass sich in jüngster Zeit eine solche Erscheinung ereignet hat, habe ich aber nichts gehört, geschweige denn, sie mit eigenen Augen gesehen. Möglicherweise gibt es ja einen anderen Grund für das Erstarken von Kryonos. Woher kommt diese Kreatur überhaupt, und wie sieht sie aus?“
„Das wollte ich auch gerade fragen“, sagte Adhasil.
„Zumindest die beiden letzten Fragen sind schnell beantwortet“, erklärte Danan´hô. „Kryonos´ Herkunft ist ebenso unbekannt wie die des Achôn-Tharéns. Erst mit dem letzten Krieg gegen ihn trat seine Macht in Erscheinung, und die gefangenen Bestien nannten seinen Namen. Wie lange er sich bereits auf Erdos befunden hatte, weiß ich nicht.“
„Das tut niemand, soweit ich weiß“, meinte Wechis.
„Jedenfalls ist mir noch keiner begegnet, der es zu wissen behauptete. Und seine Gestalt?“ Danan`hô zuckte mit den Achseln. „Vielleicht hat König Merowinth sie noch gesehen, aber dann konnten er und seiner Krieger es niemandem mehr berichten. Wir glauben aber, dass es ein körperliches Wesen ist, auch wenn es sich mit Geistern umgibt.“
„So viel kann ich aber sagen: Kryonos ist tatsächlich ein körperliches Wesen, zumindest haust es als solches in dem Verlorenen Berg“, erklärte Melbart. „Und wenn eure Weisen Recht haben, besitzt er die Gestalt einer monströsen Schlange. Mir ist aber nicht bekannt, dass irgendwer Kryonos außerhalb des Verlorenen Berges zu Gesicht bekommen hat. Es mag schon sein, dass die Einzigen, die ihm jemals ansichtig geworden sind, Merowinth und seine Männer waren. Vielleicht hat sich auch jemand anderes in den Berg hineingewagt, aber davon gibt es keine Kunde.“
„Und was haltet ihr nun von Fürst Thorgasmunds Einwand?“, brachte Adhasil ihn wieder in Erinnerung. „Kann es nicht wirklich so sein, dass das Achôn-Tharén Erdos noch gar nicht erreicht hat?“
„Das ist schwer zu sagen“, meinte Melbart. „Sollte das aber der Fall sein, scheint ihm seine Macht zumindest vorauszueilen. Aber wir sollten nicht sicher sein, dass es bei seiner Ankunft auch dieses Mal wieder so aufsehenerregend in Erscheinung tritt. Es muss ja auch nicht unbedingt über unseren Köpfen wieder in unsere Welt eintreten. Dieses Mal wird es wissen, wo sich Kryonos aufhält. Da erübrigt sich für das Achôn-Tharén eine Suche nach ihm. Vielleicht diente die Art seiner letzten Erscheinung tatsächlich dazu, sich seinem Herrn zu erkennen zu geben.“
„Da sind eine Menge Vermutungen im Spiel“, fand Fürst Hagil.
„Zum jetzigen Zeitpunkt kann es noch nicht viele Gewissheiten geben“, erwiderte Melbart. „Das Spiel, auch wenn es ein etwas unglücklicher Ausdruck dafür ist, hat ja eben erst begonnen. Zu vieles ist noch unklar. Aber alle Anzeichen deuten darauf hin, dass wir zumindest mit unseren Vermutungen hinsichtlich der Bedrohung durch Kryonos nicht falsch liegen, auch wenn die Umstände noch ziemlich nebulös sind.“
„Das ist auch meine Ansicht“, erklärte Danan´hô. „Alle Gedankenspiele über Kryonos und das Achôn-Tharén sind müßig. Entscheidend wird sein, wie wir es schaffen, die Zusammenkunft der beiden zu verhindern, falls uns das überhaupt möglich sein wird.“
„Es wird keineswegs leicht sein, das Achôn-Tharén in unsere Gewalt zu bringen, vielleicht sogar unmöglich“, konnte Melbart nicht verhehlen. „Und doch muss dieser Versuch gewagt werden. Daran gibt es keinen Zweifel. Da sein Aufenthalt seit dem tragischen Ende König Merowinths unbekannt war, ist natürlich auch nicht zu sagen, wo es aufgetaucht sein könnte und wo es sich derzeitig befindet. Vielleicht hat es sich sogar die ganze Zeit auf Erdos befunden und muss hier überhaupt kein zweites Mal ankommen. Aber wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass es auf keinen Fall wieder in die Hände von Kryonos fallen darf, wenn wir das Schlimmste verhindern wollen. Da er seine volle Macht noch nicht entfalten kann, sich aber trotzdem bereits regt, müssen wir annehmen, dass das Achôn-Tharén sich zumindest auf dem Weg zu ihm befindet und bereits auf Kryonos eine gewisse Wirkung ausübt. Aber wir wissen nicht, wie weit es von ihm noch entfernt ist und wie viel Zeit noch bleibt, bis es ihn erreicht. Wir haben also nur eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten. Eine beherzte Gruppe muss sich auf den Weg machen, das Achôn-Tharén im Kepirgebirge, im Namenlosen Land oder in den Nördlichen Winterbergen – eigentlich überall auf Erdos – zu finden, bevor es den Verlorenen Berg erreicht. Eine unter diesen Umständen schier unlösbare Aufgabe, wenn wir ehrlich sein wollen. Doch nur mit diesem verzweifelten Unterfangen haben wir eine Aussicht, einen neuen vernichtenden Krieg zu verhindern. Dass Kryonos Rache will, das ist unzweifelhaft.“
„Ich frage mich, ob ein Krieg gegen Kryonos tatsächlich unvermeidbar ist“, wandte Adhasil ein. „Auf dem Wehrrat wurde allein diese Möglichkeit in Betracht gezogen, obwohl von den Anwesenden zu diesem Zeitpunkt niemand von dem Achôn-Tharén auch nur eine Ahnung hatte, sonst wäre es doch zumindest erwähnt worden. Anscheinend werden von vornherein alle anderen Absichten ausgeschlossen. Welcher Erdaner hätte ihm denn etwas angetan, was einen Krieg unausweichlich erscheinen lässt?“
„Welche anderen Absichten könnte er sonst verfolgen?“, fragte Hagil. „Welchen anderen Grund könnte es haben, dass seine Späher verstärkt in Erscheinung treten? Und wie wir hörten, gab es bereits die ersten Scharmützel. Natürlich kennen wir Kryonos´ Ziele nicht, aber warum sollte er die Überfälle seiner Krieger ausweiten, wenn nicht eben dieser Plan dahintersteckt, auch wenn diese Aussicht für uns nur schwer vorstellbar erscheint?“
„So bedauerlich es ist, aber Hagil sagt die Wahrheit“, meinte Melbart. „Nach all der Zeit mag es tatsächlich schwer vorstellbar sein, es ändert aber nichts an den Tatsachen. Ich könnte euch gleich mehrere Gründe aufzählen, warum er Erdos mit Krieg überziehen wird, wenn er sich dafür wieder stark genug fühlt, aber vielleicht nur dieser eine: Es stimmt nicht, dass ihm niemand etwas getan hat, wenigstens aus seiner Sicht. Immerhin wurde ihm von Erdanern das Achôn-Tharén genommen. Eine für ihn unerträgliche Schmach. Für Kryonos hat die Zeit eine andere Bedeutung als für uns. Ihr, die Völker von Erdos, seid die Nachkommen derjenigen, die ihn einst beraubt haben, und an euch will er sich rächen. Auch wenn für euch dieses Ereignis beinahe undenkbar weit in der Vergangenheit liegt und ihr euch nicht verantwortlich fühlt für das, was damals geschehen ist, für Kryonos macht das keinen Unterschied. Ihr stellt für ihn die damaligen und erfolgreichen Angreifer da. Daher zürnt er euch. Außerdem – Krieg ist sein herausragendes Wesensmerkmal. Er verkörpert ihn. Daher wird ein Krieg unabwendbar, wenn er seine alte Stärke zurückerhält. Und das Achôn-Tharén wird ihm dazu verhelfen.“
„Also bleibt uns wohl nichts anderes übrig als zu tun, was du vorschlägst“, meinte Cai. „Wir werden uns auf die – aussichtslose – Suche nach dem Achôn-Tharén machen müssen. Das ist ein wahrhaft verzweifelter Plan.“
„Gewiss ein verzweifelter Plan, aber unsere einzige Rettung“, sagte Melbart. „Deshalb bat ich dich, an dieser Zusammenkunft teilzunehmen, wenn du auch erst jetzt gehört hast, worum es geht. Ich möchte, dass du dich an dieser Suche beteiligst. Ich sage das nicht ohne Grund, und du wirst ihn zu einem späteren Zeitpunkt auch erfahren. Jetzt kann ich darüber noch nicht reden. Es ist dir bestimmt, jemanden zu begleiten, der euer Anführer sein wird. Du kennst ihn. Sein Name ist Thorgren von Hedau, der Seneschall von König Harismund.“
Cai nickte zögernd.
„Warum soll das meine Bestimmung sein? Was weißt du darüber?“
„Wenn ich dir sage, dass es in den Sternen steht, komme ich den wahren Gründen sehr nahe, doch jetzt ist es noch zu früh, dir Einzelheiten zu nennen“, meinte Melbart. „Nur so viel, Thorgren hat einen besonderen Grund, auf die Suche nach dem Achôn-Tharén zu gehen – als Anführer dieser Gruppe. Dass ihr sogar im engeren Sinne Schicksalsgefährten seid, ist keineswegs übertrieben.“
Damit musste sich Cai zunächst zufriedengeben, obwohl ihm die Äußerungen des Magiers mehr als rätselhaft vorkamen. Aber Melbart war eben ein Magier und sein Wissen für jeden unergründlich.
„Wenn du meinst. Aber ich finde, Thorgren und ich sind ein ziemlich kleiner Haufen, um gegen Kryonos anzutreten. Und wenn uns das Unmögliche tatsächlich gelingt, was dann? Sollen wir diese Zauberkugel zerstören oder wieder zum Rabenberg bringen oder noch besser an einen Ort, von dem Kryonos es sich nicht wieder zurückholen kann.“
„Hüte dich davor, seine Macht zu unterschätzen und mache nicht den Fehler, das Achôn-Tharén als gering zu erachten“, ermahnte ihn Melbart. „Nenne sie nicht abwertend »Zauberkugel«. Das Achôn-Tharén ist nichts, worüber man Späße machen sollte, nicht einmal in der trügerischen Sicherheit unserer jetzigen Umgebung. Es kann gut sein, aber das wollen wir uns lieber nicht vorstellen, dass es uns näher ist, als wir fürchten.“
„Na schön, vielleicht hast du Recht. Aber was meinst du, sollten wir dann tun?“
„Das eine wird nicht einfacher sein als das andere“, antwortete Melbart. „Und was am Ende das Richtige sein wird, hängt von den Umständen ab. Das Richtige kann aber nur sein, Kryonos das Achôn-Tharén endgültig zu nehmen, denn nur so erreichen wir, dass er, Runloc und seine sinisteren Geister jemals wieder in unserer Welt wirksam werden können.“
„Warum eigentlich überhaupt diese geheime Zusammenkunft?“, fragte Cai. „Wenn nur Thorgren und ich dazu ausersehen sind, diesen Angriff auf Kryonos zu wagen, hätte es doch ausgereicht, wenn wir das zu dritt beschlossen hätten.“
„Ich würde dir zustimmen, wenn es sich so verhielte. Aber ihr beiden hättet tatsächlich wenig Aussicht, gegen ihn zu bestehen. Kein großes Kriegsheer könnte jedoch mehr gegen Kryonos ausrichten, als eine kleine Kriegerschar. Er würde seinen Anmarsch bemerken und es zurückschlagen. Wenn er auch noch nicht stark genug ist, über die Länder von Erdos herzufallen, seine Macht reicht inzwischen aus, um sich in seinem Herrschaftsbereich zu verteidigen. Es werden aber mehr sein als ihr beiden, so viel kann ich dir versprechen. Und ihr müsst bald aufbrechen, solange der Feind nur wenige Späher in unseren Ländern hat und ihr euch noch sicher bewegen könnt. In den östlichen Ländern wird es bereits gefährlich sein. Über eines aber kann ich euch noch aufklären. Es gibt nur noch sieben Schwarze Geister, denn sechs von ihnen konnten während des Großen Krieges getötet werden. Ob die geringere Anzahl jedoch auch die Gefahr verringert, wage ich zu bezweifeln, denn auch sieben dieser Geister sind über alle Maßen gefährlich. Im Übrigen steht ihr Name weniger für die Art ihrer Erscheinung, als vielmehr für ihre Fähigkeit, finstere Künste anzuwenden. Im letzten Krieg traten sie als Drachen auf, Nebeldrachen oder Kimocs. In welcher Erscheinung sie Kryonos dieses Mal ins Feld führen wird, weiß jedoch nur er allein.“
„Und doch kann man ihnen anscheinend beikommen?“, meinte Fürst Thorgasmund.
„Nicht mit herkömmlichen Waffen“, widersprach Melbart.
In diesem Augenblick räusperte sich Adhasil: „Über eintausend Jahre war Kryonos das Achôn-Tharén vorenthalten gewesen, und er war geschwächt in dem Verlorenen Berg gefangen. Warum ist niemals ein Versuch unternommen worden, ihn in diesem – ungefährlichen – Zustand zu vernichten?“
„Eure Frage ist berechtigt“, erwiderte Melbart. „Aber so einfach sind die Dinge nicht. Auch in diesem Zustand war er keineswegs so ungefährlich, wie Ihr glaubt. Aber entscheidender ist, dass das Wesen Kryonos nicht getötet werden kann. Vielleicht wäre es möglich gewesen, seine jetzige Erscheinung zu vernichten, doch er würde in anderer Gestalt wieder auftauchen, wenn das Achôn-Tharén freikommt. Das bedeutet, auch wenn sein Leib zerstört worden wäre, würde Kryonos uns in einer anderen Verkörperung in dieser Zeit erneut als Gegner bedrohen. Die einzige Möglichkeit ist, ihn zu schwächen, und zwar möglichst für immer. Das kann nur geschehen, in dem wir dafür sorgen, dass er nie wieder in den Besitz des Achôn-Tharéns kommt. Und das kann vernichtet werden. Außerdem habt Ihr gehört, dass sich die ausgeschickten Krieger Her´eldans nicht in die tieferen Höhlen des Verlorenen Berges hineinwagten. Und das hatte nichts mit Mutlosigkeit zu tun. Kryonos ist auch ohne das Achôn-Tharén nicht so vollkommen machtlos, dass jeder bei ihm hineinspazieren könnte. Seine Angst verbreitende Ausstrahlung war dort auch nach dem Krieg immer noch gegenwärtig. Dass es schließlich nicht versucht wurde, ihn zu töten, hatte allerdings eine übergeordnete Ursache. Es mag schwer zu verstehen sein, aber es wäre von höheren Wesen verhindert worden. Kryonos kann nicht nur nicht sterben, er darf auch nicht sterben.“
Zweifelnde, verständnislose Blicke fielen auf den Zauberer.
„Aber Cai und Thorgren dürfen ihr Leben aufs Spiel setzen für ein Unternehmen, das von höherer Seite verhindert wird“, meinte Fürst Hagil. „Wie soll ich das verstehen?“
Melbart sah ihn ein wenig verzweifelt an und war bemüht, gelassen zu bleiben.
„Ich fürchte, Ihr habt es noch nicht verstanden“, meinte er. „Bei diesem Auftrag geht es um das Achôn-Tharén, nicht um Kryonos. Deshalb ist es so entscheidend, es in unsere Gewalt zu bekommen, bevor Kryonos es wieder besitzt. Dann wird seine Zerstörung auch nicht notwendig sein. Das Achôn-Tharén ist das Ziel, nicht Kryonos.“
„Also gut“, sagte Cai schließlich. „Eine Art Raubzug, auf den du uns schicken willst.“
„So könnte man es nennen“, bestätigte Melbart. „Und jetzt will ich dich auch nicht länger auf die Folter spannen, denn es wird Zeit, eure weiteren Weggefährten zu benennen. Wie du dir denken kannst, werden sie aus diesem Kreis gewählt werden. Allerdings kann sich nicht jeder, der hier in diesem Raum ist, an der Suche beteiligen. Es muss eine kleine, unauffällige Schar sein.“
„Also wie damals die Schar von König Merowinth“, meinte Fürst Thorgasmund.
„Es gibt keinen anderen Weg“, sagte Melbart. „Sein Versuch war jedoch nicht völlig erfolglos, wie der Ausgang des Krieges bewies. Auch wenn das Achôn-Tharén am Ende ihr Verhängnis wurde, so war Kryonos doch für lange Zeit geschwächt.“
„Trotzdem verheißt das Ende ihrer Fahrt nicht viel Gutes für uns, finde ich“, sagte Cai.
„Wie sollten uns der Gefahren durchaus bewusst sein.“
„Vielleicht ist es dieses Mal jedoch von Vorteil, wenn Scharen von Kundschaftern im Feindesland unterwegs sind“, meinte König Wechis. „Es mag die Hoffnung bestehen, dass der Gegner durch sie von dem Suchtrupp abgelenkt wird.“
„Hoffnung für Thorgren, aber nicht für die Kundschafter, wenn sie Kryonos´ Aufmerksamkeit erregen“, meinte Fürst Hagil. „Ihr Auftrag birgt immerhin die Gefahr einer Entdeckung, mit allem, was sie zu fürchten haben. Daher ist es notwendig, dass sie nichts von Thorgren und seiner Schar wissen.“
„Ich denke auch, das wird besser sein“, sagte Melbart. „Jetzt wollen wir überlegen, wer alles gehen soll. Auf jeden Fall sind Thorgren und Cai dabei. Da alle Völker bedroht sind, wäre es geboten, wenn auch Vertreter von den Namurern und den Valedrim-Elfen teilnähmen.“
Danan´hô hatte sich bereits mit seinen Begleitern beraten, da er von Melbart einen Hinweis erhalten hatte, was er plante, und sagte: „Ken´ir wird für die Elfen dabei sein. Er ist ein erfahrener Krieger und ausgezeichneter Bogenschütze.“
„Wenn König Wechis nichts dagegen hat, werde ich selbst auch mitreiten“, schlug Fürst Hagil vor. „Fürst Thorgasmund, meinem Vetter, vertraue ich, die Geschäfte meines Fürstentums zu führen, zumal unsere beiden Herrschaftsgebiete aneinandergrenzen.“
„Hm, gern bin ich dazu nicht bereit“, gestand König Wechis. „Aber gut. Und es ist wahr, dass Fürst Thorgasmund Euch angemessen vertreten kann. Und doch halte ich Euch nicht für leicht ersetzbar. Es sei also.“
„Ich will nicht unbeteiligt an dieser Unternehmung sein“, forderte Fürstin Adhasil. „Wenn ihr einverstanden seid, stelle ich euch Ritter Siegfried an die Seite. Er ist einer der besten Männer meines Vaters. Es wäre eine Schande für mich und unser Haus, an dieser geheimen Versammlung teilgenommen, aber nicht zu einem Erfolg der Suche beigetragen zu haben.“
„Ich kann Fürstin Adhasil gut verstehen und unterstütze ihren Vorschlag“, meinte Fürst Hagil.
In diesem Augenblick schmunzelte Melbart wissend in sich hinein, ohne dass einer der Anwesenden davon etwas merkte. Nur seine Augen blitzten listig auf.
„Ich denke“, meinte er, „wir sollten ihrer Forderung nachkommen, denn nicht umsonst bat ich die Fürstin, an dieser Versammlung teilzunehmen. Außerdem werden wir vielen Gefahren begegnen, die gute Kämpfer erfordern. Schließlich werde ich selbst auch mitgehen.“
Diese Überraschung wurde von allen mit Freude aufgenommen. Fürstin Adhasil kündigte an, sofort abzureisen, um Ritter Siegfried umgehend an König Wechis´ Hof zu schicken, wo er in spätestens drei Tagen zur Gruppe aufschließen sollte.
„Ich denke, diese Anzahl wird genügen. Somit hätten wir unsere kleine Schar beisammen, und es ist nach allem eine sehr mutige Schar“, stellte Melbart fest.
Als Teilnehmer wurden also schließlich folgende Vertreter der verschiedenen Völker benannt: Thorgren, Seneschall des Königs Harismund; der Magier Melbart; Ken´ir, Valedrim-Elf; Cai, Ritter der Reiterei König Harismunds; Hagil, Fürst von Schwarzwasser sowie Ritter Siegfried, Krieger der Fürstin Adhasil. Schließlich kamen noch Hauptmann Urth vom Eschenbach, Offizier der Wache am Hof von Fürst Thorgasmund dazu, der ebenfalls Wert darauf legte, dass jemand von seinen Leuten an dem Unternehmen teilnahm – und Angholt, der Sohn von König Wechis.
Nur der König selbst ahnte, wie sein Sohn von der Suche erfahren haben konnte. Es gab einige Möglichkeiten des Lauschens und Angholt hatte seine jugendliche Neugierde von seiner Mutter geerbt. Nachdem Angholt seinen Vater endlich überredet und die anderen ihr Wort gegeben hatten, auf seinen unerfahrenen Sohn zu achten, was wiederum Angholt nicht recht gefallen wollte, willigte Wechis schließlich schweren Herzens ein.
Angholt war der Jüngste in der Gruppe, und er war noch niemals außerhalb des Grünlandes gewesen. Wechis sträubte sich sehr, ihn mitgehen zu lassen, doch es waren nicht nur die Überredungskünste seines Sohnes, die ihn schließlich einlenken ließen. Ein inneres Verlangen, dem sich der König nicht bewusst war, beherrschte ihn in diesem Augenblick. Er erklärte es sich später mit der Einsicht, dass ein wenig Ruhm und Ehre seinem Hause nicht schaden konnten. König Wechis erfuhr nie, dass er diesen Entschluss nicht aus freien Stücken gefällt hatte. Genauso wenig ahnte er, dass die Auswahl der Teilnehmer an diesem Unternehmen nicht zufällig getroffen worden war. Nur Melbart hätte ihm das erklären können, aber der schwieg.
Somit waren sie zu acht: ein Zauberer, dessen Herkunft unbekannt war, zwei Seenländer, ein Elf und vier Namurer.
„Da wir zuerst mit Thorgren zusammentreffen müssen“, eröffnete Melbart seinen Plan für die erste Zeit nach dem Aufbruch, „werden wir zunächst durch den Valedrim-Wald nach Westen reiten, ihm entgegen. Wir werden in etwa einer Woche aufbrechen. Ich selbst muss vorher noch etwas erledigen und will versuchen, einen geeigneten Treffpunkt für uns auszumachen, werde aber rechtzeitig wieder zurück sein.“
Melbart verließ umgehend den Hof, um Thorgren zu treffen, wovon er den anderen aber zunächst nicht ausdrücklich etwas gesagt hatte, obwohl es einige ahnten. Außerdem war in der kommenden Woche ein Rat seines Ordens einberufen worden, an dem er teilnehmen musste. Das hatte Melbart erklärt.
Die Zeit bis zum Aufbruch verbrachten die Auserwählten mit allen möglichen Reisevorbereitungen, die unter größter Geheimhaltung stattfanden. Nach wenigen Tagen stießen Ritter Siegfried und Hauptmann Urth vom Eschenbach dazu. Ken´ir hatte zwar noch nicht alle Ausrüstung dabei, kam aber auf dem ersten Abschnitt der Fahrt ohnehin noch einmal in seine Heimat, um fehlende Gerätschaften zu ergänzen.
Unter der Aufsicht von König Wechis wurde über die Zielgebiete der Kundschafter beraten und deren mögliche Routen auf Landkarten festgelegt. Außerdem musste entschieden werden, wie die Botschaften der Späher an den Hof von König Wechis gelangen konnten. Es war klar, dass das Land des Gegners für einzelne Reiter zu gefährlich war, daher wurde den Spähtrupps untersagt, Boten zurückzuschicken. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie von feindlichen Kriegern abgefangen wurden und die Botschaften deshalb nicht den Empfänger erreichten, wäre zu groß. Stattdessen sollten die Scharen geschlossen zurückkehren, wenn sie ausreichend Nachrichten gesammelt hatten. Zu entscheiden, wann das der Fall war, blieb den Anführern überlassen.
Bis zum Tag der Musterung der Kundschafter fanden sich über dreihundert Freiwillige in Weißanger ein, die an diesem gefährlichen Abenteuer teilnehmen wollten. Tags darauf wurden kleine Scharen gebildet und mit verschiedenen Befehlen nach Norden und Osten ausgesandt. Als der letzte Trupp den Königspalast verließ, blickte Wechis nachdenklich hinter ihm her und fragte sich, wie viele von diesen tapferen Kriegern überhaupt ahnten, worauf sie sich eingelassen hatten. Nicht alle würden wieder heimkehren. Aber es waren Krieger. Sie würden wissen, was sie bei Gefahr tun mussten. Außerdem war jetzt nicht die Zeit für wehmütige Gedanken.
An diesem Tag kam auch Melbart wieder zurück. Die Gefährten und der König versammelten sich ein letztes Mal im Kaminzimmer.
„Die Kundschafter sind also auf dem Weg“, stellte Wechis fest. „Es wird jedoch Wochen dauern, bis ich die ersten Nachrichten erhalten werde. Nach den letzten Meldungen gab es in dieser Woche wieder zwei Überfälle. Der eine wurde aber durch die nunmehr alarmierten Grenzwachen rasch abgewehrt. Es gelang ihnen, zwei verwundete Bestien, Wolfelfen, zu fangen. Bevor sie verhört werden konnten, bereiteten sie sich aber gegenseitig ein Ende. Es gibt also nichts Neues, außer die Hoffnung, dass der Feind nun vielleicht etwas vorsichtiger sein wird. Allerdings sind die Krieger durch eine bisher noch nicht gemachte Beobachtung beunruhigt. Einige Male wurden undeutliche Schatten, die aussahen wie dunkle, schnell dahinziehende Wolken, gesichtet. Sie kamen aus dem Osten und schwenkten in Richtung Süden. Die Erscheinungen flogen sehr hoch und offensichtlich auch vor dem oder gegen den Wind. Sie waren so unklar in ihren Umrissen, dass es unwahrscheinlich Vögel gewesen sein können. Durch Zufall erfuhr ich vor wenigen Tagen, dass an dem Morgen des Wehrrates über Weißanger ein ähnliches Gebilde kreiste. Ein Junge, der an einem Brunnen Wasser holte, hat es beobachtet, und obwohl es sehr hoch flog, spürte er eine unheilvolle Ahnung, wie sie auch von den Grenzposten empfunden wurde. Hätte eine aufmerksame Wache nicht zufällig gehört, wie der Junge die Beobachtung aufgeregt seinem Vater erzählte, und es mir später gemeldet, hätte ich nie davon erfahren. Ich befragte den Jungen daraufhin selbst und vermute jetzt, dass diese Erscheinung irgendein Späher des Feindes war, was bedeutet, dass Kryonos auch über fliegende Späher verfügt, womit sich die Gefahr einer Entdeckung vergrößert.“
„Ihr vermutet richtig“, bestätigte Melbart. „Auch ich sah einen solchen Schatten bei meiner Rückkehr. Doch es war nicht irgendein Späher. Das war der erste Nebeldrachen über Weißanger in dieser Auseinandersetzung mit Kryonos. Es war ein Kimoc, wie sie auch genannt werden. Sie sind sowohl Kundschafter als auch gefürchtete Kämpfer. Ich kenne sie noch aus dem Krieg gegen Kryonos. Sie sind Halbgeister und zeigen sich umso deutlicher und schrecklicher, je mächtiger Kryonos wird. Jeder dieser Kimocs wird von einem Schwarzen Geist beherrscht. Wir haben es also insgesamt mit sieben Kimocs zu tun. So bedrohlich ihre Erscheinung bereits wirken mag, Kryonos ist noch zu schwach, als dass sie wirklich handeln könnten. Daher wird er sie nur als Späher einsetzen. Einerseits verbreiten sie eine spürbare Bedrohung, andererseits deuten sie uns aber auch an, dass Kryonos´ Erstarken noch nicht vollendet ist. Aber täuschen wir uns nicht. Es gibt wenig, was den Kimocs entgeht. Seien wir also umso mehr auf der Hut und uns bewusst: Erreichen die Nebeldrachen ihre volle Stärke, werden sie grausame Gegner und mit gewöhnlichen Waffen nicht mehr zu besiegen sein. Ich habe sie selbst im Kampf beobachtet. Sie haben eine heimtückische List. Wie ihr aus den Überlieferungen wisst, erfolgen Angriffe der Bestien häufig in Verbindung mit einem rätselhaften Nebel. Ich vermute, dass der ungewöhnliche Nebel, von dem Marschall Cron sprach, durch einen Nebeldrachen verursacht wurde. Im Schutz eines solchen Nebels nähern sie sich Feinden, daher ihr Name. Erst kurz vor dem Kampf nehmen sie ihre wirkliche Gestalt an. Ich habe es selbst gesehen. Nur die Speere des Rigulf, magische Waffen, können sie töten. Allerdings können sie diese Taktik nur bei diesiger Luft oder natürlichem Nebel anwenden. In der Nacht oder am lichten Tag verliert sie ihre Wirkung. Nun noch etwas: Gestern traf ich Thorgren wieder. Er befand sich am Hof König Zethimers in Schibrasch-dim. Auch wenn dich dieser Sachverhalt erstaunen mag, Cai, er befand sich dort im Auftrag eures Königs, über den hier allerdings nicht gesprochen werden braucht. Wichtiger ist, dass sich Thorgren jetzt auf dem Weg zu den Schwarzen Sümpfen befindet. Wir werden ihn an den Stromschnellen der Dagau treffen.“
Cai sah Melbart überrascht an, als dieser erwähnte, dass Thorgren im Land-Der-Vielen-Feuer weilte, unterbrach den Magier aber nicht.
„Wenn der Gegner seine Späher schon bis hierherschickt“, sagte er stattdessen, „wäre es dann nicht vernünftig, nur nachts zu reiten?“
„Das halte ich noch nicht für nötig“, meinte Melbart. „Es ist zwar richtig, dass er seine Nebeldrachen bis hierher und wahrscheinlich auch in andere Länder schickt. Aber er weiß nicht, was wir vorhaben. Und wenn wir bei unserem Aufbruch unauffällige Reisekleidung tragen, wird es für ihn so aussehen wie eine gewöhnliche Reiterschar, die in den Valedrim-Wald zieht, falls er überhaupt Nachricht über uns erhält, denn Erdos ist groß, und er kann nur sieben Kimocs ausschicken. Auch diese Wesen können nicht überall zur gleichen Zeit sein. Wir haben also durchaus berechtigte Hoffnung, unentdeckt zu bleiben – vorläufig jedenfalls.“
Für manch einen waren das nur sehr eingeschränkt beruhigenden Aussichten.
Der Aufbruch war für den nächsten Morgen bestimmt. Die letzten Reisevorbereitungen waren bereits am Nachmittag des Vortages getroffen worden. Was dem Einzelnen noch fehlte, damit wurde er von König Wechis ausgestattet. Melbart, der die meiste Zeit seines Lebens auf Schusters Rappen unterwegs und am Tag zuvor auf ebensolche Weise von seinem Ausflug wieder zurückgekehrt war, wie alle glaubten, suchte sich für diese Fahrt den Schimmel Dicuil aus, eines der schönsten Tiere aus der königlichen Zucht. Wechis war aber erst bereit, ihn wegzugeben, als Melbart ihm hoch und heilig versprach, das Tier gesund wieder zurückzubringen. Für die zusätzliche Ausrüstung bekam jeder, bis auf den Magier und Ken´ir, noch ein Packpferd gestellt. Der Zauberer besaß nur wenig, und das fand in zwei kleinen Taschen Platz. Der Elf verzichtete ebenfalls auf ein zusätzliches Pferd.
Nach einer kurzen Nacht versammelten sie sich im Morgengrauen am Burgtor.
„Es fällt mir nicht leicht, euch auf eine so gefahrvolle Reise gehen zu sehen“, sagte König Wechis. „Aber nichtsdestoweniger würde ich euch trotzdem gern begleiten. Meine Geschäfte lassen es aber leider nicht zu. Ich wünsche euch allen und demjenigen, den ihr begleiten werdet, einen glücklichen Ausgang der Reise. Du, Angholt, sei vorsichtig und pass´ auf dich auf, Junge. Kehre heil wieder heim.“
„Keine Sorge, Vater, ich weiß schon auf mich zu achten“, versuchte Angholt seinen Vater zu beruhigen. „Und in der Not habe ich ja auch noch meine Freunde.“
Beide umarmten sich zum Abschied.
„Auf nun. Ich wünsche euch eine gute Fahrt, und auf das wir uns alle wiedersehen werden. Mögen die Götter gnädig über euch wachen“, gab der König ihnen mit auf den Weg.
„Wenn die Götter mit uns sind, haben wir wenig zu befürchten“, gab Melbart zurück und schwang sich erstaunlich geschmeidig auf sein Pferd.
Die anderen waren bereits aufgesessen. Die Packpferde, in einer Reihe hintereinander gebunden, wurden von Ritter Siegfried geführt, der an letzter Stelle ritt.
Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt, und Astur würde in Kürze am östlichen Horizont aufgehen, als die Schar Weißanger in Richtung Süden verließ.