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17. Auf dem Trollsteig

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Sie hatten Elim´dor hinter sich gelassen und befanden sich auf der gut ausgebauten Waldstraße: Melbart, Ken´ir, Adhasil, Angholt, Hagil, Urth und zu guter Letzt Cai. Diese Straße war breit genug, um zwei entgegenkommenden Pferdegespannen ausreichend Platz zu lassen, aneinander vorbeizufahren, ohne sich gegenseitig zu behindern. Es gab jedoch nur wenig Verkehr. Gelegentlich begegneten ihnen kleine berittene Kriegerscharen oder einzelne Wanderer. Es waren ausnahmslos Elfen. Angholt, der neben Ken´ir ritt, erfuhr von dem Elfen, dass dieser Teil des Valedrim-Waldes nur äußerst selten von Angehörigen anderer Völker bereist wurde. Und dann waren es meistens seenländische Boten auf dem Weg in die Hauptstadt des Valedrim-Volkes. Angholt stellte sich vor, dass sie in der Begleitung der Eskorte für andere Elfen fast wie Gefangene aussehen mussten, und lächelte.

Entlang der Straße erstreckte sich der undurchdringliche Wald. Von Zeit zu Zeit entdeckten die Reiter schmale Pfade, die in den Wald hineinführten. Es gab neben der Hauptstadt viele verstreute Siedlungen, aber sie waren klein und nur über eben diese Pfade erreichbar. Für Nicht-Elfen wären diese Ansiedlungen trotzdem schwer auffindbar gewesen. Die Elfen lebten teilweise in Baumhäusern, teilweise hatten sie auf der ebenen Erde gebaut.

Die Baumhäuser der Elfen waren nicht vergleichbar mit den Hütten, die Menschenkinder gern in den Kronen von Bäumen zusammenzimmern, sondern viel großzügiger, wohnlich und gemütlich. Sie boten auch einer größeren Anzahl von Bewohnern Platz, denn sie stützten sich entweder auf mehrere Bäume oder sie nutzten ganz bestimmte Arten, die, reich verästelt, gewaltige Wipfel auf einem kräftigen Stamm ausbildeten. Die Elfen bauten ihre Behausungen so geschickt, dass sie von Fremden leicht übersehen werden konnten.

Die Valedrim hatten eine sehr wirkungsvolle Weise entwickelt, sich untereinander zu warnen, wenn Gefahren auftauchten und bisher war es noch keinem Seenländer oder Namurer gelungen, sich unbemerkt den elfischen Wohnstätten zu nähern. Angholt wunderte sich, warum es notwendig sein sollte, den Wald so genau zu beobachten. Ken´ir erklärte: „Es stimmt, im Valedrim-Wald leben nur Elfen, und andere Völker waren bisher keine Bedrohung für uns, aber es gibt andere Gefahren, von denen ihr nur die wenigsten kennt. Darunter befinden sich welche, von denen Ihr Euch gewiss wünscht, ihnen nicht zu begegnen. Munas sind nur ein Beispiel. Der Wald ist groß und bietet Schlupflöcher für manche seltsamen Geschöpfe. In den Jahrhunderten, in denen mein Volk hier lebt, ist es uns immer noch nicht gelungen, ihn vollständig zu erforschen. Ein Grund dafür ist der sonderbare Umstand, dass der Wald selbst sich verhält wie ein Lebewesen. Er dehnt sich zwar nicht mehr aus, aber er verändert sich. Und wir können von Glück reden, dass er uns, die Elfen, in sich duldet.“

Angholt war begeistert. Er nahm sich vor, nach dieser Fahrt König Nôl´taham um Erlaubnis zu bitten, den Wald genauer unter die Lupe nehmen zu dürfen. Vielleicht gelang es ihm sogar, das eine oder andere Geheimnis zu lüften. Der Gedanke, dass die Elfen vielleicht die geduldigeren und kenntnisreicheren Erforscher des Waldes waren, kam Angholt in diesem Augenblick nicht.

Bis zum Abend geschah nichts von dem, was sich Angholt in seiner Vorstellung ausgemalt hatte, denn natürlich erfuhr man in diesem Wald keine Überraschungen auf Schritt und Tritt. Man konnte ihn sogar sein halbes Leben auf der Hauptstraße hin- und herbereisen, ohne dass einem überhaupt etwas Außergewöhnliches begegnete.

Bei Einbruch der Dämmerung erreichten sie eine kleine Lichtung neben der Straße, die geeignet war, als Lagerplatz zu dienen. Nur wenige Schritte in den Wald hinein verlief ein kleiner Bach, der kristallklares Wasser führte. Kil´anor befahl zweien seiner Krieger, mit ihren Schwertern den Pfad auszubessern, der bereits von der Lichtung zum Bach bestand, damit sie ihn bequemer erreichen konnten. Es gab genügend trockenes Holz für ein Lagerfeuer.

Kil´anor und Ken´ir, die den Wald am besten kannten, beschlossen, um das Lager herum noch einige weitere kleine Feuerstellen einzurichten, um wilde Tiere, die sicher in der Nähe herumschlichen, davon abzuhalten, bis zu ihnen vorzudringen. Außerdem sollten während der Nacht ständig zwei Krieger Wache halten.

Nachdem die Reisenden ihre Abendmahlzeit eingenommen hatte, bereiteten sie ihre Schlaflager. Hier und dort hörte man das Murmeln von Gesprächen, doch insgesamt ging es sehr leise zu. Niemand wagte aus unerfindlichen Gründen, laut zu sprechen.

Einigen erschien der Wald in der Nacht noch seltsamer und fremdartiger als am Tage. Regelmäßig gingen die Wachen schweigend durch das Lager, um frisches Holz in die Feuer zu werfen.

Um diese Zeit wurden Geräusche wahrnehmbar, die tagsüber nicht zu hören waren. Nachtvögel zerrissen mit ihren schrillen Schreien jäh die Stille des nächtlichen Waldes. In den Wipfeln der Bäume knackten und rauschten leise die Äste, wenn sich unsichtbare Tiere durch sie hindurchbewegten. Ein fernes Brüllen und anschließendes jammervolles Kreischen ließ vermuten, dass ein jagendes Tier seine Beute zur Strecke gebracht hatte. Rings um das Lager vernahmen sie ein verhaltenes Rascheln und Knistern.

„Unheimlich ist es hier“, flüsterte Angholt Urth zu. Er hatte seine Schlafstatt neben der des Hauptmanns aufgeschlagen. „Dagegen kommen mir unsere Wälder des Nachts geradezu anheimelnd vor. Hier möchte ich nach Einbruch der Dunkelheit nicht allein die Straße entlangwandern müssen. Ich bin froh, dass wir Wachen aufgestellt haben.“

All die Gedanken an Abenteuer und die Enträtselung uralter Geheimnisse, die Angholt im hellen Tageslicht mit der Begeisterung des Entdeckers erfüllt hatten, waren in diesen Nachtstunden vergessen. Urth musste schmunzeln. Er saß aufrecht auf seiner Decke und sog ruhig den Rauch seiner Pfeife ein. Die Ringe, die er geübt aufsteigen lassen wollte, misslangen ihm allerdings gründlich. Er blickte zu Angholt.

„Sind wir denn keine Krieger, die auch eine etwas unheimlichere Umgebung nicht zu erschüttern vermag?“, fragte er Angholt. „Sieh dir die Elfen an. Keine Spur von Unruhe. Also haben wir auch nichts zu befürchten. Jedenfalls nicht, solange wir im Kreis der Feuer bleiben. Ich für meinen Teil fühle mich sicher.“

Kurz darauf wurden Urths Worte durch einen Zwischenfall von der Art, wie ihn Ken´ir vor nicht langer Zeit erwähnt hatte, ohne ihn näher zu beschreiben, Lügen gestraft. Ein Geräusch, das sich wie ein sehr schnelles Kriechen anhörte, erreichte sie von der gegenüberliegenden Seite des Lagerplatzes. Es kam aus dem Wald. Im gleichen Augenblick waren ein unterdrücktes Würgen und heftig schlagende Zweige zu vernehmen. Im Schein der Feuer konnte aber niemand etwas erkennen. Noch bevor die Wachen nachsehen konnten, was geschehen war, sprang Adhasil, die dieser Stelle am nächsten lag, auf und zog ihr Schwert. In wenigen Sätzen griff sie sich eine brennende Fackel und verschwand im Wald. Schon ertönten Kampfgeräusche.

Kurz darauf trafen die beiden Wachen ein, und auch die anderen hatten sich jetzt erhoben und näherten sich dem Ort des Geschehens. Obwohl im unruhigen Schein von Fackeln außer den sich bewegenden Ästen nichts zu sehen war, hörten sie das Niedersausen von Schwertern und das schmatzende Geräusch, wenn sie ins Fleisch des unsichtbaren Gegners fuhren. Daneben erschallten die wütenden Rufe Adhasils, die Stimmen der Elfenwachen und wieder ein erstickendes Würgen. Doch schließlich verstummte der Lärm und wurde von dem verzweifelten Luftholen eines Mannes abgelöst. Dann kam die Fürstin, schwer atmend und am ganzen Körper mit Blutspritzern bedeckt, wieder auf die Lichtung, gefolgt von den zwei Wachen, die Cai zwischen sich stützten. Als Letzter erschien Kil´anor. Aufgespießt auf einer Speerspitze hielt er eine ungewöhnliche Trophäe – den abgeschlagenen Kopf einer außerordentlich großen Schlange.

„Was ist geschehen?“, fragte Melbart, obwohl er es sich bereits denken konnte.

Cai hatte sich auf den Boden gesetzt und hielt seinen Brustkorb mit beiden Armen umschlungen. Er hatte immer noch Mühe, Luft zu bekommen. Kil´anor hielt den Schädel der Schlange hoch. Er war fast so groß wie ein Pferdekopf.

„Ein Serpan“, erklärte er. „Eine der größten Würgeschlangen in unserem Wald. Sie sind nicht giftig, aber schnell und kräftig. Vielleicht würde Cai nicht mehr leben, wenn die Fürstin nicht so entschlossen und rasch eingegriffen hätte.

Melbart untersuchte Cai. Es war nichts gebrochen, doch der Magier prophezeite ihm für einige Tage Schmerzen beim Atmen.

„Du hattest wirklich Glück“, bestätigte er die Worte Kil´anors. „Das war knapp. Ich schätze, du musst Adhasil dankbar sein.“

„Du kannst wohl glauben, dass ich das bin“, sagte Cai etwas gequält.

„Was habt Ihr denn dort im Wald gesucht?“, fragte Ken´ir.

Langsam kam Cai wieder zu Kräften und atmete schon wieder ruhiger. Er lächelte etwas verlegen.

„Ich musste ein körperliche Bedürfnis stillen“, sagte er, „was man besser nicht vor den Augen der Anwesenden erledigt.“

Trotz des beinahe üblen Ausganges dieser Geschichte mussten einige lachen.

„Ich war schon fast wieder im Lager, als mich dieses Biest erwischte“, fuhr Cai fort. „Ich hatte kaum gefühlt, dass mich etwas berührte, als ich die ersten sprühenden Funken vor Augen sah und mir die Luft aus der Lunge gedrückt wurde. Dann sah ich, bevor ich beinahe ohnmächtig wurde, im Fackelschein ein glänzendes Schwert und überall um mich herum war Blut. Schließlich ließ der Druck auf meiner Brust nach und kräftige Arme schleppten mich ins Freie. Fürstin, Ihr habt mir wohl tatsächlich das Leben gerettet. Ich hoffe, es wiedergutmachen zu können.“

„Aber nicht unter solchen Umständen“, meinte die Fürstin nur. „Ich freue mich aber, Euch noch unter den Lebenden weilen zu sehen. Jetzt wäre ich dankbar, wenn mich einige bewachen würden, während ich mich am Bach wasche.“

Fürst Hagil und zwei Elfenwachen folgten ihr, hielten sich aber in taktvoller Entfernung, bis sie fertig war.

Melbart half Cai wieder auf die Beine und brachte ihn zu seinem Lager. Kil´anor wandte sich noch einmal mit warnenden Worten an die Gruppe: „Ihr habt gesehen, welche Gefahren außerhalb des Feuerringes lauern, und wir Elfen wissen, dass der Serpan nicht die größte ist. Ich bitte also jeden unserer Gäste, das Lager nicht mehr allein zu verlassen, bevor es wieder hell ist. Trotzdem hatte diese unbeabsichtigte Unvorsichtigkeit Cais auch etwas Gutes. Das Fleisch dieser Schlange ist sehr wohlschmeckend. Es wird ein gutes Frühstück abgeben.“ Und schmunzelnd fügte er hinzu: „Klein genug sind die Stücke ja schon.“

Nach diesem Vorfall dauerte es eine Weile, bis wieder Ruhe einkehrte. Doch schließlich waren nur noch die Wachen auf, und es geschah nichts mehr, was den Schlaf der anderen störte. Nur Cai tat sich etwas schwer. Nicht nur wegen der immer noch unangenehmen Schmerzen in seiner Brust. Er kämpfte die halbe Nacht gegen menschenfressende Schlangen, aber gegen Morgen war er dann so erschöpft davon, dass er doch noch in einen kurzen Schlummer fiel.

Noch im Halbschlaf zog Cai ein angenehmer Bratenduft in die Nase. Er war sich sicher, dass das nicht mehr zu seinem letzten Traum gehörte. Es fiel ihm aber schwer, die Augen zu öffnen, um den Ursprung des Duftes herauszufinden. Um sich herum hörte er die Stimmen seiner Gefährten. Als es ihm dann endlich gelang, seine Augen aufzuschlagen, sah er über sich die bewegungslosen Wipfel der Bäume in der Morgendämmerung. Nebelfetzen krochen langsam über ihn hinweg und er fror. Cai versuchte sich aufzurichten, fiel aber stöhnend wieder zurück. Erst beim zweiten Versuch gelang es ihm. Die anderen waren bereits dabei, ihre Ausrüstung zusammenzupacken. Mühsam stand er auf und wankte zum Bach, um sich zu erfrischen. Urths Angebot, ihn zu stützen, lehnte er ab, obwohl es ihm nicht leichtfiel. Neben ihm kniete Angholt, der sich auch gerade wusch.

„Ich hoffe, es geht Euch heute Morgen wieder etwas besser“, sagte er, obwohl der Gesichtsausdruck Cais dem erkennbar widersprach.

„Es könnte mir gar nicht besser gehen“, erwiderte Cai knurrend, doch sein Galgenhumor war nicht zu überhören.

Aber nach einigen Handvoll kaltes Wasser fühlte Cai sich dann wirklich besser.

Die geheimnisvollen Geräusche des Waldes waren um diese Zeit verstummt, und die Tagvögel hatten wieder ihren Platz in der Geräuschkulisse übernommen. Und sie gaben sich redlich Mühe. Einige der Elfen Kil´anors hatten die Reste des Serpans zubereitet und brieten sie über dem Feuer. Wie der Anführer der Elfen versprochen hatte, schmeckte das Fleisch der Schlange tatsächlich vorzüglich. Das musste schließlich auch Cai zugeben. Nach anfänglicher Ablehnung hatte er sich dann doch entschlossen, von dem Tier zu kosten. Und nach dem ersten Bissen nahm er sogar noch mehrere Stück des Bratens. Nicht nur, weil das Fleisch wirklich delikat war, sondern weil es ihm eine außerordentliche Genugtuung bereitete, seinen nächtlichen Todfeind zu verspeisen.

Einige Zeit bevor Astur aufging, was man auf der Lichtung verständlicherweise erst sehr viel später bemerkte als außerhalb des Waldes, waren die Reiter wieder bereit zum Aufbruch.

„Bis heute Mittag werden wir den Klippstein erreichen“, klärte Kil´anor die Gruppe auf. „Für diejenigen, die ihn nicht kennen: Es ist eine Felsnase am Straßenrand, bei dem wir die Waldstraße verlassen werden. Von dort werden wir auf einem schmalen Pfad in Richtung Westen weiterreiten, auf dem Alten Klippweg, wie wir ihn nennen. Er führt bis zum Rand des Valedrim-Waldes. Allerdings werden wir es bis dahin heute nicht mehr schaffen. Wenn alle so weit sind, dann geht´s los.“

Kil´anors Worte waren geradezu prophetisch.

Sie bestiegen ihre Pferde. Urth übernahm die Führung der Packtiere. Beim Aneinanderbinden der Tiere machte er eine seltsame Beobachtung. Wo immer er Elian, das Elfenpferd, hinstellen wollte, es weigerte sich hartnäckig, bei den anderen Packpferden zu bleiben. Immer wieder versuchte es, zu seiner mittlerweile anerkannten Herrin Adhasil zu gelangen. Anfangs bedachten die Reiter diese Anhänglichkeit mit Gelächter. Schließlich wurde Urth die Sache zu bunt, aber bevor er sich ernsthaft ergrimmte, meinte die Fürstin: „Na schön, wenn du unbedingt bei mir bleiben willst, dann mache ich deine Führungsleine eben an meinem Pferd fest.“

Ein freudiges Kopfnicken Elians war die Antwort. Damit verließen sie die Lichtung und setzten ihren Weg fort.

Bald verschwand der Nebel und es wurde wärmer. In der Schneise, durch die die Straße verlief, würden die Sonnen trotzdem nur verhältnismäßig kurz um die Mittagzeit zu sehen sein. Den übrigen Tag wurden sie durch die Bäume verdeckt und ihr Licht durch einen grünlichen Schimmer getrübt.

Die Reiter waren noch nicht lange unterwegs, als sich auf der Lichtung ein seltsames Schauspiel zutrug. Eigentlich waren es zwei, denn zuerst schoben sich langsam, aber erkennbar neue Zweige in den Durchgang zum Graben. Nach kurzer Zeit war er fast so zugewachsen, als hätte es ihn nie gegeben. Nur die Elfen würden ihn jederzeit wiederfinden. Kaum war das geschehen, da raschelte es rings um die Lichtung an mehreren Stellen und die Zweige der niedrigen Sträucher begannen sich zu bewegen, als sie auseinandergedrückt wurden. Gleichzeitig traten mehrere kleine Wesen mit menschenähnlichen Gesichtern aus dem Wald heraus.

Sie trugen keine Kleidung und waren von oben bis unten behaart. Die Kobolde warfen sich mit hellen Stimmen einige Worte zu und begannen, die äußeren, ausgebrannten Feuerstellen mit Moos zu bedecken. Zwar hatten die Elfen sie gelöscht, aber offen liegengelassen. Danach entfachten sie das große Feuer in der Mitte der Lichtung erneut und begannen, lachend darum herumzutanzen. Sie hielten sich an den Händen und sprangen im Kreis. Als sie ihren Tanz nach einiger Zeit beendeten, löschten sie das Lagerfeuer und bedeckten die Asche wie bei den anderen Feuerstellen ebenfalls mit Moos. Anschließend verschwanden sie geschwind in alle Richtungen im Wald. Die Spuren des Nachtlagers waren so verwischt, dass nichts mehr darauf hindeutete.

Von alldem ahnten die Reiter nichts. Sie hatten sich bereits ein gutes Stück von der Lichtung entfernt. Melbart lenkte sein Pferd neben das von Cai, der etwas schief im Sattel saß.

„Hast du starke Schmerzen?“, erkundigte er sich. „Wenn du willst, dann gebe ich dir noch einige der schmerzlindernden Kräuter.“

Cai sah ihn an und erwiderte: „Es geht schon. Wenn ich so sitze, dann ist es leichter zu ertragen. Deswegen brauchen wir nicht anzuhalten. Vielleicht bei der nächsten Rast.“

Melbart nickte und ließ sein Pferd wieder auf seinen alten Platz hinter Cai zurückfallen.

Wie Kil´anor angekündigt hatte, erreichten sie um die Mittagszeit den Alten Klippweg. Astur und Pelin standen dicht beieinander hoch am Himmel und warfen ihre heißen Strahlen auf die Straße. Zu dieser Zeit waren die Schatten der Reiter am kürzesten und man konnte kaum erkennen, dass es eigentlich zwei Schatten waren, die jeder von ihnen warf.

Am Eingang zum Alten Klippweg befand sich ein großer Felsen – groß für einen Felsen, der mitten in einem sonst gebirgslosen Wald stand. Er maß gut und gern die anderthalbfache Höhe eines Menschen und erhob sich an einem Platz, der erstaunlicherweise frei von jedem Bewuchs war. Der Boden um ihn herum war nicht einmal von Gräsern oder Moosen bedeckt. Der Stein schien von irgendwem dort vergessen worden zu sein, so wie er dastand, und wirkte eigenartig unpassend in dieser Umgebung. Die Elfen hatten ihm den Namen Klippstein gegeben und nach ihm den Pfad benannt.

Die Reiter hatten sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite zur Rast niedergelassen. Angholt schaute sich den Stein genau an, während er aß. Irgendetwas an dem Stein war seltsam, und er versuchte dahinterzukommen, was es war. Der Klippstein zeigte deutliche Kratzspuren, als hätte ein großes Tier seine Krallen an ihm gewetzt, was seine ursprüngliche Gestalt aber nicht bis zu Unkenntlichkeit zerstört hatte.

„Wenn man sich die Kratzspuren wegdenkt“, murmelte Angholt in einem Selbstgespräch, dann hat er Ähnlichkeit –“, er grübelte. „Na klar, mit einem Troll“, sagte er lauter als er beabsichtigt hatte.

Einige waren auf Angholts laute Gedanken aufmerksam geworden und blickten ihn an. Ken´ir saß ihm am nächsten und Angholt wiederholte ihm gegenüber seine Feststellung.

Der Elf lächelte ihn an.

„Gut beobachtet, mein Junge“, sagte er. „Aber bevor du mehr wissen willst, muss ich deine Hoffnung auf Antworten dämpfen. Er steht schon sehr lange hier. Vielleicht stand er schon hier, bevor es den Wald gab. Jedenfalls ist er so alt, dass keiner weiß, woher er kam und wer ihm seine Verletzungen beigebracht hat, wenn es einen Kampf gab. Und ob es sein letzter Kampf war oder ihm die Kratzspuren später zugefügt wurden, wird dir niemand mehr sagen können.“

„Munas haben Krallen, die dafür stark genug wären“, meinte Kil´anor.

„Möglich“, gab Ken´ir zu. „Trotzdem ist seine Anwesenheit hier, nach allem, was wir über Trolle wissen, eigentlich unmöglich.“

„Ihr meint, weil er sich so weit von den Bergen entfernt hatte und kaum in einer Nacht bis hierherkommen konnte?“, warf Hagil ein.

„So ist es“, gab Ken´ir zu. „Nach allem, was wir über die Lebensgewohnheiten von Trollen wissen, dürfte es diesen hier gar nicht geben.“

Wieder war Angholt – bei Tageslicht – von dem Valedrim-Wald begeistert.

„Aber es gibt ihn, und meiner Meinung nach ist es die einzige Erklärung, wie überhaupt ein Stein dieser Größe hierherkommen konnte“, hörte er die Worte eines ihm unbekannten Elfen aus ihrer Eskorte. „Wo es hier sonst keine Felsen gibt.“

„Trotzdem, ich denke, wir müssen weiter“, beendete Melbart die Rast. „Dort, links neben dem Klippstein, das ist unser Pfad. Er ist schmal, und wir können nur hintereinander reiten. Bleibt dicht zusammen und meldet euch, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht. Wenn ich mich recht erinnere, dann gibt es an diesem Weg nur eine Stelle, die groß genug ist, um uns als Lagerplatz zu dienen. Dort müssen wir bei Einbruch der Dämmerung sein.“

Er hatte in erster Linie zu seinen Gefährten gesprochen, denn die Elfen wussten um die Verhältnisse auf diesem Pfad. Obwohl alles unverdächtig erschien, ahnte noch niemand, dass sie den Lagerplatz nie erreichen sollten.

Kil´anor übernahm mit vier Elfenkriegern die Spitze. Dann folgten die Reisegefährten, an deren Ende Urth mit den Packpferden ritt. Den Abschluss bildeten die restlichen fünf Elfen. Wie versprochen, war der Pfad sehr eng, lief in weiten Strecken aber geradeaus, sodass sie kaum Schwierigkeiten hatten, sich im Auge zu behalten. Er wurde nicht sehr oft benutzt, war dafür aber in einem erstaunlich guten Zustand. Auf diesem Pfad kamen die Sonnenstrahlen überhaupt nicht mehr auf dem Boden an. Das geschlossene Blätterdach sorgte dafür, dass er in ein mildes, grünes Zwielicht getaucht wurde, und die Reiter hatten den Eindruck, sich durch einen Tunnel in einem riesigen Pflanzenmeer zu bewegen.

Viel gab es nicht zu sehen, denn der Wald, der den Weg säumte, bildete eine undurchdringliche Mauer. Angholt wunderte sich, dass keine Zweige in den Weg hineinragten. Er nahm sich vor, später einen der Elfen nach dem Grund zu fragen. Denn einen Grund musste es haben, da war er sich sicher. Und die Elfen kannten ihn bestimmt.

Schweigsam und mit mäßiger Geschwindigkeit folgten sie dem Pfad. Selbst die Hufe der Pferde klangen auf dem weichen Untergrund gedämpfter, als zu erwarten war. Deutlicher war das Knirschen der Sättel zu hören. Hier empfand Angholt den Wald als noch unheimlicher als in der vergangenen Nacht auf der Lichtung, fast schon bedrohlich, obwohl es heller Tag war. Ihm fiel auf, dass es hier keine Vogelstimmen und kein Rascheln von Kleintieren am Wegesrand gab. Er glaubte fast zu spüren, wie sie von unzähligen, unsichtbaren Augen beobachtet wurden. Wenn er sich umdrehte und den Alten Klippweg in rückwärtige Richtung betrachtete, gewahrte er die Schatten kleiner Wesen in den Augenwinkeln, die bei genauerem Hinsehen wieder verschwunden waren. Ein fernes Wispern lag in den Zweigen, kaum zu hören, aber er glaubte, leise Stimmen darin zu erkennen.

Angholt fühlte sich, wie in eine fremde Welt versetzt. Er war plötzlich davon überzeugt, dass sie an einer völlig anderen Stelle als beim Klippstein wieder auf die Hauptstraße stoßen würden, wenn sie jetzt zurückritten. Noch konnte sich Angholt die Möglichkeit nicht vorstellen, vielleicht gar nicht mehr zurückzufinden. Er fragte sich, ob die anderen es genauso empfanden. Und er hatte noch eine andere Beobachtung gemacht, war sich aber noch nicht ganz sicher. Er wollte sich erst bei jemandem aus der Gruppe vergewissern und drehte sich zu Hagil um, der als nächster hinter ihm ritt.

„Fürst Hagil, könnt Ihr mir sagen, wie lange wir bereits auf diesem Weg reiten?“, fragte er.

Hagil schien ein wenig verwundert über diese Frage. Trotzdem wollte er gerade zu einer Antwort ansetzen, als er ein bestürztes Gesicht machte und sein Mund wieder schloss.

„Nein. Seltsam, nicht?“, kam zögernd seine Antwort.

Angholt war nun sicher, dass er sich das alles nicht einbildete. Wenigstens Hagil erging es genauso, obwohl er anscheinend erst durch die Frage Angholts darauf aufmerksam geworden war. Sie hatten jegliches Zeitgefühl verloren. Minuten waren wie Stunden, Stunden wie Minuten. Vielleicht waren sie erst eine Stunde auf diesem Pfad, vielleicht bereits seit Tagen – wer konnte das sagen? Nur das Tageslicht, das sich bisher nicht verändert hatte, ließ ihn glauben, dass der Nachmittag noch nicht vorüber war. Aber war er das wirklich noch nicht? Gab es hier, in diesem unheimlichen Teil des Waldes, überhaupt Tageszeiten? Alles war so unwirklich. Angholt beschloss sich zusammenzureißen, um nicht völlig in Verwirrung zu geraten. Schließlich waren die Elfen scheinbar frei von solchen Zweifeln. Sie saßen mit ungerührten Gesichtern auf ihren Pferden. Also war alles in Ordnung.

Plötzlich hielten die Reiter vor ihm an, und er hörte aufgeregte Stimmen. Er sah, wie Ken´ir vom Pferd sprang und sich an den anderen Reitern vorbei nach vorn drängte. Also doch, durchfuhr es Angholt.

„Das ist unmöglich“, sagte Kil´anor beunruhigt, als Ken´ir und Melbart ihn erreicht hatten. „Diese Wegegabelung ist neu. Mir ist nicht bekannt, dass der Pfad je geteilt war. Außerdem führt keiner der beiden Pfade in die richtige Richtung, wie mir scheint.“

„Ihr habt Recht. Aber wir haben nicht viel Zeit, um langwierig nacheinander beide Wege zu erkunden“, meinte Melbart, der drei Nächte zuvor diese Gabelung noch nicht vorgefunden hatte und selbst überrascht war. „Glaubt ihr, dass der Wald mit uns ein Spiel treibt?“

„Schwer zu sagen“, antwortete Ken´ir. „Wir befinden uns im ältesten und geheimnisvollsten Teil des Waldes. Und er ist bekannt dafür, allerlei Schabernack mit Reisenden zu treiben. Aber in ernster Gefahr befinden wir uns wohl nicht.“

Kil´anor bestätigte Ken´irs Worte mit einem Kopfnicken.

„Gut, dann sollten wir in jeden der beiden Pfade Kundschafter entsenden“, entschied Melbart. „Wenigsten einer in jeder Gruppe sollte den alten Pfad kennen. Die anderen warten an dieser Stelle und rühren sich nicht vom Fleck.“

„Kil´anor und ich werden jeweils einen Trupp anführen“, entschloss sich Ken´ir. „Jeder nimmt zwei unserer Krieger mit.“

So geschah es, und nach kurzer Zeit war der letzte Kundschafter aus den Augen der Zurückgebliebenen verschwunden.

„Und uns bleibt zunächst nur, uns in Geduld zu üben“, meinte Melbart.

Er war beunruhigt. Er glaubte, diesen Wald recht gut zu kennen, und hatte ihn bereits mehrere Male durchwandert. Noch nie war er von ihm auf einen falschen Weg geführt worden. Sein jetziges Verhalten war ihm fremd.

Das war für Angholt wieder einmal die Gelegenheit, seine Neugierde zu befriedigen. Er ging nach hinten zu den fünf zurückgebliebenen Elfen. Sie waren von ihren Pferden abgestiegen und standen, sich leise unterhaltend, im Kreis. Als sich Angholt ihnen näherte, blickten sie in an.

„Ich hoffe, ich störe euch nicht“, begann er höflich. „Ich möchte euch gern einige Fragen über den Wald stellen, wenn ihr erlaubt.“

„Für Fremde steckt der Wald stets voller Rätsel und Geheimnisse“, meinte einer der Elfen feierlich und lächelte, dann setzte er großzügig hinzu: „Doch äußert, was Euch beschäftigt. Wir werden Euch antworten, so gut es geht.“

Jeder Elf hätte den verborgenen Spott bemerkt. Angholt räusperte sich.

„Ich nehme an, ihr kennt euch hier aus“, begann er und sah das leichte Kopfnicken der Elfen. „Mir sind, seit wir in diesen Pfad benutzen, einige Dinge aufgefallen, die ich mir nicht erklären kann. Warum, zum Beispiel, ist er so gut erhalten? Soweit mir bekannt ist, wird er wenig benutzt, doch nirgends ist er zugewachsen. Oder haltet ihr ihn frei?“

„Es ist schon wahr“, bestätigte der Elf, der sich Angholt unter dem Namen Pôs´shan vorgestellt hatte. „Dieser Weg wird tatsächlich selten betreten. Doch es ist ein sehr alter Weg und wurde nie von unserem Volk angelegt. Er führt durch den ältesten und auch bis heute unbekanntesten Teil des Waldes. Solange wir uns erinnern, war er da und scheint sich selbst zu erhalten, und wie Ihr seht, von Zeit zu Zeit zu verändern.“

„Und der Troll, also der Klippstein, steht auch bereits seit Anbeginn am Eingang zu dem Pfad?“, fragte Angholt.

„Ja, er hat dort schon gestanden, als wir die Waldstraße gebaut haben“, kam die Antwort. „Beide, der Klippstein und der Alte Klippweg, wurden tatsächlich erst bei dem Bau der Straße entdeckt. Seither gilt der versteinerte Troll bei uns als der Anfang dieses Pfades.“

„Oder als dessen Ende“, wandte ein anderer Elf ein. „Es kann sein, dass dieser Weg ehemals von Trollen aus den Grauen Bergen benutzt wurde. Im Wald selbst haben wir keine Trollhöhlen gefunden. Doch wie Ken´ir Euch bereits gesagt hat, der dürfte eigentlich überhaupt nicht an dieser Stelle stehen.“

„Man sagt euch Elfen nach, ihr kennt euch mit Magie aus“, begann Angholt seine nächste Frage. „Dann wisst ihr vielleicht, ob ein Zauber über dem Alten Klippweg liegt. Auf dem Ritt bis an diese Stelle haben ich und zumindest auch Fürst Hagil unser Zeitgefühl verloren. Ist das denn überhaupt möglich?“

„Mir ging es genauso“, hörte er eine Frauenstimme hinter sich.

Adhasil hatte sich unauffällig genähert und der Unterredung gelauscht.

„Melbart hat einmal etwas Ähnliches geäußert“, meinte Pôs´shan. „Uns Elfen ist dieser Eindruck nicht bekannt, aber Zeit spielt für uns auch eine andere Rolle. Trotzdem ist es interessant, es von euch zu hören. Vielleicht ergeht es allen Nichtelfen in diesem Teil des Waldes so. Nach meiner Einschätzung ist es jetzt später Nachmittag, und wir müssen uns ranhalten, wenn wir den Lagerplatz erreichen wollen. Sonst bleibt uns nichts anderes übrig, als mitten auf dem Weg zu übernachten. Das wäre nicht nur ein wenig unbequem, sondern – wer weiß – vielleicht auch gefährlich. Und ob hier ein Zauber über dem Weg liegt? Nicht mehr als über dem ganzen Wald. Ich bin schon einige Male hier entlanggeritten, doch nie hat sich irgendetwas Bemerkenswertes ereignet. Diese Wegegabelung ist allerdings etwas Besonderes, das gebe ich zu. Wer weiß, ob der Wald nicht doch etwas ausheckt?“

Währenddessen hatte sich Melbart um Cai gekümmert. Er hatte sich von dem Angriff des Serpans einigermaßen erholt und spürte kaum noch Schmerzen. Mit einer gewissen Zufriedenheit kaute Cai auf einem Stück Fleisch, das vom Frühstück übriggeblieben war. Mittlerweile warteten sie bereits fast eine Stunde – nach der Aussage der Elfen. Allmählich wurden sie unruhig. Schließlich kam Ken´ir mit seinen beiden Begleitern wieder zurück.

„Den linken Weg können wir nicht benutzen“, berichtete er. „Er endet nicht weit hinter der nächsten Kurve an einem Bach und führt dahinter nicht weiter.“

„Und um das herauszufinden, wart ihr so lange unterwegs?“, wunderte sich Adhasil.

„Lange? Es hat doch nur ein paar Minuten gedauert.“

„Das ist interessant“, fand Melbart. „Nach unserer Schätzung war es annähernd eine Stunde.“

Ken´irs Gesicht zeigte Unglauben. „Ihr wollt uns auf den Arm nehmen.“

„Keineswegs“, widersprach Melbart. „Hm, irgendetwas geschieht mit dem Wald.“

„Dann sollten wir uns beeilen“, mahnte Fürst Hagil. „Wenn wir den linken Pfad nicht benutzen können, dann nehmen wir eben den rechten. Dort werden wir den anderen schon begegnen. Hier zu warten, hat wohl keinen Sinn mehr. Außerdem ist es schon spät, behaupten die Elfen.“

Melbart und alle anderen pflichteten ihm bei, und so saßen sie wieder auf und folgten dem rechten Pfad. Es schien, als wäre er der Richtige. Jedenfalls war er nicht schon nach kurzer Zeit zu Ende. Kil´anor und seine Männer blieben vorläufig verschwunden. Nur die flachen Hufabdrücke ihrer Pferde auf dem Waldboden zeugten davon, dass sie auf ihm entlanggeritten waren.

Allmählich wurde das grüne Zwielicht dunkler und die Reiter erkannten daran, dass sich der Nachmittag dem Ende zuneigte. Nun endlich hatten sie einen Anhaltspunkt, mit dem jeder etwas anfangen konnte. Mit der Zeit war ihnen klar geworden, dass sie den angestrebten Lagerplatz nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit erreichen konnten. Und Melbart war sich nicht mehr sicher, ob der Pfad überhaupt noch an der Lichtung vorbeiführte. Einige Wegemerkmale, die er seit der Gabelung erwartet hatte, waren ausgeblieben. So würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als auf dem Weg selbst zu nächtigen. Das an sich war nicht so schlimm, doch wo waren Kil´anor und seine Männer? Sie hatten gehofft, die drei noch vor Beginn der Dunkelheit wiederzufinden. Ken´ir fragte sich, warum seine Artgenossen nicht zurückgekehrt waren, nachdem klar war, dass dieser Pfad begehbar sein würde. Andererseits – vielleicht waren sie es und befanden sich immer noch auf dem Rückweg, dachte er. Er machte sich zwar keine Sorgen um die drei, schließlich waren sie Elfen und nicht das erste Mal nachts im Freien, wunderte sich aber über ihr Ausbleiben. So ritten sie schweigsam in die Dämmerung hinein, immer Ausschau haltend nach Spuren ihrer Kundschafter.

„Halt!“, erscholl plötzlich die Stimme Ken´irs von der Spitze des Reitertrupps.

Sie brachten ihre Pferde erneut zum Stehen und sahen, wie Ken´ir aus dem Sattel sprang und den Waldboden absuchte. Er hatte sich hingehockt und tastete den Weg ab.

Melbart, Pôs´shan und Hagil gingen zu ihm.

„Die Sache wird immer rätselhafter“, meinte Ken´ir, ohne aufzublicken. „Genau an dieser Stelle enden die Spuren ihrer Pferde. Alle drei haben diesen Ort erreicht, ihren Weg aber nicht fortgesetzt.“

„Was hat das jetzt schon wieder zu bedeuten?“, fragte Hagil.

„Nun, dass unsere drei Freunde nicht weiter gekommen sind als bis hierher und wir keine Ahnung haben, wo sie abgeblieben sein können. Wie es aussieht, sind sie auch nicht umgekehrt“, erklärte Melbart erstaunlich gleichmütig.

„Sie können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben“, stellte Hagil richtig fest.

„Wohl kaum“, bestätigte ihm Ken´ir, hatte aber auch keine Erklärung für ihr Verschwinden.

In diesem Augenblick meldete sich Elian, das Elfenpferd, mit einem unruhigen Schnaufen und Wiehern. Mit stampfenden Hufen versuchte es, nach vorn zu drängeln. Es machte einen aufgeregten, freudigen Eindruck. Schließlich zerrte Elian so an seiner Leine, dass Adhasil ihn losbinden und laufenlassen musste. Er machte einige Schritte an Ken´ir, Pôs´shan und Hagil vorbei, blieb stehen und nickte heftig mit dem Kopf, wieherte dabei so laut, dass es im ganzen Wald zu hören sein musste, und warf seinen Schweif unruhig hin und her. Auch Melbarts Dicuil wurde unruhig, blieb aber auf seinem Platz stehen. Plötzlich stand Elian bewegungslos und richtete seine Ohrmuscheln nach vorn. Allen war klar, dass er auf etwas zu warten schien. Die Spannung übertrug sich auf die Reiter.

Dann sahen es alle. Lautlos und majestätisch kam ein großes, schneeweißes Einhorn um die nächste Biegung herum und schritt langsam auf die Gruppe zu. Auf seiner Stirn trug es einen funkelnden, blauen Edelstein, und das makellose Weiß seines Felles verbreitete eine Aura, als leuchtete das Wesen aus seinem Inneren. Sie gab der Gestalt eine geradezu mystische Erscheinung. Wenige Schritte vor Elian blieb es stehen.

Das Einhorn blickte von Elian zu jedem einzelnen Reiter. Genauso stumm und erwartungsvoll schaute jeder der Reiter auf die Ehrfurcht gebietende Erscheinung. Sie waren sich nicht sicher, ob das Einhorn Wirklichkeit war oder eine Einbildung, die ihnen die Wald vorgaukelte. Selbst die Pferde waren in ihrer Bewegung erstarrt. Jedoch empfand keiner von ihnen das Gefühl einer Bedrohung. Sie hatten eher den Eindruck, an einer Begegnung teilzunehmen, die in der Geschichte von Erdos äußerst selten vorkam. Nur auf dem Gesicht Melbarts lag der Ausdruck des Erkennens.

Elian und das Einhorn standen sich reglos gegenüber. Nur gelegentlich wurde das bewegungslose Bild durch ein Kopfnicken des Pferdes unterbrochen. Die Reiter wurden in diesem Augenblick Zeuge einer lautlosen Unterhaltung dieser beiden ähnlichen und doch so verschiedenen Wesen. Sie erfuhren aber nie, was sie sich zu sagen hatten. Nach einiger Zeit und einem letzten Kopfnicken drehte sich Elian um und nahm wieder seinen alten Platz hinter Adhasil ein. Er schnappte nach seiner Führungsleine und reichte sie der Fürstin. Ungläubig den Kopf schüttelnd nahm sie sie entgegen.

„Folgt mir!“, vernahmen sie den lautlos ausgesprochenen Befehl einer sanften, aber keinen Widerspruch duldenden Frauenstimme.

Das Einhorn wendete elegant auf der Stelle und ging den anderen voran. Die merkwürdige Gruppe hatte die nächste Biegung des Pfades kaum hinter sich gelassen, als sich das Bild schlagartig veränderte.

Sie befanden sich plötzlich auf einer sonnendurchfluteten Wiese. Die Gruppe stand auf einem Hügel. Um sich herum lag eine weite, baumlose Steppenlandschaft, in die eine Vielzahl von Seen verschiedenster Größe eingebettet war. Als sie sich umsahen, stellten sie fest, dass sie von einem Ring gewaltiger Gebirgszüge umgeben waren, die sich in weiter Ferne und mit schneebedeckten Gipfeln bis in die wenigen Wolken erhoben. Sie standen inmitten eines weiten Talkessels, ausgelegt mit einem riesigen Blumenteppich. Eine Unzahl fliegender, laufender und kriechender Tiere bevölkerte die Landschaft. Und es lag eine schweigende Harmonie über allem. Am Himmel stand nur eine Sonne und die Reiter hatten den Eindruck, nicht mehr auf Erdos zu sein, sondern in oder auf einer völlig anderen Welt.

„Wo sind die Elfen?“, hörten die Gefährten die Stimme Adhasils.

Tatsächlich waren die Krieger Kil´anors nicht mehr bei ihnen.

„Sorgt euch nicht, ihr werdet eure Freunde bald wiedertreffen“, versprach das Einhorn. „Was ihr hier sehen werdet, ist nicht für ihre Augen bestimmt. Ken´ir ist eine Ausnahme, weil das, was ihr hier seht, für euch, die ihr gegen Kryonos antreten werdet, von Bedeutung ist. Ich danke dir, Melbart, dass ihr hierhergekommen seid.“

Die Gefährten sahen ihn erstaunt an.

„Ja, ich kenne diese Welt und war bereits hier – und ich wusste von dieser Begegnung“, sagte er lächelnd zu ihnen und wandte sich dann der Feenkönigin zu. „Es ist mir eine Freude, dich wiederzusehen, Liseniél, auch wenn der Anlass dieses Mal kein glücklicher ist.“

„Du hattest diesen – Ausflug – von Anfang an geplant, Melbart?“, wunderte sich Cai. „Wo sind wir hier? Es ist schön und fremd. Das ist nicht mehr Erdos, nehme ich an.“

Er hörte das leise Lachen des Magiers.

„Du irrst“, widersprach Melbart. „Das, was ihr hier seht, ist Erdos. Es ist ein Teil dieser Welt, der euch sonst nicht zugänglich ist. Er besteht gleichzeitig neben eurer gewohnten Umgebung. Schaut euch um, und ihr werdet Wesen erkennen, die euch bekannt sind.“

„Aber die Sonne?“, wandte Angholt ein. „Hier gibt es nur eine Sonne.“

„Es sieht für euch nur so aus“, widersprach Liseniél. „Hier sind beide Sonnen in einer Erscheinung vereint, in ihrer ursprünglichen Gestalt.“

Sie blickten sich um und nach und nach wurden die Einzelheiten immer deutlicher. Ihre Augen hatten sich nach dem Dämmerlicht auf dem Waldweg erst an die Helligkeit in dieser Welt gewöhnen müssen.

„Dort!“, rief Angholt aufgeregt und streckte seinen Arm aus. „Ich sehe weitere Einhörner. Sie laufen dort unten an dem kleinen See.“

„Was sind das für weiße Wolken?“, fragte Urth, und er hatte das Gefühl, die Antwort bereits zu kennen.

Diese Wolken, wenn es denn welche waren, schwebten flach über der Erde. Sie hatten die Form menschengroßer Eier, aber keine glatte Oberfläche, sondern unklare, zerfranste Umrisse. Aufrecht schwebten sie in Gruppen oder einzeln über das Land.

„Es sind ähnliche Lebewesen wir ihr“, wurden sie von Melbart belehrt. „Hätten wir mehr Zeit, ihr könntet noch viel Neues entdecken.“

„Wollt Ihr uns nicht endlich sagen, in was für eine Welt Ihr uns entführt habt?“, wiederholte Cai seine Frage an Liseniél.

Er spürte eine gewisse Ungeduld und war nicht fähig, den Augenblick zu genießen. Melbart sah ihn bedauernd an.

„Ich war hier auch schon einmal“, erklärte Adhasil mit leiser Stimme.

Die anderen sahen sie erstaunt an, und nun dämmerte es einigen.

„Du meinst, es ist das Reich der Feen?“, äußerte Hagil seine Vermutung.

Bevor Adhasil sie bestätigten konnte, hörten sie erneut die Worte Liseniéls.

„Ja, wir haben euch einen Ausflug in diese Welt gestattet. Wir nennen es das Feenreich. Adhasil kam unerlaubt, durch einen Unfall. Jetzt dagegen seid ihr hier, um zu lernen. Die Umstände erfordern es. Ihr müsst lernen, dass eure Welt nicht die Einzige ist. Neben dem Feenland gibt es noch andere. Einige solltet ihr euch nicht wünschen, betreten zu müssen, andere wiederum werdet ihr nie besuchen dürfen. Diese Welt zieht euch an, spüre ich. Sie ist in Gefahr. Es ist eine der Welten, die durch Kryonos Schaden nehmen können. Sie ist eine geistige Welt und damit empfindlicher als eure. Nicht alle Welten wird er zerstören wollen oder können, doch diese hier steht ganz oben auf seiner Wunschliste. Warum? Weil wir mit euch kämpfen werden und am nächsten an eurer Welt liegen. Wir bilden eine Gefahr für ihn. Nur eine schmale Grenze trennt diese Welt von eurer, und sie wird beeinflusst durch die Ereignisse, die in eurer Welt stattfinden. Denkt nur an die Feenschimmel. Ihr sollt erfahren, dass das, wofür ihr ausersehen seid, nicht allein von euch geleistet wird. Hättet ihr Melbart das geglaubt, wenn ihr es nicht mit eigenen Augen gesehen hättet? Deshalb seid ihr hier. Ihr müsst wissen, dass, wie immer die Geschichte ausgeht, euer Handeln sich auch auf andere Welten auswirkt. Wir zeigen euch nun, was geschehen kann.“

Vor ihren Augen verdunkelte sich der Himmel. Mächtige Wolken zogen buchstäblich in Windeseile herauf und wirbelten in erschreckender Weise durcheinander. Ein gewaltiger Sturm brach los. Die Tiere und die anderen Wesen, die diese Landschaft bevölkerten, flüchteten in entsetzlicher Angst, obwohl es keinen Ort der Zuflucht gab. Es wurde immer dunkler. Der Sturm wurde von mächtigen Blitzen zerrissen. Ohrenbetäubendes Kreischen und Brüllen erfüllte die Welt, deren Ränder sich in einer undurchdringlichen Dunkelheit verloren. Und diese Dunkelheit näherte sich ihnen in beängstigender Geschwindigkeit von allen Seiten. Dann wurde es übergangslos um sie herum schwarz – und totenstill, schmerzhaft still.

Es dauerte jedoch nur wenige, aber äußerst bedrückende Minuten, bis es schließlich wieder hell wurde. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Tageslicht, und alle atmeten auf, als sie alles wieder so vorfanden, wie es vor den beängstigenden Bildern war. Jetzt erst fiel ihnen auf, dass sie nur Beobachter gewesen waren, ohne selbst von dem Ende dieser Welt erfasst worden zu sein.

„Ihr wart Zeuge einer möglichen Zukunft des Feenreiches“, erklärte Liseniél. „Glaubt nicht, dass ein Sieg von Kryonos in eurer Welt eine bessere Zukunft bringt, wenn sie im Gegensatz zu unserer auch nicht in gleicher Weise ausgelöscht werden wird.“

„Weiß Thorgren von dem Ernst der Lage?“, fragte Cai, der sich dachte, dass es zwar gut und schön war, sie davon zu überzeugen, doch welchen Sinn hatte das alles, wenn ihr zukünftiger Anführer davon keine Ahnung hatte?

„Im Augenblick weiß er noch nichts davon“, erklärte Melbart. „In naher Zukunft wird er aber Kenntnis darüber erlangen. Das wird jedoch auf einem anderen Wege geschehen.“

„Ihr werdet unserer Hilfe nicht oft gewahr werden“, sagte Liseniél zum Schluss. „Doch seid versichert, sie ist stets bei euch. Und so, wie wir bereit sind, euch zu unterstützen, erwarten wir es auch von euch. Allein wird für keinen der Sieg möglich sein.“

„Wir werden unser Möglichstes versuchen“, versprach Cai im Namen aller und Liseniél nickte.

„Dann sollten wir bald aufbrechen“, meinte Ken´ir. „Doch gestattet mir noch eine Frage. Wo sind unsere drei Gefährten, die uns vorausgeritten sind? Und wo stoßen wir wieder auf die Elfenkrieger, die uns bis zum – Tor – in diese Welt begleitet haben?“

„Sie sind wieder beisammen und erwarten euch“, sagte Liseniél. „Und nun lebt wohl. Gedenkt stets dessen, was ihr hier erlebt habt.“

Ehe sie sich nach dem Ausweg aus dieser Welt erkundigen konnten, veränderte sich die Umgebung erneut. Übergangslos und ohne, dass sie sich mit ihren Pferden bewegt hatten, fanden sie sich auf dem Weg wieder, den sie vor einiger Zeit auf geheimnisvolle Weise verlassen hatten. Als sich ihre Augen an die Dämmerung gewöhnten, stellten sie fest, dass sich dort nichts verändert hatte. Ken´ir glaubte nicht, dass sie eine längere Zeit im Feenreich gewesen waren, da es in der Zwischenzeit kaum dunkler geworden war. Sie entdeckten jedoch keine Spur von der Elfen-Eskorte.

„Solange wir noch etwas sehen können, reiten wir weiter“, entschied Melbart.

Schweigend folgten sie dem Weg. Jeder hing seinen Gedanken nach und versuchte, seine Schlüsse aus dem zu ziehen, was sie gerade erlebt hatten.

Sie waren noch nicht lange unterwegs, als sie ein kurzes Stück vor sich den Schein von Fackeln ausmachten. Wenn es die Elfen waren, dann verhielten sie sich so auffällig, um ihre verlorengegangenen Schützlinge auf sich aufmerksam zu machen, falls sie irgendwo wieder aufgetaucht waren und ihnen folgten. In einem anderen Fall musste sich dort jemand befinden, von dessen Anwesenheit sie nichts wussten.

Dort stießen sie auf eine Lichtung, die von dem Alten Klippweg, wenn er es überhaupt noch war, durchzogen wurde. Als Melbart und Ken´ir vor den anderen die freie Stelle erreichten, kam ihnen Kil´anor entgegen. Die anderen Elfen erhoben sich von ihren Plätzen und stellten sich im Kreis um die Ankömmlinge auf, um mehr zu erfahren.

„Wo seid ihr gewesen?“, fragte der Anführer der Elfen. „Pôs´shan berichtete, dass ihr, nachdem ihr dem Einhorn gefolgt seid, wie vom Erdboden verschluckt wart.“

„Das Gleiche könnten wir von euch denken“, entgegnete Ken´ir. „Wir folgten eurer Fährte, die plötzlich nicht weiterführte. Doch lasst uns erst einmal absteigen und die Pferde versorgen. Dieser Ort scheint mir gut geeignet für ein Nachtlager.“

Sie richteten sich wieder so ein, wie es bereits in der letzten Nacht geschehen war, und bald brannte in der Mitte ihres Lagerplatzes ein Feuer. In einem äußeren Kreis legten sie erneut einige kleinere Schutzfeuer an und darin hatten die Pferde und Reiter bequem Platz. Noch bevor Melbart und Ken´ir mit ihrer Gruppe angekommen waren, hatten die Elfen bereits begonnen, Holz zu sammeln. Sie wussten erst nicht, ob sie nach den anderen suchen sollten, hatten sich dann aber dazu entschieden, dort zu warten, bis es wieder hell wurde. Bis zum Morgen würden sich die Vermissten vielleicht von allein wieder einfinden. In der Dunkelheit der Nacht hatte eine Suche keinen Sinn. Der Entschluss der Elfen hatte sich als richtig erwiesen.

Als sie um das mittlere Feuer herum Platz genommen hatten, berichteten Melbart und Ken´ir, was sie seit ihrer Trennung erlebt hatten, erwähnten allerdings nach wie vor nichts von dem, was der wirkliche Grund ihrer Reise war und was ihr Aufenthalt in der Feenwelt bedeutet hatte. So erfuhren die Elfen nur erstaunt, dass ihre Schutzbefohlenen für kurze Zeit im Feenreich weilten, aber nicht die Zusammenhänge. Die Elfen hielten ihren unerwarteten Ausflug ins Feenreich für einen äußerst seltenen Glücksfall, den ihnen ein wohlgesonnenes Schicksal hatte zuteil werden lassen. Und schließlich blieb es dabei, Kil´anor wusste nur, dass sie die Fremden bis zum Rand des Valedrim-Waldes begleiten sollten, von wo sie sich allein aufmachen würden, um mit der anderen Gruppe zusammenzutreffen.

„Diese Lichtung hier ist nicht die, die wir zu erreichen hofften“, stellte Melbart fest, nachdem er sich umgeschaut hatte. „Wie habt ihr sie gefunden?“

„Wir stießen auf die Lichtung, als wir den Pfad entlangritten“, erklärte ihm Kil´anor. „Sie erschien uns geeignet als Platz für unser Nachtlager, denn mittlerweile waren wir sicher, dass wir die ursprünglich erwartete Lichtung im Hellen nicht mehr erreichen konnten, wenn es sie überhaupt noch gab. Also kehrten wir drei wieder zurück, um euch über unsere Entdeckung zu berichten. Unterwegs stießen auf Pôs´shan und seine Männer, die uns von dem Zusammentreffen mit einem Einhorn berichteten. Vor ihren Augen wart ihr verschwunden. Eine kurze Suche nach euch blieb erfolglos, und wir entschlossen uns, wieder zu dieser Lichtung zurückzureiten und hier eure Rückkehr abzuwarten. Einhörner gelten gemeinhin nicht als Wegelagerer, daher schlossen wir eine Entführung aus. Irgendwann würdet ihr wieder auftauchen, so viel war klar, und so hofften wir, ihr würdet den Weg hierher schon finden. Wir entzündeten die Feuer, um euch die Suche nach uns zu erleichtern. Unsere Hoffnung hat uns nicht getrogen, und eure Rückkehr aus dem Feenreich kam früher, als man nach allem, was wir darüber wissen, annehmen konnte.“

„Ein weiser Entschluss, hier auf uns zu warten“, sagte Ken´ir. „Eine Suche nach uns hätte wenig Sinn gehabt. Doch nun sagt, wohin ihr verschwunden wart.“

„Davon haben wir überhaupt nichts bemerkt“, gestand Kil´anor. „Erst Pôs´shan machte uns darauf aufmerksam. Wie es dazu kam, weiß ich nicht, doch an jener Stelle wurden wir auf ein merkwürdiges Lichtspiel vor uns aufmerksam. Schatten bewegten sich hin und her und das Tageslicht wurde einmal heller und dann wieder dunkler. Wir ritten darauf zu, um es zu untersuchen. Es erschien uns nicht gefährlich und mochte wichtig für die Begehbarkeit des Weges sein. Doch als wir dort ankamen, war alles wie es sein sollte und die Erscheinung verschwunden. Der Pfad führte unverändert weiter und über diese Lichtung hinaus. Also kehrten wir nun endgültig um. Das heißt, wir hatten es vor. Kurz nachdem wir unsere Pferde gewendet hatten, wurde es unerwartet schnell dunkler und ich dachte, dass sich ein sommerliches Unwetter über uns zusammenbraute. Doch dann stießen wir kurz darauf auf Pôs´shan und den Rest der Eskorte. Er berichtete verwirrt, sie hätten euch gerade aus den Augen verloren, so als wäret ihr durch ein unsichtbares Tor verschwunden, das ihn und seine Krieger nicht hindurchgelassen hatte. Stattdessen kamen wir aus der Dämmerung auf ihn zu. Wir haben keine Erklärung dafür. So etwas ist uns noch nie passiert, und gehört hat auch noch keiner von uns davon. Ich kann euch also nicht sagen, wo wir waren, wenn wir überhaupt an einen anderen Ort gelangt sind, und wie lange es dauerte. Die Sache ist selbst uns unheimlich. Könnt Ihr, Melbart, uns sagen, warum wir keinen Zutritt zum Feenreich hatten?“

„Das hatte Gründe, die ich euch nicht nennen darf“, antwortete der Magier. „Ich müsste lügen, wollte ich behaupten, sie nicht zu kennen. Doch der Ausflug betraf nur uns. Manchmal ist es besser, bestimmte Dinge nicht zu wissen.“

Die Elfen sahen ihn fragend an, doch Melbart war nicht bereit, weiter darüber zu sprechen. So zuckten sie nur mit den Achseln und nahmen es hin, dass ihnen der Besuch verwehrt worden war. Mochte es der eine oder andere bedauern, keine von ihnen haderte deswegen mit dem Schicksal.

„War die Verlegung des Pfades beabsichtigt, um uns dorthin zu bringen?“, wollte Angholt wissen.

Er hatte sich gefragt, ob es notwendig gewesen sei, sie in die Irre zu führen, nur damit Liseniél sie in ihr Reich holen konnte.

„Nein, davon ist mir nichts bekannt“, meinte Melbart. „Hier haben sich zwei verschiedene Dinge getroffen. Es stimmt zwar, dass wir einen Besuch bei Liseniél vorhatten, doch die Umstände waren so nicht beabsichtigt. Und ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was der Valedrim-Wald damit bezweckt hat. Dieses Verhalten ist mir unverständlich. Vielleicht wollte er sich damit nur unterhalten, mit uns spielen. Wer weiß das schon. Hast du Angst?“

„Angst?“, fragte Angholt fast entrüstet, doch die Antwort, ob er sich nun fürchtete oder nicht, blieb er schuldig. Man konnte ihm ansehen, dass er sich nicht sicher war.

„Woher kennst du die Feenkönigin?“, wollte Cai von Melbart wissen.

Der hatte ihnen in der Zwischenzeit erklärt, dass Liseniél nicht irgendein Einhorn war, sondern die Herrscherin der Feenwelt und in verschiedenen Erscheinungen auftauchen konnte.

„Aus der langen Geschichte dieser Welt“, erhielt er die rätselhafte Antwort.

Und irgendwie hatte Cai auch nichts anderes erwartet.

Am folgenden Morgen hatten sie es erstaunlich eilig, ihr Gepäck zusammenzupacken. Scheinbar wollte jeder so schnell wie möglich diesen unheimlichen Teil des Waldes hinter sich bringen. Nach einer kurzen Mahlzeit brachen sie auf.

Der Pfad war immer noch von den Bäumen überdacht und ließ keinen Blick auf den Himmel zu. An diesem Tag schien es nicht richtig hell werden zu wollen. Es blieb so trübe wie in der Dämmerung. Die Elfen, denen das als Erste auffiel, klärten die anderen auf, dass es kein Grund zur Besorgnis war. Der Himmel war nur eben von Wolken bedeckt. Einzelne Vogelschreie und deren gelegentliches Singen erreichten nun ihre Ohren, anders als am Tag zuvor. Es schien alles so zu sein, wie sie es in einem ordentlichen Wald erwarten konnten. Und tatsächlich erreichten sie am frühen Vormittag seinen Saum. Bis dorthin sollten die Valedrim-Krieger ihre Schutzbefohlenen geleiten. Und es würde für sie ein denkwürdiger Ritt bleiben.

Jetzt erst merkten sie, wie sehr das Blätterdach über dem Weg das Licht gedämpft hatte. Obwohl der Himmel immer noch wolkenverhangen war, mussten sie ihre Augen für einen Augenblick zukneifen. Den Elfen jedoch machte es weniger aus. Ihre Augen konnten sich leicht darauf einstellen.

„Hier werden wir uns von euch trennen“, sagte Kil´anor und fügte schmunzelnd hinzu: „Seid versichert, dass wir einen Ritt erlebt haben, den wir nicht vergessen werden.“

„Wir danken euch, dass ihr uns bis hierher begleitet habt“, antwortete Melbart. „Entrichtet König Nôl´taham ebenfalls unseren Dank und unsere Grüße.“

„Werdet Ihr den gleichen Weg zurückreiten?“, erkundigte sich Angholt.

„Sicher“, sagte Kil´anor. „Ich glaube nicht, dass uns Gefahr droht. Wer weiß, vielleicht hat der Wald etwas gegen Fremde? Ich vermute, gestern war ein ganz besonderer Tag, der sich heute nicht wiederholen wird. Wir sind allein auch schneller unterwegs. Bis heute Abend werden wir wieder am Klippstein sein. So bleiben uns vielleicht unangenehme nächtliche Begegnungen mit wilden Tieren oder anderen Wesen erspart. Euch allen noch eine gute und sichere Reise.“

Die Gefährten winkten den Elfen noch einmal hinterher, die kurz darauf im Wald verschwunden waren.

„Ein seltsamer Wald“, sagte Angholt, mehr zu sich selbst, und blickte sich den Saum versonnen an. „Mit erstaunlichen Bewohnern.“

„Findest du?“, fragte ihn Ken´ir, der die Worte gehört hatte.

Angholt blickte den Elfen an.

„Ja“, antwortete er nur und folgte den anderen, die bereits einen kleinen Vorsprung hatten.

Ken´ir sah lächelnd hinter ihm her und trieb sein Pferd ebenfalls an.

„Auf nun, zu den Stromschnellen!“, rief Melbart. „Wir haben schon zu viel Zeit verloren.“

Sie spornten ihre Pferde an und hielten auf die Ebene zu.

Ein letztes Mal drehte sich Angholt zum Wald um. Zu seinem Erstaunen erblickte er im Schatten der Bäume mitten auf dem Pfad zwei kleine Wesen, fast wie Kobolde. Sie waren behaart, hatten aber häutige, menschenähnliche Gesichter. Kaum hatten sie bemerkt, dass er sie beobachtete, da verschwanden sie blitzschnell im Wald. Deshalb war er sich nicht sicher, ob ihm seine Augen nicht doch einen Streich gespielt hatten. Dass es nicht so war, konnte er einige Zeit später selbst herausfinden.

Je weiter sie sich von dem Wald entfernten, desto stärker lichtete sich die Wolkendecke, der über ihnen lag. Schließlich löste sie sich auf und gab den Blick auf Astur und Pelin frei. Es war noch früh am Tag und beide Sonnen waren noch ein ganzes Stück voneinander entfernt. Hier gab es keinen ausgetretenen Pfad mehr, der die Verlängerung des »Trollsteigs«, wie Angholt den Alten Klippweg insgeheim getauft hatte, gebildet hätte. Reisende kamen selten in diese Gegend.

Sie durchquerten eine weite, grasbedeckte Ebene, die zum südlichen Teil des Seenlandes gehörte. Vereinzelte Bäume und Büsche standen unregelmäßig verstreut in der Landschaft. Von einer Besiedlung war keine Spur zu entdecken. Gelegentlich blickten Melbart und Ken´ir misstrauisch in den klaren Himmel, um sich zu vergewissern, dass sich nirgendwo die Silhouetten von Kimocs zeigten. Im Wald waren sie vor einer Entdeckung geschützt gewesen, doch in diesem freien Gelände würden sie ihren scharfen Augen kaum entgehen können. Obwohl sie nichts feststellen konnten, hatten sie zeitweilig das Gefühl, beobachtet zu werden.

Schließlich erreichten sie eine flache Anhöhe und hielten an. Dieser Ort gestattete ihnen eine gute Rundumsicht. Ein einzelner Reiter kam auf sie zu.

„Seid ihr endlich da!“, rief er. Es war Angulfin. „Seit gestern warten wir schon bei den Stromschnellen auf euch. Thorgren wird bereits ungeduldig. Er will in die Sümpfe aufbrechen.“

„Wir wurden aufgehalten“, sagte Melbart. „Doch nun lass uns unverzüglich zu ihm stoßen.“

Das letzte Stück des Weges bis zu den Stromschnellen war nur noch kurz. Als sie über eine letzte Hügelkuppe kamen, sahen sie im Talgrund vier Pferde grasen. Eine Gestalt löste sich aus einem Hain und lief auf eine kleine Erhebung zu, die sich beim Näherkommen als eine ungewöhnliche Höhle entpuppte. So, wie sie in der Bodensenke lag, konnte sie nur künstlich angelegt worden sein. Das war aber tatsächlich nur zu erkennen, wenn man aus der Richtung kam, aus der sich die Reiter jetzt diesem Ort näherten.

Kurz bevor sie den Höhleneingang erreichten, traten zwei Männer heraus. Das mussten Thorgren und Zihanor sein.

Angulfin und Melbart übernahmen die Vorstellung der nun vollzähligen Gefährten. Es waren mehr geworden, als Thorgren erwartet hatte. Tatsächlich hatte er anfangs ja mit überhaupt keinen Begleitern gerechnet.

Angholt hatte sich von den »Schrecken« des unheimlichen Waldes wieder erholt und seine Abenteuerlust war zurückgekehrt. Er fing innerlich zu lachen an, als ihm plötzlich die einfältige Frage einfiel, ob die Fahrt für eine so große Gruppe überhaupt genug Abenteuer bieten konnte. Doch es sollten mehr als genug werden.

Adhasil wunderte sich, warum der Mann, den Angulfin als Zihanor vorgestellt hatte, sich plötzlich und mit erschrockenem Gesicht abwandte und in die Höhle verschwand. Nach einiger Zeit kam er mit einem enttäuschten Gesicht wieder heraus. Sein Verhalten blieb ihr ein Rätsel, bis sie von den verbrannten Fischen hörte.

Sie hatten sich eigentlich dazu entschlossen, ohne Verzögerung weiterzureiten, doch zuvor wollte Angholt unbedingt noch die Höhle untersuchen, die Thorgren, Zihanor und Angulfin als Unterschlupf gedient hatte, denn sie schien ihm nicht natürlichen Ursprungs zu sein. Und falls seine Vermutung stimmte, musste sie irgendwer geschaffen haben. Vielleicht konnte er darüber etwas herausfinden.

Er wartete, bis Thorgren und Zihanor mit ihrer Ausrüstung herauskamen.

„Was hast du vor?“, fragte ihn Zihanor.

„Mich nur noch einmal kurz drinnen umsehen.“

„Wenn du meinst, dass es dort etwas zu entdecken gibt. Nimm wenigstens diese Fackel mit.“

Zihanor hatte sie noch nicht gelöscht. Er grinste Thorgren an und sagte: „`Mal sehen, wie lange er braucht, um ihn zu entdecken.“

„Wir hätten ihn warnen sollen“, meinte Thorgren, ohne auf den kleinen Seitenhieb seines Freundes einzugehen. „Er wird sich zu Tode erschrecken.“

„Was soll ihm denn passieren?“

„Nichts, sonst hätte ich ihn ja auch nicht hineingelassen. Und trotzdem ist es nicht gerade besonders nett von uns.“

Urth stand ihnen am nächsten und hatte dieses »geheimnisvolle« Gespräch mitgehört.

„Was gibt es denn in der Höhle, das so schrecklich ist. Wovor soll Angholt sich zu Tode erschrecken?“, fragte er.

Zihanor feixte. „Das ist kein Geheimnis. Vor einiger Zeit war diese Höhle bewohnt, und sein Bewohner befindet sich immer noch in ihr. Es ist ein Troll –.“

„Ein Troll! Und da lasst ihr Angholt –?“

„Keine Sorge, er ist versteinert“, versuchte Thorgren Urth zu beruhigen. „Es besteht keine Gefahr mehr. Oder glaubt Ihr, wir hätten sonst die Nacht in der Höhle ungeschoren überstanden?“

„Den muss ich mir ansehen“, sagte Urth und folgte Angholt.

Im gleichen Augenblick erfolgte ein gedämpfter Ruf aus dem Inneren der Höhle.

„Kommt her! Das müsst ihr gesehen haben! Unglaublich!“, hörten sie die Stimme Angholts.

„Ich bin ja schon da“, antwortete Urth und stand kurz darauf neben ihm.

„So viel dazu, dass er sich zu Tode erschrecken wird“, meinte Zihanor spöttisch.

„Ja“, knurrte Thorgren. „Er hat mehr Mut als Verstand, wie es aussieht.“

Kurz darauf bestaunten alle, die ihn noch nicht gesehen hatten, den Troll am Eingang zur hinteren Höhle. So sonderbar die Höhle auch aus der Ferne ausgesehen hatte, und so wenig sie in diese Umgebung zu passen schien, sie fanden nicht heraus, ob es der Troll war, der sie angelegt hatte. Aber in einer Hinsicht waren sie sich einig: Die Lebensweise dieser Wesen musste sich im Laufe vieler Jahre geändert haben. Zu dieser Zeit fand man sie fast nur noch in den abgelegenen Gegenden der Hochgebirge, und keiner bedauerte, dass es nur noch wenige gab. Die Trollschlucht war eine der wenigen bekannten Ausnahmen, lag aber auch in den Bergen. Weder in den Ebenen noch in den Wäldern waren Trolle jemals gesehen worden. Sowohl der Klippstein als auch dieser Troll mussten aus einer Zeit vor den Menschen und Elfen stammen, in der sie anscheinend unternehmungslustiger waren. Vielleicht lebten damals auch so viele Trolle auf Erdos, dass sie aus ihren beheimateten Gebieten auswandern mussten. Wenn diese Feststellung sicher keine Bedeutung für ihre weitere Reise hatte, so war sie dennoch sehr interessant. Und jeder war froh, dass sie nicht mehr überall mit Trollen rechnen mussten.

Nach dieser kurzen Verzögerung verloren sie aber wirklich keine Zeit mehr und machten sich endlich auf zu den Schwarzen Sümpfen, einem Gebiet, so groß wie der Valedrim-Wald, genauso voller Geheimnisse und Gefahren, aber noch weniger erkundet. Am folgenden Tag sollte dann die Wanderung zur Seherin Branwyn beginnen.

Die Rache des Kryonos

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