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13. Durch die Wildnis des Seenlandes

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Die Reiter wurden von einer verwilderten Landschaft empfangen, die von den Seenländern weder als Ackerland noch als Weideland genutzt wurde. Hier kam kaum jemand her und dann war es meistens eine der seltenen Grenzpatrouillen. Die drei Gefährten mussten sich ihren Weg über Brachland und durch schwer durchquerbare Wälder bahnen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder auf besiedeltes Gebiet trafen.

Zunächst breitete sich vor ihnen eine hügelige Steppenlandschaft aus und sie kamen zügig voran. Wenn der Grasbewuchs auch hoch war, so bildete der Boden einen harten und trittfesten Untergrund. Beschwerlicher wurde es jedoch, als sie wieder in tieferliegende, sumpfige Auenwälder kamen, die sich weit an der Dagau entlang ausdehnten. Mehr als einmal mussten sie umkehren und sich einen neuen Weg bahnen, weil ihnen umgestürzte Bäume den Weg versperrten. Thorgren und Angulfin waren allmählich nicht mehr so sicher, ob sie auf der Hauptstraße zu den Grauen Bergen nicht doch schneller gewesen wären. Nun bestätigte sich, was Gorangor ihnen bereits gesagt hatte, nämlich dass dieser Weg wahrscheinlich schlechter als sonst gangbar sein würde, da es in jenem Frühjahr ungewöhnlich viele Stürme mit übermäßig viel Regen gegeben hatte. Doch zum Umkehren war es nun zu spät, und sie mussten sich irgendwie in dieser Wildnis durchschlagen.

Als um die Mittagszeit die beiden Sonnen hoch am Himmel standen, wurde es besonders unangenehm. In der drückenden Hitze erwachten gewaltige Schwärme von Mücken wieder zu ihrem lästigen Dasein und suchten die Reiter schlimmer heim als am Vortag. Diese unerwarteten Leckerbissen wollten sie sich nicht entgehen lassen. Die Reiter versuchten sich davor zu schützen, indem sie sich Tücher um ihre Köpfe wickelten, die nur einen schmalen Sehschlitz offenließen. Doch das brachte nur wenig Schutz, denn auch durch diese engen Öffnungen kamen genügend Mücken, um ihnen das Leben schwer zu machen. Wenn sich bisher einer von ihnen gefragt hatte, warum in dieser Gegend keine Menschen lebten, nun verstand er es. Obwohl sie bald der Hunger plagte, machte niemand den Vorschlag, eine Rast einzulegen.

Am späten Nachmittag stieg das Gelände endlich wieder an. Sie erreichten den Saum des Auenwaldes und über ein freies Stück Grasland gelangten sie in einen höher gelegenen Wald. Hier war es merklich kühler und luftiger. Kurze Zeit später fanden sie die ersten Spuren menschlicher Besiedlung. Sie stießen auf die Überreste geschlagener Bäume und schließlich wieder auf einen schmalen Pfad, der dort offensichtlich endete oder begann, je nachdem, aus welcher Richtung man kam. Allerdings war es Zufall, dass sie bereits an dieser Stelle auf ihn trafen. Der Pfad wurde bald breiter und gab schließlich zwei Pferden nebeneinander Raum.

Dann öffnete sich der Wald am Wegesrand zu einer Lichtung. Sie war überwiegend von Moos bedeckt, bot aber immer noch ausreichend Gras für die Pferde, und ein kleiner Bach mit kristallklarem Wasser plätscherte munter am Rande der Lichtung und nahm seinen Weg hinunter zur Dagau.

„Wenn es heute einen guten Rastplatz für uns gibt, dann ist es hier“, entschied Thorgren. „Es ist schon spät und die Dämmerung wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Für diese Nacht sollten wir es uns an dieser Stelle bequem machen. Was meint ihr?“

Keiner hatte Einwände und damit war sein Vorschlag beschlossene Sache. Sie waren seit dem Morgen ununterbrochen unterwegs gewesen und die Reiter und Pferde waren erschöpft. Nicht nur die Mücken hatten ihnen zugesetzt.

Als sie das Gepäck und die Sättel von den Pferden nahmen, konnten sie fast deren Erleichterung spüren. Thorgren legte Decken auf die Rücken der Pferde und ließ sie dann frei. Er wusste, sie würden nicht davonlaufen. Seit sie die Hauptstadt Lysidiens verlassen hatten, schien Mondblesse eine stille Führerschaft über die anderen Tiere erlangt zu haben. Er würde dafür sorgen, dass die Pferde am nächsten Tag noch alle da waren.

In der Mitte der Lichtung entzündeten sie ein kleines Feuer. Da sie sich in der Grenzfestung ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt hatten, brauchten sie an diesem Tag noch nicht auf die Jagd zu gehen. Es gab Trockenfleisch, Brot und gedörrte Früchte. Sogar einige wohlschmeckende Kuchen waren ihnen eingepackt worden. Alles in allem ging es ihnen jetzt wieder ganz gut und die Anstrengungen des Tages waren fast vergessen.

Thorgren hätte sich gern eine Pfeife gestopft, aber inzwischen war ihm der Tabak ausgegangen, sehr zur unterdrückten Freude Zihanors.

„Kein schlechter Ort für eine Rast nach einem Tag wie diesem“, fand Zihanor.

„Wohl wahr“, stimmte Angulfin zu und nahm sich noch ein Stück Fleisch.

„Obwohl eine Übernachtung im Freien irgendwo in der Wildnis einem Königssohn wohl kaum Wohlbehagen bereiten kann“, spöttelte Thorgren und grinste.

„Du hältst mich für einen dieser verweichlichten Edelinge? Unterschätz mich nicht“, warnte Zihanor betont langsam. „Ich habe bereits als Kind an Jagden und Reisen teilgenommen, die an Anstrengungen und Entbehrungen nichts haben fehlen lassen.“

„Keine Grund zum Ärgern, ich wollte dich nur ein wenig aufziehen“, meinte Thorgren lächelnd. „Und das scheint mir gelungen zu sein.“

Beide lachten, obwohl es Zihanor schon ein wenig wurmte, dass er Thorgren in die Falle gegangen war. Zihanor brauchte sich aber tatsächlich hinter niemandem zu verstecken. Schon früh durfte er seinen Vater auf die Jagd begleiten, sehr zum Leidwesen seiner Mutter, denn ihr Sohn war bekannt für seinen Mut und seine Waghalsigkeit, obwohl man ihm noch nicht einmal einen übergroßen Leichtsinn zusprechen konnte. Trotzdem tat er manchmal Dinge, die seine Mutter, wenn sie davon erfuhr, in Angst und Schrecken versetzen konnten. Sein Vater schaffte es jedoch immer wieder, sie davon zu überzeugen, dass ihr Sohn nicht erwachsen werden konnte, wenn er sich immer nur im Schutz der Burg aufhielt.

Zihanor war nach wenigen Jahren ein erfolgreicher Jäger geworden und hatte sich die Achtung seiner Begleiter erworben. Sein größter Erfolg, aus seiner Sicht, war das Erlegen eines kleinen Horndrachens, den er ohne jede Hilfe zur Strecke brachte, nachdem er sich heimlich von den anderen Jägern seines Vaters fortgeschlichen hatte. Damals war er in einem Alter von fünfzehn Jahren gewesen, also für lysidische Verhältnisse noch ein Kind.

Horndrachen waren flink und nicht ungefährlich. So manch einem Krieger wurde durch ein solches Tier ein Schicksal beschieden, das er eigentlich ihm zugedacht hatte. Doch Zihanor hatte Glück und die notwendige Kraft und Geschicklichkeit, diesen Kampf für sich zu entscheiden. Anstatt zu Ehren zu kommen, wie er hoffte, erlebte Zihanor jedoch seinen Vater so ärgerlich wie nie zuvor, und auch die anderen Jäger versagten ihm ihre Hochachtung, zumindest für diesen Augenblick. Erst viel später verstand Zihanor, welcher großen Gefahr er sich ausgesetzt und die nachträglichen Ängste, die er bei seinen Eltern ausgelöst hatte. Jedenfalls wurde er zur Strafe für einige Zeit von den Jagdveranstaltungen seines Vaters ausgeschlossen. Dieses Mal hatte sich seine Mutter – ohne große Mühe – bei ihrem Ehemann durchgesetzt. Das Verbot war ärgerlich gewesen, aber dass seine beiden jüngeren Brüder weiterhin an den Jagden teilnehmen durften, das war eine wirkliche Strafe.

Erst Jahre später hatte Zethimer ihm gegenüber dann aber doch zugegeben, wie stolz er damals auf ihn war, heimlich natürlich, es aber nicht zeigen konnte, damit er so eine Dummheit nicht wieder beging. Auch bei den anderen Jägern hatte Zihanor durch diese Tat einen gewissen Ruhm erlangt, was er auch erst später erfuhr, denn Zethimer hatte sie damals angewiesen, den Übermut seines Sohnes durch bewundernde Rede nicht noch zu stärken.

Von all dem wusste Thorgren nichts, und Zihanor hatte nicht die Absicht, ihm davon zu erzählen, noch nicht, denn allzu leicht kam man in den Ruf, ein Aufschneider zu sein.

„Du hast ein schönes Pferd“, sagte er stattdessen, und Zihanor verstand einiges von Pferden. „Besitzt du es schon lange? Ich hörte einige Male, wie du mit ihm sprichst, und es schien dich fast zu verstehen.“

„Ja, es versteht mich, jedenfalls so, wie ein Tier einen Menschen verstehen kann“, antwortete er. „Ich kenne Mondblesse schon zeit seines Lebens. Ich war bei seiner Geburt dabei und gab ihm seinen Namen. Er kam in einer Vollmondnacht und mit einer Blesse auf seiner Stirn zu Welt. Was lag da näher, als ihm diesen Namen zu geben? Damals kümmerte ich mich viel um ihn. Ich verwaltete die Ställe König Harismunds. Als Mondblesse älter wurde, stellte sich heraus, dass er sehr eigensinnig war und sich von niemandem reiten lassen wollte. Ich selbst hatte es bis dahin noch nicht versucht, aber von allen anderen, die es versucht hatten, traute sich niemand mehr an ihn heran, obwohl sich Mondblesse durchaus gutmütig zeigte, solange niemand Anstalten machte, ihn reiten zu wollen. König Harismund erkannte sehr wohl, dass er edlen Geblüts war, aber unter diesen Umständen wohl nur für die Zucht geeignet. Schließlich, aus einer Laune des Augenblicks heraus, schlossen er und ich eine Wette ab, dass, wenn mich das Pferd tragen würde, ich es behalten dürfte. Ich hatte dabei nichts zu verlieren und Harismund war sicher, dass er die Wette gewinnen würde. Doch er täuschte sich. Nachdem ich Mondblesse mit einigen flüsternden Worten in sein Ohr meine Absicht verraten hatte, wie ich es gelegentlich tat und auch heute noch tue, schwang ich mich auf seinen Rücken. Zum Erstaunen aller, die dabeistanden, trug er mich, als hätte er nie etwas anderes getan. Er gehorchte mir auf jedes Zeichen und jeden Befehl. Ich gebe aber zu, dass ich dessen vorher nicht sicher gewesen war. Damit hatte der König wahrhaftig nicht gerechnet. Ich glaube, der Ausgang der Wette war ihm nicht ganz recht, doch er hielt sein Wort. Seither sind Mondblesse und ich wie zwei Freunde. Er hat mich durch viele Abenteuer und Reisen getragen.“

„Eine interessante Geschichte“, meinte Zihanor. „Man merkt, dass du einiges von Pferden verstehst.“

„Harismund war zufrieden mit mir“, sagte Thorgren bescheiden.

Während sich die beiden am Lagerfeuer unterhielten, hatte Angulfin seine Decke ausgebreitet und sich ausgestreckt darauf niedergelassen. Mit geschlossenen Augen lag er da, und schien zu schlafen. Plötzlich richtete er sich jäh mit unerwarteter Schnelligkeit auf und verlangte Ruhe.

„Jemand ist in der Nähe“, zischte er.

Zihanor und Thorgren blickten sich um, konnten aber niemanden erkennen. Die Pferde grasten ruhig vor sich hin und zeigten keinerlei Anzeichen von Unruhe. Die Bäume wiegten leicht im nächtlichen Wind und über ihnen wölbte sich der sternenklare Himmel. Alles machte einen friedlichen, gewöhnlichen Eindruck. Doch wenn Angulfin etwas gespürt hatte, dann war da auch etwas.

Ein leises Wispern erreichte ihre Ohren, und es kam aus einer ganz bestimmten Richtung aus dem Wald. Unwillkürlich lief Thorgren ein Schauer über den Rücken. Gut, dass es niemand merkt, dachte er bei sich und hoffte, Zihanor würde es ähnlich ergehen. Das Wispern wurde lauter und wandelte sich zu einem leisen, vielstimmigen Sprechchor, wenn er ihn auch nicht verstand. Und nun sah Thorgren, wie zwischen den Bäumen eine verschwommene Gestalt sichtbar wurde. Sie nahm an Deutlichkeit zu und offenbarte sich schließlich als eine Frau, die Thorgren noch nie gesehen hatte. Der Chor verstummte. Im gleichen Augenblick schienen alle anderen Sinneseindrücke in den Hintergrund zu treten.

Um Thorgren herum verschwanden die Geräusche des nächtlichen Waldes. Sogar sein Blickfeld war jetzt auf die Erscheinung beschränkt. Die Frau trug ein langes, wallendes, weißes Kleid, das um die Taille von einer grünen Kordel gehalten würde. Gelockte schwarze Haare fielen auf ihre Schultern. Doch was ihm am deutlichsten auffiel, das war ein strahlendblaues Ding auf ihrer Stirn, das mit einem goldenen Kettchen gehalten wurde. Thorgren vermutete, dass es sich um einen Edelstein handelte, obwohl ihm keiner bekannt war, der so klar strahlte.

Die Frau stand – schwebte – reglos für einige Zeit, die Thorgren nicht abschätzen konnte, zwischen zwei Bäumen und blickte ihn eindringlich an. Die leisen Stimmen waren verstummt. Er erwartete nun, dass sie irgendetwas zu ihm sagte, doch sie schwieg, bis sie langsam wieder verschwand. Sie wandte sich nicht ab und ging – schwebte – in den Wald. Sie löste sich einfach auf.

Es dauerte noch eine kurze Zeit, bis er wieder zu sprechen wagte.

„Habt ihr das Gleiche gesehen wie ich?“, fragte er, immer noch überrascht.

„Das kommt darauf an, was du gesehen hast“, meinte Zihanor. „Für mich war es nur ein seltsamer, weißer Nebel, obwohl ich zuerst glaubte, Stimmen zu hören. Doch so, wie du aussiehst, hast du mehr gesehen.“

„Es war eine Frau, und dazu eine sehr schöne Frau, zumindest ihre Erscheinung war es“, erklärte er etwas zusammenhangslos. „Sie sah mich nur an, sagte aber nichts. Und dann verschwand sie wieder. Und ihr habt sie wirklich nicht gesehen?“

„Nein“, bedauerte Zihanor – umso mehr nach Thorgrens Beschreibung.

„Kannst du mir genauer beschreiben, was du gesehen hast, Thorgren?“, wollte Angulfin wissen.

Nun schilderte Thorgren seine Beobachtung in allem, woran er sich erinnerte und Angulfin nickte verstehend. Natürlich hatte der Magier die Erscheinung genauso klar gesehen, wie Thorgren, doch er wollte wissen, wer von den beiden sie deutlicher erkannt hatte. Und es war, wie er erwartet hatte.

„So bald hatte ich mit ihr noch gar nicht gerechnet“, sagte er nur.

„Du meinst, es war die Seherin?“, wunderte sich Thorgren. „Dann brauchen wir vielleicht gar nicht mehr in die Sümpfe.“

„Ich fürchte, deine Hoffnung wird sich nicht erfüllen“, meinte Angulfin. „So viel ist sicher: Branwyn war es nicht. Aber ihr braucht euch wegen dieser geheimnisvollen Besucherin keine Sorgen zu machen. Und nun sollten wir schlafen. Morgen wird wieder ein anstrengender Tag.“

Damit legte er sich wieder hin, drehte sich auf die Seite und zog seine Decke über den Kopf. Ja, sie gingen ihren Weg nicht allein, waren seine letzten Gedanken, bevor er einschlief.

Angulfins Erklärung hatte bei Thorgren und Zihanor nichts dazu beigetragen, ihre Verwirrung zu verringern. Aber es half nichts, offensichtlich hatte Angulfin an diesem Abend nicht die Absicht, sie aufzuklären.

Die Rache des Kryonos

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