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2. Auftrag aus dem Jenseits

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Miesmutig folgte ein Reiter der endlosen Straße durch die Grauen Berge. Seit seinem frühen Aufbruch am Morgen dieses Tages hatte ihm ein wütendes Unwetter zugesetzt, es wollte einfach nicht von seiner Seite weichen. Jedes Mal, wenn es schwächer zu werden schien, war es nach kurzer Zeit umso heftiger über ihn hereingebrochen mit Sturm, Regen, Blitz und Donner. Die kurzen Unterbrechungen kamen dem Reiter wie ein Atemholen vor, bevor es sich dann umso unbändiger austobte. Fast schien es, als wollte ihn das Wetter zur Umkehr bewegen. Wäre sein Vorhaben nicht von so außerordentlicher Bedeutung gewesen, hätte er sich vielleicht sogar geschlagen gegeben, aber sein Auftrag erlaubte keinen Aufschub. Es war jetzt später Nachmittag, und wenn er diesen letzten Anstieg geschafft hatte, wartete ein sicherer Unterschlupf auf ihn.

Vor zwei Tagen hatte er Thorafjord, die Hauptstadt des Seenlandes, mit einem geheimen Auftrag verlassen, und Pferd und Reiter hatten nur selten gerastet. Die wenigen Stunden der Nachtruhe hatten sie in einer der geheimen Vorratshöhlen zugebracht. Diese Höhlen lagen gut verborgen entlang des alten Heerweges, den er benutzte.

Der Reiter war als Abgesandter seines Königs in einer Angelegenheit unterwegs, die, so hofften beide, mit einer Annäherung zwischen dem Seenland und Lysidien endete. Nur eine kleine Anzahl enger Vertrauter des Königs wusste von diesem Vorhaben. Kaum einer am Hofe des Herrschers wäre nicht dagegen gewesen, und manche hätten versucht, den Erfolg des Unternehmens zu vereiteln. Der letzte Krieg war noch in zu guter Erinnerung und die Abneigung gegen die Lysidier groß. Daher musste der Reiter heimlich die Stadt verlassen und, um kein Aufsehen zu erregen, allein. Es kam seinem Auftrag sehr entgegen, dass er am ersten Reisetag nur selten jemandem unterwegs begegnet war, und in seinem Waldläufermantel und unter dem breiten Hut wäre er kaum erkannt worden, falls tatsächlich ein Bekannter unter ihnen gewesen wäre. Kein einziges Mal hatte der Reiter angehalten, um mit irgendwem Worte zu wechseln. An diesem zweiten Tag schien er sogar der einzige Reisende in den Grauen Bergen zu sein.

Die Umstände seines Auftrages zwangen ihn zur Eile. Zwar hatten sich die Vorfälle an den nördlichen Grenzen des Seenlandes noch nicht als ernst erwiesen, aber die Lage drohte sich zu verschlechtern, seit immer öfter die dämonischen Bestien, nicht selten im Verband mit Uranen, gesichtet worden waren, die die Grenzen heimlich zu überschreiten versuchten. Vereinzelt waren sie von Felsgnomen unterstützt worden, was ungewöhnlich war, da Felsgnome und Uranen gemeinhin als verfeindet galten. Die Bestien wurden von den Felsgnomen sogar bis aufs Blut gehasst, hatte man bisher angenommen. Deshalb war diese Beobachtung umso besorgniserregender. Dass der seenländische König die Lysidier um Beistand gegen einen erstarkenden Feind bitten wollte, machte seinen Auftrag heikel.

Der Reiter schonte sein Pferd nicht, aber es war ausdauernd und zäh. Das Tier hatte mit seinem Herrn schon manche Abenteuer und Gefahren bestanden, und dieses Mal schien es besonders zu spüren, dass es auf seine Kraft ankam.

Der Regen nahm die Sicht, und nichts mehr an dem Mann und seiner Ausrüstung war trocken. Grelle Blitze zuckten vom Himmel und blendeten die Augen. Krachender Donner rollte durch die engen Gebirgsschluchten der Grauen Berge. Die Kälte ließ seine Gliedmaßen klamm und steif werden, obwohl es Sommer war.

Erschöpft erreichten sie schließlich die Höhe des Aghor-Passes. Hier oben lag die sogenannte Große Depothöhle mit dem wichtigsten Vorratslager, das König Harald, der Großvater des jetzigen seenländischen Königs Harismund, auf dieser wichtigen Bergquerung anlegen ließ. Das Netz der Versorgungshöhlen stammte noch aus der Zeit des Lysidien-Krieges und hatte vielen Regimentern, die über den damals schwer zugänglichen Aghor-Pass zogen, gute Dienste geleistet. Sie wurden auch weiterhin von königlichen Heerscharen genutzt, aber mittlerweile war die Straße ausgebaut worden und bequemer zu bereisen.

Vor Regen triefend, zog der Reiter sein Pferd in die Höhle. Hier waren sie vor feindlichen Augen sicher, auch wenn an diesem Tag die Gefahr einer Entdeckung gering war.

Die Höhle bestand eigentlich aus zwei Kammern. Durch eine kleine Vorhöhle, die man unverändert gelassen hatte, konnte die Haupthöhle durch einen schmalen Spalt, der gerade einen Reiter und sein Pferd durchließ, erreicht werden. Hier war es gefahrlos möglich, ein Feuer zu entzünden, ohne dass es nachts von draußen zu sehen gewesen wäre. Schnaufend und dampfend ließ sich das Pferd in die große Höhle führen. Plötzlich fing es mit einem unruhigen Wiehern an, nervös zu tänzeln.

„Ruhig Mondblesse!“, sagte der Reiter und klopfte beruhigend den Hals des Tieres. „Was hast du denn? Niemand anderes als wir beiden ist hier.“

Der Mann sah sich um und versuchte, etwas Auffälliges zu entdecken, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen oder hören. Er kannte sein Pferd aber und wusste, wie es reagierte, wenn irgendetwas nicht in Ordnung war. Jetzt spürte er es auch. In der Höhle war es dunkel und still – unnatürlich still, wie er fand, einmal abgesehen vom Schnaufen und Stampfen des Tieres. Kein Donnerhall, kein entferntes Aufflackern eines Blitzes erreichte die innere Höhle. Nicht einmal das leise Pitschen von Wassertropfen an der hinteren Felswand konnte er vernehmen, obwohl bei einem solchen Wetter immer Regen durch unentdeckte Felsspalten sickerte und irgendwo im Boden wieder verschwand.

Der Mann ließ das Pferd los und ging langsam und leise in die Mitte der Höhle. Er fühlte weniger Furcht als erwartungsvolle Unruhe. Er entzündete eine Fackel und ein zitterndes, trübes Licht erfüllte den Raum, das ihn schwach die Lagerfässer, die Flaschen und das Geschirr in den Regalen, die Kisten mit den Handwaffen, die Schilde und Speere an den Wänden und die sauber aufgestapelten Schlafdecken erkennen ließ. Alles schien unberührt und in tadellosem Zustand – und doch, irgendetwas kam ihm seltsam vor. Dann plötzlich wurde der Raum von einem türkisen Glühen erfüllt. Die Haut des Mannes kribbelte. Sonst geschah zunächst nichts. Das Leuchten aber wirkte übernatürlich.

In der Mitte des Raumes entstand ein gelborange leuchtender Lichtpunkt. Er vergrößerte sich rasch und nahm bald die Form eines Menschen an, dessen Oberkörper in einer hellen Aura inmitten der Höhle schwebte. Es war die Erscheinung eines Mannes, den der Reiter gut kannte, obwohl er ihn bisher nur auf Gemälden gesehen hatte.

„König Nigall!“, entfuhr es dem Reiter erstaunt und ungläubig, als er den Geist des ersten bekannten Königs des Seenlandes erkannte.

„Thorgren von Hedau! Sohn des Thorben von Hedau und Seneschall des Königs Harismund! Ich grüße dich“, erscholl die unerwartet tiefe, Ehrfurcht gebietende Stimme des Geistes.

Es entstand eine kurze Pause und die Stimme verhallte im Berg.

„Die Zeit der Erfüllung der Aufgabe deiner Familie naht. Jetzt obliegt sie dir. Kryonos kommt wieder zum Vorschein. Vollende, was angefangen wurde. Erinnere dich der Legenden. Suche die Seherin Branwyn in den Schwarzen Sümpfen auf. Sie wird dir eine Hilfe sein bei dem, was deiner Familie auferlegt wurde. Sie erwartet dich!“

Bevor Thorgren antworten konnte, verblasste die Erscheinung wieder. Er hatte die Worte gehört, war sich aber keineswegs sicher, ob er sie verstanden hatte. Von welcher Aufgabe hatte der Geist König Nigalls gesprochen? Was bedeutete das alles? Und warum hatte der Geist keine Fragen abgewartet?

Die Fackel war erloschen, und wieder umgab Thorgren eine tiefe Finsternis. Das Grollen des fernen Unwetters ließ den Felsen schwach erzittern und vereinzeltes Flackern der Blitze schimmerte dann und wann an den Wänden der Höhle nahe des Felsspaltes, als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Thorgren entzündete die Fackel erneut. Kurz darauf erfüllte das Knistern und das Licht eines kleinen Feuers die Höhle, nachdem er einige Holzscheite auf einer der Feuerstellen in Brand gesetzt hatte. Er nahm Mondblesse das Zaumzeug ab, lud das Gepäck und den Sattel von seinem Rücken und versorgte ihn mit Wasser und Hafer aus den gelagerten Vorräten. Inzwischen hatte sich das Pferd wieder beruhigt. Nun ließ Thorgren sich an dem wärmenden Feuer nieder. Während er Brot und getrocknetes Fleisch aß und Bier aus einem der Lagerfässer trank, dachte er über die Erscheinung König Nigalls nach.

Sein Vorfahr hatte den Namen Kryonos erwähnt. Natürlich hatte Thorgren bereits von ihm gehört, wenn er auch nur eine verschwommene Vorstellung hatte, welches Wesen sich dahinter verbarg. Plötzlich fiel ihm wieder die Geschichte von König Merowinth ein. Aus dessen Linie stammte er selbst ab. Dieser berühmte König des Seenlandes war vor langer Zeit mit einer kleinen Schar von Kriegern aufgebrochen, um Kryonos die Stirn zu bieten. Es war während des Großen Krieges, als die Völker von Erdos ihrem Untergang nahe waren. Bis in Thorgrens Tage hatten sich zahlreiche Legenden um diesen sagenhaften König erhalten, obwohl später nur wenig über das bekannt wurde, was sich damals wirklich ereignet hatte. Sicher war nur, dass die noch lebenden Bestien die Überreste von Kryonos´ ehemals übermächtigen Heeres waren. Wenn die Legenden von König Merowinth auch behaupteten, dass sein Eingreifen schließlich zum Sieg über sie geführt hatte, erklärten sie doch nicht, was tatsächlich geschehen war, denn bedauerlicherweise war keiner aus seiner Schar jemals zurückgekehrt. Auffällig war allenfalls, dass einige Zeit nach Merowinths Aufbruch Kryonos´ Macht plötzlich verfiel, daran erkennbar, dass sich seine Heerscharen auflösten und von den Orten der Kämpfe zurückzogen, um im Kepirgebirge und in den Nördlichen Winterbergen Zuflucht zu suchen. Viele von Kryonos´ Kriegern flüchteten sich auch in die Grauen Berge, konnten dort nach und nach aber aufgestöbert und erschlagen werden. An den nördlichen und östlichen Grenzen war anschließend ein dichtes Wachnetz aufgebaut worden. Es war bis in die Tage Thorgrens erhalten geblieben.

Da Kryonos´ Rückzug unter ziemlich rätselhaften Umständen stattgefunden hatte, fürchteten die Bewohner von Erdos in der ersten Zeit nach dem Krieg, dass er früher oder später wieder auftauchen würde, obwohl er selbst niemals an den Schauplätzen der Kämpfe erschienen war. Es wurde allgemein angenommen, dass Kryonos aus unbekannten Gründen an die Domgrotten des Verlorenen Berges gefesselt war, nachdem er seine Macht eingebüßt hatte. Er galt immer noch als lebendig. Es waren aber aus unerfindlichen Gründen keine Versuche unternommen worden, ihn endgültig zu töten, und mittlerweile war die Gefahr aus dem Bewusstsein der meisten Erdaner verschwunden. Nur noch den Herrschern und wenigen Gelehrten war er bekannt, und das auch nur aus den Legenden, wie es anders auch nicht sein konnte.

Jeder König aus Merowinths Geschlecht hatte die vererbte Pflicht, im Falle der Rückkehr von Kryonos bereit zu sein, erneut gegen ihn zu kämpfen. Im Lauf der eintausend Jahre war der königliche Zweig dieser Familie jedoch ausgestorben. Daher hatte Thorgren als der letzte Nachkomme des wichtigsten Seitenzweiges von denen, die noch existierten, wie auch seine bisherigen geradlinigen männlichen Vorfahren und noch ungeborenen Nachkommen, falls es erforderlich wurde, diese Aufgabe zu erfüllen.

Thorgren wusste, dass diese Aufgabe in jener Legende um Merowinth begründet lag, obwohl er nie ganz sicher war, ob der Rückzug von Kryonos tatsächlich etwas mit dem vermuteten Sieg des Königs zu tun hatte. Andererseits, welche Art von Sieg sollte es gewesen sein, wenn Kryonos immer noch lebte? Zu vieles war ungeklärt geblieben. Für ihn selbst waren diese Dinge immer fern und unwirklich gewesen, und sie hatten ihn wenig gekümmert. Und nun, wo das Schicksal ihn anscheinend dazu ausersehen hatte, gegen Kryonos anzutreten, fragte er sich, warum niemals versucht worden war, ihm ein Ende zu bereiten, während er geschwächt in seinen Höhlen hauste. Doch er fand keine befriedigende Antwort. Mit seinem derzeitigen Auftrag konnte es jedenfalls nichts zu tun haben.

Thorgren schreckte aus seinen Gedanken auf. Waren da schleichende Schritte? Rasch zog er sein Schwert und wich in eine hintere Nische zurück. Von hier konnte er den Eingang zur Haupthöhle beobachten und war dennoch selbst vor allzu leichter Entdeckung geschützt. Wieder hörte er ein schlurfendes Geräusch. Dieses Mal näher und deutlicher. Was ihm jetzt noch fehlte, war die Begegnung mit einem der gefürchteten Trolle, die vereinzelt in den Grauen Bergen hausten.

Im gleichen Augenblick kam eine gebeugte Gestalt durch den Felsspalt. Sie war groß und trug eine Kutte nach Art der Druiden. Die Kapuze war über ihren Kopf gestülpt. Der Fremde warf im Licht des Feuers einen unruhigen und übergroßen Schatten an die Wand. Es musste ein alter Mann sein. Er ging langsam und wirkte erschöpft, als hätte er die Last von Jahrhunderten auf seinen Schultern. Thorgren erkannte ihn sofort, und in diesem Augenblick warf der späte Besucher mit erstaunlicher Geschmeidigkeit seine Kapuze in den Nacken und ein zerfurchtes, vollbärtiges Gesicht kam zum Vorschein, umgeben von dichtem, ergrautem Haar, das hinter dem Kopf zu einem Zopf gebunden war.

„Thorgren von Hedau, Sohn des Thorben von Hedau und Seneschall Harismunds, des Königs des Seenlandes! Wo versteckst du dich?“, rief er mit kräftiger, sonorer Stimme.

Thorgren fiel belustigt auf, dass an diesem Abend seine Abstammung und sein Rang erstaunlich oft erwähnt wurden. Er trat aus dem Schatten hervor und steckte sein Schwert zurück in die Scheide.

„Melbart, alter Freund“, begrüßte er den alten Mann. „Ich freue mich, dich hier zu sehen, aber welch ein merkwürdiger Umstand führt dich in diese unwirtliche Gegend?“

Beide Männer umarmten sich zur Begrüßung.

„Zuerst einmal würde ich gern etwas essen und trinken“, meinte Melbart. „Ich bin schon lange unterwegs, und das Wetter macht eine Wanderung nicht zu einem sehr erfreulichen Unternehmen.“

Thorgren ging zu den Vorratsfässern, nahm einige Stücke Dörrfleisch heraus und füllte einen Krug mit Bier für Melbart. Nachdem sich beide an das Feuer gesetzt hatten und Thorgren Holz nachgelegt hatte, begann Melbart zu sprechen.

„Wenn ich richtig unterrichtet bin, hattest du vor mir schon einen Besuch. Darüber müssen wir reden. Aber was mich angeht, ich war gerade auf dem Weg zu einer Versammlung meines Ordens, und ich glaube, der Anlass für unseren Rat und die Nachricht an dich ist der gleiche. Jedenfalls scheint der Frieden wieder einmal in Gefahr. Dieses Mal durch einen Feind, der so groß und mächtig werden könnte, wie wir es schon seit langem nicht mehr fürchten mussten, und von dem viele gehofft hatten, er wäre besiegt worden. Die Wahrheit kennen im Augenblick nur wenige.“

„Was mich betrifft, kenne ich sie nur so weit, wie mein Auftrag es erfordert“, meinte Thorgren. „Dass ich die ganze Entwicklung durchschaue, kann ich nicht behaupten.“

„Sei versichert, das wird sich bald ändern. Trotz Nigalls Aufforderung wirst du zuerst nach Schibrasch-dim gehen, nehme ich an?“

Melbart gehörte zu den wenigen Vertrauten König Harismunds, die um dessen Bündnisbemühungen mit den Lysidiern wussten.

„Ja“, antwortete Thorgren. „Der Geist König Nigalls hat mich nicht ausdrücklich zur Eile aufgefordert, und wie du weißt, ist König Harismund daran interessiert, mit den Lysidiern einen wirklichen Frieden auszuhandeln. Wenn der Krieg auch seit einhundert Jahren vorbei ist, so gibt es doch nur einen unerklärten Waffenstillstand zwischen unseren Völkern. Ich will versuchen, erste Schritte für eine Annäherung unserer beiden Länder zu unternehmen und hoffe, – zusammen mit König Harismund –, dass letztlich ein Bündnis dabei herauskommt.“

„Ein Bündnis für den Frieden oder den Krieg?“, warf Melbart ein, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Thorgren sah ihn ernst an und zögerte einen kurzen Augenblick.

„Genau hier liegen die Schwierigkeiten“, gab er zu. „Wir hätten natürlich lieber eins im Frieden und aus freien Stücken. Allerdings scheint die Lage im Norden dagegen zu sprechen, fürchte ich. Und jetzt muss ich versuchen, Zethimer davon zu überzeugen, dass Kryonos´ Krieger sehr bald auch seine Feinde werden können, denn nach Nigalls Worten scheinen die Überfälle erst der Anfang zu sein, wenn es stimmt, dass Kryonos wieder erstarkt. Bisher waren wir immer der Meinung, die Bestien würden selbständig handeln, wenn auch ungeordnet und wenig wirkungsvoll. Die Gründe dafür waren uns jedoch unbekannt. Dass Kryonos wieder beginnt, die Fäden zu ziehen, wie Nigall behauptet, und ich zweifle nicht daran, wird für einige eine unangenehme Überraschung sein. Möglicherweise stärkt diese Tatsache aber meine Verhandlungsposition bei König Zethimer, und ich kann ihn leichter davon überzeugen, dass Kryonos und seine Krieger für ihn genauso gefährlich werden können wie für uns.“

„Dein Vorhaben ist in der Tat nicht einfach, aber notwendig, gerade in dieser Zeit“, meinte Melbart. „Und ich denke, für einige notwendige Entscheidungen unseres Rates brauchen wir noch ein paar Tage, die du bei Zethimer nutzbringend verwenden kannst.“ Thorgren sah ihn fragend an und der Ordensmann fuhr fort: „Vor kurzem fand bei König Wechis in Weißanger ein Wehrrat statt. Das konntest du nicht wissen. Dort wurden einige wichtige Beschlüsse gefällt, die auch dich betreffen, und von denen du noch erfahren wirst. Doch davon mehr zu einem späteren Zeitpunkt. Jedenfalls haben die Namurer an ihrer Ostgrenze die gleichen Beobachtungen gemacht wie ihr, nur vermutete der König anfangs, dass ausschließlich seine Grenze bedroht ist. Ich klärte ihn dann aber über die nicht weniger besorgniserregende Entwicklung in deinem Land auf, und ich bin sicher, dass ihn das beunruhigt hat.“

„Dann scheinen sich größere Dinge anzubahnen, als wir dachten, und der Aufruf Nigalls an mich kommt vielleicht nicht zu früh. Gleichwohl weiß ich nicht so recht, was er von mir erwartet. Aber eines ist klar, ich werde vorerst nicht wieder nach Thorafjord zurückkehren können. Das wird Harismund wahrscheinlich nicht freuen, doch das scheint mir das kleinere Übel. Die Aufgabe meiner Familie, also meine, geht vor, und ich muss wohl als Nächstes in die Schwarzen Sümpfe, um die Seherin zu treffen. Allerdings gebe ich zu, dass ich keine Ahnung habe, was ich dort überhaupt soll. Ihr Name ist im Augenblick der einzige Hinweis. Du kannst mir auch keine Antwort geben, oder? Hm, das habe ich mir gedacht.“

Melbart hatte auf Thorgrens Frage nur leicht den Kopf geschüttelt und nachdenklich in die Flammen des Feuers geblickt.

„Ich fürchte, es geht um das Achôn-Tharén“, meinte Melbart finster und halb in Gedanken. „Aber die Dinge sind noch zu undeutlich.“

„Das Achôn-Tharén?“, fragte Thorgren erstaunt. „Du meinst das Wesen, das Kryonos seine Macht verlieh, und von dem die Legenden sprechen. Also gibt es das doch?“

„Junge, was dachtest du denn?“, fragte Melbart mit erhobener Stimme, der von den Vorbehalten seines Schülers gegenüber besonders dieser Überlieferung wusste. „Habe ich nicht immer wieder versucht, es dir in Erinnerung zu rufen? Ich tat es doch nicht aus Langeweile. Ich wünsche es dir beileibe nicht, aber ich fürchte, du wirst bald die traurige Erfahrung machen, wie viel Wahrheit in meinen Worten steckt.“

Melbart hatte Thorgren mehr als einmal über diese Legende erzählt, sich danach aber oft geärgert, dass Thorgren sie offensichtlich nicht allzu ernstnahm. Wenn sich Melbart nicht so sicher gewesen wäre, dass Kryonos´ erneutes Erstarken in das Leben Thorgrens fiele, dann hätte er seine Versuche, bei ihm die Erinnerung an das Achôn-Tharén wachzuhalten, frühzeitig aufgegeben.

„Dann stimmt es also“, sagte Thorgren nachdenklich. „Aber du weißt, was ich von diesen Dingen halte – ich sollte jetzt vielleicht sagen, gehalten habe, denn nun scheinen sie mich aus der Dämmerung der Zeit heimzusuchen. An den Legenden selbst habe ich aber gar nicht gezweifelt, auch wenn du das glaubst, aber dass sie in meinem Leben wieder an Bedeutung gewinnen würden, war mir unvorstellbar. Du bist wirklich sicher, dass das Achôn-Tharén wieder aufgetaucht ist?“

„Oder kurz davor steht, es zu tun. Ja, da bin ich sicher.“

„Wenn Zethimer das Achôn-Tharén ein Begriff ist, könnte dieser Umstand meinem Anliegen ein zusätzliches Gewicht verleihen“, hoffte Thorgren.

„Jedenfalls häufen sich Nachrichten, die darauf hindeuten“, fuhr Melbart fort. „Aber bereits die Schriften des Schicksals geben Hinweise darauf, dass die Zeit des Kryonos bald wieder anbrechen wird.“

„Ja, ich habe von diesen Schriften gehört“, meinte Thorgren. „Aber über ihren Inhalt weiß ich nichts.“

Melbart lächelte. „Sonst wären sie ja nicht geheim. Nur die Mitglieder unseres Ordens kennen sie. Und doch hoffe ich, dass Kryonos uns noch eine ausreichende Frist lässt, um uns vorzubereiten. Und dir obliegt dabei eine besondere Aufgabe. Du weißt noch nicht, was genau dein Anteil an den kommenden Ereignissen sein wird? Warten wir ab, was Branwyn von dir will, mehr kann ich dir im Augenblick nicht raten. Aber letzten Endes wurdest du aufgrund deiner Abstammung für den Kampf gegen Kryonos ausgewählt, wie immer er aussehen mag. Das ist die Pflicht, die deinem Haus auferlegt ist, und ich fürchte, sie könnte sich schnell als ein Fluch für dich erweisen. Trotzdem, du musst versuchen, sie zu erfüllen, und deshalb bist du seit deiner Kindheit darauf vorbereitet worden, wie dein Vater und dein Großvater.“

„Wie du zu deinem Leidwesen bemerkt hast, habe ich eure Bemühungen lange Zeit nicht sehr ernstgenommen, ich habe euch für nette Onkel gehalten, die aufregende Geschichten zu erzählen wussten. Erst spät wurde mir klar, dass ihr, du und deine Brüder, mir eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt habt. Den Grund hierfür erfuhr ich aber erst von meinem Vater kurz vor seinem Tod.“

„Es durfte nicht anders sein“, erklärte Melbart. „Bis zu seinem Tod stand dein Vater in dieser Pflicht. Auch dir wurde die Schweigepflicht auferlegt. Und trotzdem, du hattest Zweifel – bis heute.“

„Kannst du das nicht verstehen?“, fragte Thorgren. „Seine Worte kamen ziemlich überraschend, trotz aller vorangegangenen Unterweisungen durch euch. Ich fühlte mich noch nicht ausreichend vorbereitet. Bis heute hatte ich ihnen nur wenig Bedeutung beigemessen, weil mir niemand gesagt hat, dass sie in nicht allzu ferner Zeit drängend werden könnten.“

„Weil du uns nicht aufmerksam zugehört hast, aber das alles ist nicht mehr wichtig, denn jetzt bricht bald die Zeit der Bewährung an“, meinte der Magier. „Du wirst dich von jetzt an wohl etwas eingehender damit beschäftigen müssen.“

„Tja, so habe ich König Nigalls Aufforderung auch verstanden“, meinte Thorgren. „Glaubst du, dass sie so dringend ist, deswegen meinen jetzigen Auftrag zu vernachlässigen?“

Inzwischen war Thorgren unsicher geworden.

„Nein, auf keinen Fall“, widersprach Melbart entschieden. „Für die kommende Auseinandersetzung mit Kryonos ist er sogar von großer Bedeutung. Die Lysidier werden dringend gebraucht.“

Thorgren nickte.

„Gut, dann sind meine nächsten Schritte eigentlich klar. Ich werde zuerst zu König Zethimer reiten. Es sind nur noch zwei Tagesritte. Anschließend werde ich dann in die Schwarzen Sümpfe zu Branwyn aufbrechen, wie der Geist Nigalls es von mir verlangt hat. Was danach geschieht, werde ich sehen.“

„Ich bin sicher, dass du durch sie erfahren wirst, wie es weitergeht“, meinte Melbart zuversichtlich.

Es entstand eine kurze Pause. Das Feuer knisterte und irgendwo in der Höhle fielen Tropfen von der Decke. Mondblesse stampfte leise mit den Hufen, und von draußen war immer noch gelegentliches dumpfes Donnergrollen zu hören. Nachdenklich zog jeder an seiner Pfeife und dichter Rauch stieg zur Decke der Höhle.

„Wenn du am Hofe Zethimers bist“, begann Melbart erneut, „dann wende dich an Bruder Angulfin. Du kennst ihn. Er ist ein Mitglied meines Ordens und hält sich gerade in Schibrasch-dim auf. Ich gebe dir diesen Kristall für ihn mit.“

Melbart zog einen grünlich schimmernden, walnussgroßen Kristall aus seiner Kutte und gab ihn Thorgren, der ihn in ein Tuch wickelte und in seiner Gürteltasche verstaute. Solche Kristalle waren ihm bekannt. Mit ihrer Hilfe tauschten die Magier Nachrichten aus.

„Was wirst du als Nächstes tun, Melbart?“, fragte Thorgren, der wusste, dass der Alte oft und auf geheimen Pfaden die Länder bereiste. Nach dieser Unterredung war er auch nicht mehr überrascht, Melbart zu dieser Stunde an diesem versteckten Ort getroffen zu haben und noch dazu mit dem Wissen um die Erscheinung Nigalls. Seine Ankunft in dieser Höhle war kein Zufall, wenn auch unerwartet für Thorgren. Gerüchte behaupteten, dass Mitglieder des Ordens von Gebir, dem auch Melbart angehörte, an zwei Stätten gleichzeitig aufgetaucht sein sollen. Da hatte Thorgren zwar seine Zweifel, aber es waren mächtige Zauberer. Und daran zweifelte er nicht.

Melbart hatte ihm nie offenbart, wo die Ordensversammlungen stattfanden. Niemand wusste, wie alt der Orden war, woher er kam und wie viele Brüder er umfasste. Und selbst den Ort seines Sitzes hatte er Thorgren bisher niemals verraten. Einige Mitglieder, wie Melbart und Angulfin, waren bekannt und traten mit einer gewissen Häufigkeit in der Öffentlichkeit auf, während andere im Verborgenen wirkten und unsichtbar blieben. Es galt aber als nachgewiesen, dass ihr erstes Auftauchen mit dem von Kryonos zusammenfiel. Es gingen Gerüchte um, die die Zauberer unsterblich machen wollten, was Thorgren allerdings ebenso für unwahrscheinlich hielt, wenn er auch zu glauben bereit war, dass die Ordensbrüder ein sehr hohes Alter, verglichen sogar mit dem der Elfen, erreichen konnten.

Ihr größtes Geheimnis war allerdings ihre Mission. Niemand wusste genau, was ihre Anwesenheit auf Erdos bedeutete. Sicher nahmen sie Einfluss auf die Schicksale der Völker und manchmal, wie im Falle des Hauses Merowinths, auch auf das von einzelnen Menschen. Den Grund für ihr Handeln kannte aber niemand, soweit bekannt war. Trotz aller Geheimnisumwitterung dieses Ordens konnte aber bisher niemand ernsthaft behaupten, dass er sich gegen die Völker von Erdos gewandt hatte, abgesehen von denjenigen, die mit Kryonos verbündet waren, und das galt bisher nur für die Uranen. Die Haltung der Zwerge ließ erst in jüngster Zeit gewisse Zweifel aufkommen. Die Mächtigen von Gebir hatten sich stets als gute Ratgeber und wirksame Helfer gegen ihn, den Schrecken von Erdos, erwiesen.

„Ich werde wie vorgesehen zunächst die Ordensversammlung besuchen, meine Pläne danach aber ändern“, erklärte Melbart. „Diesen Kristall, den ich dir gab, Thorgren, darfst du unter keinen Umständen in andere Hände als die Angulfins gelangen lassen. Lieber zerstöre ihn mit den Worten, die ich dich lehrte. Ich verlasse dich nur für kurze Zeit. Halte dich nicht zu lange auf. Die Aufgabe, die dich erwartet, mag dringender sein als wir ahnen. Noch eins: Dieses Treffen muss vorerst geheim bleiben. Nur Angulfin weiß davon. Erwähne Zethimer gegenüber meinen Namen noch nicht.“

„Kennt er dich nicht?“, wunderte sich Thorgren.

„Doch, aber ich will vermeiden, dass er argwöhnt, ich hätte etwas mit der Botschaft von König Harismund zu tun. Ich werde ihn rechtzeitig über alles Wichtige, was das Achôn-Tharén betrifft, unterrichten.“

„Aber das Achôn-Tharén? Kann ich ...?“

„Das solltest du sogar erwähnen. Er kennt die Legenden ebenfalls. Ich schätze, das wird einen gewissen Einfluss auf seine Entscheidungen haben.“

„Er wird mich fragen, von wem ich davon erfahren habe.“

„Hm, da hast du Recht. Dann sag ihm, derjenige wäre auf dem Weg zu ihm und würde sich selbst zu erkennen geben. Und nun lebe wohl.“

Melbart klopfte auf einem Stein die ausgeglühte Asche aus der Pfeife und verstaute sie in seiner Kutte. Dann stand er auf, warf sich die Kapuze wieder über den Kopf und verschwand durch den Spalt zur Vorhöhle.

Nach einer kurzen Zeit des Dösens, richtig schlafen konnte Thorgren nicht, sammelte er seine Sachen zusammen und sattelte Mondblesse. Trotz der kurzen Ruhe war er wieder hellwach, und auch sein Pferd machte den Eindruck, als hätten die Anstrengungen der letzten beiden Tage keine Spuren bei ihm hinterlassen. Thorgrens Kleidung war durch die Wärme des Feuers ein wenig getrocknet. Vorsichtig führte er Mondblesse ins Freie. Das Wetter hatte sich inzwischen beruhigt. Der Regen hatte fast aufgehört, und nur noch vereinzelte Blitze durchzuckten die Finsternis. Aber das war am vergangenen Tag auch von Zeit zu Zeit der Fall gewesen und hieß gar nichts.

Thorgren hätte es vorgezogen, die berüchtigte Trollschlucht, die nun vor ihm lag, am Tage zu durchreiten. Im Sonnenlicht, selbst wenn der Himmel wolkenverhangen war, war es allemal sicherer, weil sich dann die Trolle nicht aus ihren Behausungen wagten. Aber sein Auftrag im Namen König Harismunds eilte, und der nächste im Namen König Nigalls erschien Thorgren nicht weniger drängend. Deshalb musste er das Wagnis eingehen, bei Nacht die Trollschlucht zu passieren.

Seufzend schwang er sich auf den Sattel und begann den nächsten Abschnitt seiner Reise zu König Zethimer ins Land-Der-Vielen-Feuer, wie Lysidien auch genannt wurde.

Die Rache des Kryonos

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