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9. Ankunft in Elim´dor

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Schließlich näherten sie sich der Hauptstadt der Elfen, und der Verkehr nahm zu. Und so, wie der Reitertrupp daherkam, war ihm die Aufmerksamkeit der Stadtbewohner sicher.

„Dort kommt das östliche Haupttor von Elim´dor“, sagte Tai´gor mit ausgestrecktem Arm, aber die anderen hatten die Stadtmauer bereits gesehen.

Sie umlief unregelmäßig die Stadt und war den natürlichen Gegebenheiten des Ortes angepasst, was die Mitglieder der Gemeinschaft natürlich nicht feststellen konnten, denn bis auf die Plätze vor den Toren reichte der Wald überall fast bis an die Mauer heran. Vor dem Stadttor erkannten die Reiter eine große Lichtung, auf der einige Einwohner der Stadt ihres Weges gingen. Ähnliche Lichtungen gab es vor allen anderen Toren der Stadt ebenfalls.

Der Verkehr auf der Straße zwischen Weißanger und Elim´dor war gering gewesen, seit sie den Wald erreicht hatten. Unterwegs waren ihnen nur wenige Elfen begegnet, aber die zeigten ein auffälliges Interesse an dem Zug, besonders an der Frau auf der Trage. Tai´gor und Ken´ir hatten aber dafür gesorgt, dass sie nicht allzu lange aufgehalten wurden. Sie hatten ihren Volksgenossen versichert, dass sie keine Hilfe benötigten, außer die der königlichen Heiler. Darum hatten sie es eilig. Seltener trafen sie auf Namurer oder Seenländer, doch das waren berittene Boten, die ebenfalls in eiligem Auftrag unterwegs waren und dem Reitertrupp kaum Beachtung geschenkt hatten. Handel mit anderen Völkern wurde wenig getrieben, wie eingangs bereits erwähnt, daher begegnete ihnen lediglich ein einzelner namurischer Händler mit seinem Gespann.

Hier, auf dem Vorplatz der Stadt, zogen sie jedoch manche Schaulustigen an, denn selten tauchten so viele fremdländische Gestalten auf einem Mal auf. Ken´ir befahl den Leuten, aus dem Weg zu gehen, damit sie schnell das Tor erreichen konnten. Er hatte Tai´gor vorausgeschickt, um sie der Wache zu melden und ihre Ankunft dem König anzukündigen, mit der Bitte einer raschen medizinischen Behandlung für die Fürstin.

Sie konnten ungehindert das Tor passieren, als die Wache Ken´ir und Melbart erkannte. Der Wachhabende gab ihnen einen Krieger mit, der sie bis zum Palast führen sollte. Zwar hätte Ken´ir den Weg auch allein gefunden, doch es galt als eine Art respektvolles Geleit, wie es bei den Elfen üblich war.

Die Straßen und Gassen der Stadt waren schmal und ließen gerade zwei Reitern nebeneinander Platz. Elim´dor war weitaus enger und verwinkelter als Weißanger. Das lag daran, dass die Elfen dem Wald nur so viel Raum abverlangt hatten, wie sie für ihre Stadt wirklich brauchten. Sie war nicht auf Wachstum angelegt. Weißanger dagegen lag in der freien Ebene ohne natürliche Grenzen.

Mittlerweile war die letzte Sonne untergegangen und die Nacht warf ihre Schatten. Die Straßen wurden zu dieser Tageszeit von Öllampen erhellt, deren Licht ausreichte, um noch einige Einzelheiten erkennen zu können. Die größten Häuser in den Straßen, die sie zum königlichen Palast führten, waren zweistöckig, und es gab kaum Gebäude dieser Art ohne ausladende Terrassen. Die meisten jedoch bestanden nur aus einer Etage, die nach oben mit einer Dachterrasse abschloss. Wo immer sich Platz gefunden hatte, waren sie üppig mit Blumen und Grünpflanzen verziert. Selbst die breiteren Straßen der Stadt waren von Bäumen und schlanken Sträuchern gesäumt.

Die Farben der Gebäude waren in den verschiedensten Erdtönen gehalten, von Ockergelb über Rotbraun bis Schwarzgrau, während die bevorzugte Farbe für die Fensterläden und -rahmen eigentümlicherweise Weiß war. In ihrer Bauart unterschieden sich die Gebäude vollkommen von allen menschlichen Behausungen. Kein Haus glich dem anderen. Balkons mit phantasievollen Balustraden und seltsam geformte Erker verliehen den Straßen eine fast märchenhafte Erscheinung. Laternen aus vielfarbigem Milchglas warfen ihr diesiges Licht auf benachbarte und gegenüberliegende Gebäude und ließen sie in verschiedensten Farbtönen erscheinen. Staunend folgten die Reiter ihrem Weg durch die Stadt, erfüllt von einer tiefgreifenden Faszination. Bis auf Melbart und natürlich Ken´ir war bisher noch keiner der Reisenden in Elim´dor gewesen. Sie kannten die Stadt nur aus Erzählungen. Entsprechend nahm sie ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

Die Stadt war klein und die Ankunft der seltsamen Gruppe hatte sich schnell herumgesprochen, wohl auch, dass sie jegliche Unterstützung ablehnte, denn jetzt bot ihnen niemand mehr Hilfe an. Immerhin waren die Ankömmlinge auffällig genug, dass sie von den Elfen mit einem gewissen Interesse gemustert wurden.

Nicht nur auf den Straßen wurde ihnen eine bemerkenswerte Beachtung geschenkt. Hier und dort schoben sich neugierige Gesichter durch die Vorhänge der Fenster und Balkontüren, andere Elfen reckten ganz offen ihre Köpfe heraus, doch nur selten traten sie bis an die Balustraden ihrer Häuser heran. Aber es waren keine unfreundlichen Blicke, die ihnen zugeworfen wurden. Sie, die ungewöhnlichen Besucher der Hauptstadt der Elfen, wurden mit einer staunenden Aufmerksamkeit bedacht.

Bald erreichten sie den Stadtgarten, der die eine Hälfte eines Kreises einnahm, während sich der königliche Palast eingebettet in Pflanzungen in der anderen Hälfte befand. Trotz der engen Verhältnisse war er immer noch ein beeindruckender Bau. Errichtet aus rotem Granit mit vielen, großen Fenstern, die am Tage eine angenehme Lichtfülle in den Räumen dahinter erwarten ließen, erhob sich der Palast über die Häuser der Stadt. Er hatte die Form eines gleichseitigen Rechteckes mit einem kleinen Innenhof, der durch ein verschließbares Tor erreicht werden konnte. Das Tor stand offen. Wie so viele Burgen hatte auch diese an allen vier Ecken Wehrtürme, die jedoch weniger militärischen Zwecken dienten, als eher dazu, den Eindruck des Schlosses zu vervollkommnen. Sie ragten nur wenige Meter über das Hauptgebäude hinaus. Augenfällig war die Abwesenheit jeglicher Banner und Fähnchen, die menschliche Herrschersitze zierten.

Durch eine Allee, die kaum breiter als die zuführende Straße war, erreichten sie die Palasttore. Hier erwartete sie bereits Tai´gor mit einem Arzt und zwei Helfern. Fürstin Adhasil wurde umgehend ihrer Obhut übergeben. Ken´ir, der die beiden Tragpferde führte, übergab die Tiere an Fürst Hagil.

„König Nôl´taham erwartet euch“, erklärte Tai´gor. „Doch zuerst werden euch eure Quartiere gezeigt. Dort könnt ihr euch erfrischen und umkleiden. Um eure Pferde braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Sie werden in den königlichen Ställen gut versorgt. Wenn ihr so weit seid, wird Nôl´taham euch empfangen. Dich, Ken´ir, verlangt er sofort zu sprechen. Ich verlasse euch jetzt und werde morgen früh wieder auf meinen Wachposten zurückkehren. Lebt wohl und viel Glück auf eurer weiteren Reise, wohin sie euch immer bringen mag.“

Ein königlicher Diener nahm die Gefährten in Empfang und führte sie in ihre Räume. Sie waren geräumig und wohnlich eingerichtet. Jeweils zwei von ihnen teilten sich ein Zimmer. So bekamen Urth und Hagil, der im Augenblick nichts mehr für die Fürstin tun konnte und von den Ärzten zurückgeschickt worden war, einen Raum. Melbart und Angholt teilten sich ein weiteres Zimmer. Selbst Angholt war darüber verwundert, denn einer von ihnen musste ein Einzelzimmer belegen, da Ken´ir bei seiner Familie wohnte, solange sie sich in der Hauptstadt aufhielten. Jeder von ihnen war sicher gewesen, dass es Melbart für sich beanspruchen würde. Doch schließlich wurde Cai darin einquartiert.

„Ich muss doch darauf achten, dass du in deiner Neugierde keine Dummheiten machst“, sagte Melbart scherzhaft zu Angholt, der sich nicht sicher war, ob ihn nicht andere Gründe zu seinem Entschluss bewogen hatten.

Melbart und Angholt hatten sich gewaschen und frische Kleidung angelegt. Trotzdem spürte Angholt die Anstrengungen der letzten zwei Tage. Noch nie in seinem Leben zuvor hatte er in so kurzer Zeit so viel erlebt. Er war verwirrt. Zwar hatte er seinen Vater in den letzten Jahren gelegentlich begleiten dürfen, wenn dieser auf die Jagd gegangen war oder in seinem Reich die Fürsten besucht hatte, um nach dem Rechten zu sehen, doch war er nur einmal außerhalb des Landes gewesen. Das war bei einem offiziellen Besuch seines Vaters bei dem seenländischen König Harismund in Thorafjord.

Während der letzten beiden Tage hatte er aber vergleichsweise mehr über die Welt erfahren als jemals zuvor. Überraschend und aufregend waren die Eindrücke im Reich der Elfen, und es war das erste Mal, dass Angholt mit elfischer Magie in ihrer praktischen Anwendung in Berührung gekommen war.

Melbart lag ausgestreckt auf seinem Bett und hielt die Augen geschlossen, während sein Kopf auf den darunter verschränkten Armen ruhte. Angholt stand vor dem Fenster und blickte nach draußen, obwohl in der Dunkelheit nicht viel von der Stadt zu sehen war. Sie hatten ein Zimmer zum Stadtgarten hin erhalten. Hinter den Büschen und Bäumen sah er einige erleuchtete Fenster der Wohnhäuser. Obwohl sie das Fenster geöffnet hatten, war es sehr still. Nur die vereinzelten Schreie seinen Augen verborgener Nachtvögel waren zu hören. Keiner hatte Ähnlichkeit mit denen, die er kannte. Angholt war sicher, dass Melbart nicht schlief, deshalb wagte er ein Gespräch. Ungezählte Fragen lagen ihm auf der Seele.

„Melbart, wie könnt Ihr in dieser Umgebung nur so gelassen sein? Es fiele mir schwer, so ruhig auf dem Lager zu liegen. Am liebsten würde ich mich draußen einmal umsehen.“

Der Magier brummte etwas unwillig, als fühlte er sich in seinen Gedanken gestört. Doch dann musste er schmunzeln, und ohne die Augen zu öffnen, antwortete er: „Hüte dich vor eigenmächtigen Unternehmungen. Wenn ich deine Neugierde sogar verstehen kann, wäre das jetzt kein guter Zeitpunkt. Vielleicht bekommst du später noch die Gelegenheit, dich in der Stadt umzusehen, doch vorher haben wir noch ein Treffen mit Nôl´taham.“

„Wäre es gefährlich, ich meine wegen deiner Warnung?“

Melbart sah Angholt fragend an.

„»Hüte dich vor eigenmächtigen Unternehmungen«, hast du gesagt.“

„Gefährlich? Nun ja, du könntest von Elim´dor in einen elfischen Bann gezogen werden und in Gefahr geraten, unsere Begegnung mit dem König zu verpassen. Das wäre unhöflich, findest du nicht? Eine solche Ehre sollte man nicht durch leichtsinnige Neugierde aufs Spiel setzen.“

„Ja, da hast du sicher Recht. Warst du schon einmal hier?“

„In verschiedenen Angelegenheiten. Das bringen meine Geschäfte, die ich dir nicht näher erklären werde, so mit sich. Ich traf bereits den Vater und Großvater des jetzigen Königs.“

„Wie alt bist du denn?“, rutschte Angholt heraus. Dass Elfen sehr alt werden konnten, wusste er, wenn er auch keine Vorstellung von ihrer tatsächlichen Lebenserwartung hatte. Wenn ihm Melbart keinen Bären aufgebunden hatte, dann befand er sich bereits mehrere Elfenalter auf Erdos. Das war unglaublich.

„Sehr alt, genau kann ich es gar nicht mehr sagen. Und es spielt auch keine Rolle, finde ich.“

Nein, eine Rolle spielte es tatsächlich nicht, aber Angholt hätte es gern gewusst. Nun, dann eben nicht. Angholt kam die Frage in den Sinn, wie der Zauberer die Aussichten einschätzte, von dieser Reise zurückzukehren. Doch er vermutete, selbst wenn Melbart wüsste, dass es ein klägliches Ende nehmen würde, er es für sich behalten würde. Das, wofür sie aufgebrochen waren, musste einfach gewagt werden. Und dass es ein klägliches Ende nehmen konnte, war ja auch kein Geheimnis.

„Was für ein Herrscher ist Nôl´taham?“, fragte er stattdessen. „Wie soll ich mich ihm gegenüber angemessen verhalten? Ich kenne ihn nur aus der Ferne, vom Sehen und aus Erzählungen.“

Wie bereits erwähnt, hatte Angholt Erfahrungen mit den Fürsten seines Landes und auch mit dem Hof König Harismunds. Aber seit sie den Valedrim-Wald betreten hatten, fühlte er sich wie in einer anderen Welt, umgeben von Wundern und Wesen, von denen er, wenn überhaupt, nur entfernt gehört hatte.

„Nun ja, König Nôl´taham ist eigentlich ein sehr umgänglicher Mann und von großer Weisheit. Doch lass dich durch seine väterliche Art nicht täuschen. Zuweilen muss er streng sein. Das Beste wird sein, du sprichst nur, wenn er dich dazu auffordert. Dann antworte aufrichtig. Er würde es merken, wenn du versuchst, auszuweichen. Mehr kann ich dir nicht raten. Du musst selbst entscheiden, was du sagen willst. Doch habe keine Angst. Er reißt anderen nur nach reiflichen Überlegungen den Kopf ab.“

Auch wenn diese Worte nicht ganz ernstgemeint waren, konnten sie Angholt nur wenig beruhigen. Er musste sich von seiner bevorstehenden Begegnung mit dem Elfenkönig ablenken.

„Was, glaubt Ihr, wird aus Fürstin Adhasil?“, fragte Angholt. „Glaubt Ihr, sie wird wieder gesund und die Fahrt fortsetzen können? Und warum hat sie sich verkleidet?“

Melbart seufzte. „Ich ahnte, es wird eine harte Schule“, sagte er mehr zu sich selbst. „Das wird sich noch zeigen. Im Augenblick hängt alles von der Kunst der Heiler ab. Ich sagte ja, dass ihr Zustand Grund zur Besorgnis bietet. Der Schlaf-der-Feen ist eine ernste Sache. Selbst wenn sie daraus erweckt werden kann, wird sie noch einige Zeit unter den Folgen leiden. Oh, nein – wir wollen zunächst nicht weiter über das Feenreich sprechen. Ich ahne, was du wissen willst.“

Melbart machte eine Handbewegung, die Angholt zeigen sollte, dass er keine Aussicht hatte, mehr über diese Dinge zu erfahren. Auch sein enttäuschtes Gesicht änderte den Entschluss des Magiers nicht.

„Vielleicht wirst du bis zum Ende der Reise noch einiges darüber hören“, machte er Angholt aber Hoffnung. „Und warum sie sich verkleidet hat? Nun, ist das nicht leicht zu erraten? Sie musste befürchten, wir weisen sie zurück, weil sie eine Frau ist. Die Fahrt ist nicht ohne Gefahren. Außerdem bezweifle ich, dass König Wechis und ihr Vater mit ihrer Teilnahme einverstanden gewesen wären. Sie wird eines Tages die Nachfolgerin ihres Vaters und hat schon jetzt wichtige Aufgaben.“

„Fürst Hagil ist doch auch mitgekommen“, wandte Angholt ein.

„Das stimmt, und du wirst dich erinnern, dass dein Vater ihn nur widerwillig hat ziehen lassen und auch erst, nachdem die Übernahme seiner Geschäfte durch seinen Vetter geregelt war.“

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür und der gleiche Diener, der sie in ihre Räume geführt hatte, stand wieder davor, um sie nun zum König zu bringen. Neben ihm stand ein ziemlich verschlafen wirkender Cai.

„So“, sagte er gähnend, „jetzt fehlen nur noch Hagil und Urth.“

„Was sich die Fürstin wohl dabei gedacht hat, als sie sich entschloss, in dieser Verkleidung an der Reise teilzunehmen?“, fragte sich Urth vom Eschenbach, nachdem er und Hagil sich erfrischt hatten und bereit waren, vor den König zu treten. Sie warteten nur noch darauf, abgeholt zu werden. „Sie konnte kaum erwarten, dass ihre Tarnung bis zum Ende der Fahrt Bestand hat.“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Hagil. „Aber nun verstehe ich wenigstens, warum sie es am Tag des Wehrrates so eilig hatte, abzureisen, und das Versprechen gab, ihren besten Ritter zu schicken. Von wegen, ihre Verwaltungsgeschäfte riefen. Im Augenblick mache ich mir aber mehr Sorgen um ihre Gesundheit. Wir sind gerade erst aufgebrochen und schon wird sie von einem solchen Unglück heimgesucht. Dabei ist es schon schlimm genug, dass wir hier, wo wir kaum eine Gefahr erwarten konnten, auch noch ein Packpferd verloren haben. Ich bin eigentlich nicht abergläubisch, aber ich zweifle nicht an der Macht des Schicksals. Und wie mir scheint, steht unsere Reise unter einem schlechten Stern. Aber ich denke, es wird besser sein, wir behalten diese Ansicht für uns.“

Urth nickte nachdenklich.

„Was die Verkleidung betrifft, das ist doch offensichtlich“, meinte Hagil. „Ich schätze, keiner von uns hätte es gutgeheißen, sie auf diese gefährliche Reise mitzunehmen. Aber sie wird es sich wohl in den Kopf gesetzt haben, daran teilzunehmen.“

„Ich –.“ Urth wollte widersprechen, aber dann erkannte er die Wahrheit in Hagils Worten.

„Was gibt es daran zu zweifeln?“ Hagil begann zu lachen. „Immerhin hat sie es geschafft, uns lange genug hinters Licht zu führen, um zu verhindern, dass wir sie wieder zurückschicken. Es wäre eine Frage der Ehre. Wir hätten es wahrscheinlich schon gleich zu Anfang nicht mehr tun können, ohne sie tief zu kränken. Aber wer weiß, wofür ihre Teilnahme noch gut sein wird.“

„Ja, das kann keiner sagen“, meinte Urth. „Aber sicher hätte sie ihre Tarnung auch jetzt noch nicht aufgegeben. Was weißt du über sie?“

„Dass sie sehr viel Mut besitzt.“

„Ist das alles? Ich dachte, du kennst sie und sie gefällt dir. Jedenfalls gehst du mit ihr auffallend fürsorglich um, finde ich.“

„Nenn es lieber ritterlich. Das trifft es eher. Und ob sie mir gefällt, spielt keine Rolle. Deshalb muss ich sie nicht kennen. Ich bin also kaum in der Lage, deine Neugierde zu befriedigen. Unsere Fürstentümer liegen weit auseinander, und bisher hatte ich nur selten Gelegenheit, ihr zu begegnen. Vor Wechis Wehrrat war es einige Jahre her. Da war Adhasil noch ein junges Mädchen. Zu selten jedenfalls, als dass ich ihr Gesicht unter dem Helm Siegfrieds erkannt hätte, wie du vermuten könntest. Soweit ich weiß, wird sie ihren Vater eines Tages beerben. Er wird ganz schön getobt haben, als er erfuhr, was seine Tochter vorhat.“

„Wenn sie es ihm überhaupt gesagt hat“, zweifelte Urth.

Hagil zuckte mit den Achseln.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einfach so verschwunden ist. Es sollte mich zumindest wundern. Andererseits, bei ihrem Dickkopf würde ich es ihr zutrauen.“

Jemand klopfte an die Tür. Es war der Diener, der sie hierhergeführt hatte. Hinter ihm standen Cai, Melbart und Angholt. Es war Zeit für ihre Audienz. Obwohl die meisten das erste Mal bei König Nôl´taham waren, hofften sie dennoch, dass es nicht allzu lange dauern würde. Sie waren müde und wollten schlafen.

Der Diener führte sie durch einen langen, schwach ausgeleuchteten Korridor auf eine zweigeteilte Holztür zu. Sie besaß die Form und die Farbe eines übergroßen Buchenblattes. Die Blattadern und die Muster dazwischen waren kunstvoll herausgearbeitet. Die Flügel schwangen geräuschlos auf und gaben den Thronsaal frei. Sie betraten eine weite Halle mit großen Fenstern, die jetzt freilich wie dunkle Löcher in der Wand wirkten. In den Glasscheiben spiegelte sich undeutlich das Licht der Lampen. Der Gang, der geradlinig auf den Thron zulief, war ausgelegt mit einem grünen Läufer, der aussah, als wäre er aus zahllosen Blättern hergestellt. Das Gewebe war weich und dämpfte das Geräusch ihrer Schritte. Zu beiden Seiten befanden sich Tische und Bänke, die in diesem Augenblick verwaist waren. Am Ende des Ganges, erhöht und alles überblickend, saß König Nôl´taham, umringt von einer Handvoll Würdenträger seines Hofes. Hier trafen sie auch Ken´ir wieder sowie den Botschafter Danan´hô, der ihnen noch aus Weißanger bekannt war. Interessiert blickte der König auf die späten Besucher. Kurz vor dem Thron blieben sie stehen und verneigten sich achtungsvoll.

Nôl´taham war von hoher, schlanker Gestalt. Sein Gesicht zeigte keinerlei Bartwuchs und ließ kein Schätzen seines Alters zu. Seine klaren, grauen Augen und die hohe Stirn verrieten Wachsamkeit und Weisheit. Das betonte Kinn und seine markante Nase deuteten auf ein entschlossenes Wesen hin. Seine hellblonden, gelockten und vollen Haare fielen bis auf die Schulter und verdeckten die für Elfen bezeichnenden spitz zulaufenden Ohren. Er trug ein einfaches, langes Gewand aus grauem und grünem Tuch, das um die Hüfte mit einer blauen Kordel zusammengehalten wurde. Weder eine Krone noch andere Zeichen seiner Macht ließen ihn als König erkennen, und wenn sie um sein Amt nicht gewusst hätten, dann wäre er ihnen kaum als herrschaftliche Erscheinung aufgefallen. Ruhig blickte er auf die Gruppe herab.

„Wir grüßen Euch, Majestät“, wandte sich Melbart stellvertretend für alle an Nôl´taham, „und bedanken uns für die freundliche Aufnahme.“

„Seid willkommen, Zauberer Melbart, Ritter Cai, Prinz Angholt, Ritter Urth und Fürst Hagil“, erwiderte Nôl´taham, und zeigte damit, dass er über die Gruppe gut unterrichtet war. „Ich hörte mit Bestürzung, dass eure Reise durch unseren Wald nicht ohne Schwierigkeiten verlaufen ist.“

„Das ist wahr“, bestätigte Melbart. „Unsere Gefährtin, die Fürstin Adhasil, erlitt den äußerst seltenen Unfall, von einem Feenschimmel berührt worden zu sein und befindet sich im Schlaf-der-Feen, wie Ihr sicher wisst. So war es zumindest noch, als wir uns von ihr trennten und sie der Obhut Eurer Heiler überließen. Seither haben wir nichts mehr von Adhasil gehört. Dazu kommt der bedauerliche Verlust eines Packpferdes.“

„Ich weiß um die Bedeutung eurer Reise“, sagte der König, „und habe den Befehl erlassen, euch ein neues Pferd aus meinem Stall zur Verfügung zu stellen. Doch was die Fürstin betrifft, kann ich euch leider noch nichts Neues mitteilen. Bisher ist sie immer noch nicht erwacht. Es scheint, sagen ihre Heiler, als wehre sie sich hartnäckig gegen eine Rückkehr. Das war nicht anders zu erwarten. Ihr Leib zeigt jedoch noch keine ernsthaften Verfallserscheinungen.“

„Das waren eine gute und eine schlechte Nachricht, aber in der Tat keine unerwarteten“, meinte Melbart. „Für das Pferd sind wir Euch Dank schuldig. Das Schicksal der Fürstin macht uns aber Sorgen. Wir können nur die Götter bitten, über sie zu wachen. Wegen des Ortes, an dem wir unser Pferd verloren haben, muss ich Euch warnen. Die Ursache der Angst unserer Pferde erscheint mir äußerst unklar. Zwar sind Tai´gor, Ken´ir und Cai auf der Suche nach dem verlorenen Pferd auf einen Muna gestoßen, doch kann ich mir kaum vorstellen, dass er von unseren Tieren gewittert wurde. Dafür befand er sich zu tief im Wald. Mir will jedoch kein Grund für die Unruhe unserer Pferde einfallen. Es muss etwas gewesen sein, das nicht dorthin gehörte und eine geradezu bösartige Ausstrahlung hatte. Was immer es war, es wird ebenfalls die Flucht des Einhorns ausgelöst haben. Ich selbst habe jedoch nichts gesehen und ich glaube, damit spreche ich auch für meine Gefährten.“

„Verzeiht, wenn ich Euch widerspreche“, bat Urth vom Eschenbach. „Doch ganz so war es nicht, wenn wir auch wie Ihr nichts gesehen haben. Bisher habe ich darüber geschwiegen, weil ich nicht sicher war, ob ich es mir nur einbilde, doch seit ich von Fürst Hagil erfahren habe, dass er meine Eindrücke teilt, scheint es mir etwas Wirkliches gewesen zu sein. Im gleichen Augenblick, in dem die Pferde wild wurden, überfiel mich und gleichermaßen Fürst Hagil das Gefühl einer unvermittelten Bedrohung. Zwar konnten wir beide keinen Grund erkennen, doch es schien, als öffnete sich in diesem Augenblick ein Tor zu einer anderen Welt, entließ ein furchtbares Wesen und schloss sich darauf wieder. So jedenfalls war unser Eindruck.“

Melbart war überrascht über diese unerwartete Äußerung, und auch der König schien nachdenklich geworden zu sein. Doch schließlich mussten beide zugeben, vorläufig noch keine überzeugende Erklärung für das ganze Geschehen zu haben.

„Meine Hoffnung liegt auf Adhasil“, meinte Melbart schließlich. „Vielleicht kann sie Licht ins Dunkel bringen, wenn sie wieder zu sich kommt.“

„Eure Warnung kam nicht zu früh“, sagte der König. „Ich werde meine Krieger auffordern, ein waches Auge auf diesen Ort zu haben. Allerdings befürchte ich, dass sie nichts mehr finden werden. Was es auch für ein Wesen gewesen sein mag, wahrscheinlich wird es nicht mehr dort sein.“

König Nôl´taham ließ seinen Blick über seine Besucher schweifen. Er wollte sich ein Bild von denen machen, die, wie er innerlich schmunzelnd feststellte, sich aufgemacht hatten, die Welt zu retten. Er war sich jedoch durchaus des Ernstes der Lage bewusst. Danan´hô und Ken´ir hatte ihn genauestens über alles, was bisher gesagt wurde und geschehen war, unterrichtet. Sein Blick blieb schließlich auf Angholt gerichtet. Er stand zurückhaltend im Rücken der anderen. Angholt wurde unsicher, was jetzt folgen würde.

„Und Ihr, mein junger Freund, seid das erste Mal auf einer so weiten Reise?“, hörte er den König der Elfen.

„Äh, ja“, antwortete Angholt etwas verlegen, und in diesem Augenblick fiel ihm nichts anderes ein. Nach einigem Zögern fuhr er fort. „Zwar war mein Vater zuerst nicht einverstanden, doch ich konnte ihn schließlich dazu überreden, mich mitgehen zu lassen. Aber ich reise nicht das erste Mal. Ich kenne fast das ganze Grünland und war auch schon im Seenland. Vor den Gefahren dieser Fahrt fürchte ich mich nicht.“

Der König musste lächeln. Sicherlich war der junge Mann vor ihm kein Feigling, das spürte er, doch hatten all die neuen Eindrücke zu einer gewissen Verwirrung bei ihm geführt, und seine letzten Worte hatten sich eher nach dem Pfeifen des furchtsamen Wanderers im Walde angehört.

„Das ist auch gut so“, sagte der König aufmunternd. „Ihr werdet Mut brauchen für das, was Euch noch begegnen mag. Doch ich weiß, Ihr befindet Euch in guter Gesellschaft.“

Nôl´taham sah die Erschöpfung seiner Gäste, und da sie noch einige Tage an seinem Hof verbringen würden, bis die Fürstin wieder gesund war, wenn das je möglich sein würde, wollte er die Begegnung für diesen Abend beenden. Er hatte sie kennengelernt, auch ohne mit allen geredet zu haben. Das genügte ihm. Die nächsten Tage würden Gelegenheit für weitere Gespräche bringen. Er entließ sie mit dem Wunsch nach einer erholsamen Nacht.

Die Rache des Kryonos

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