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10. Eine grauenvolle Begegnung

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Als sie sich am nächsten Morgen wiedertrafen, standen Astur und Pelin bereits warm und strahlend am Himmel. Nach den Anstrengungen der letzten Tage konnten sie es sich erlauben, bis zum späten Vormittag zu schlafen. Während der Morgenmahlzeit, die schon fast ein Mittagsmahl war, erhielten sie die überraschende und erfreuliche Nachricht, dass Adhasil wieder zu Bewusstsein gekommen war und es ihr einigermaßen gut ging.

Sofort nach dem späten Frühstück machten sie sich auf den Weg ins Haus der Heiler oder in das Aurideŏn, wie es bei den Elfen hieß, wo sie von dem Heiler oder Chelonten empfangen wurden, der die Fürstin behandelte.

„Ich bitte um Verständnis, dass wir nur zweien von euch Zutritt zu Fürstin Adhasil gestatten können. Sie ist noch sehr schwach.“

Dass Melbart sie besuchen durfte, war klar. Schließlich fiel die Wahl noch auf Hagil, weil er ihr nächster Landsmann war. Die anderen erklärten sich dazu bereit, im Vorhof zu warten, selbst Angholt, dem es sichtlich schwerfiel.

Die grünlich getönten Scheiben ließen den weiten Flur in einem milden Licht erscheinen. Der Fußboden war mit polierten Steinplatten ausgelegt. Trotzdem klangen die Geräusche ihrer Schritte unerwartet gedämpft. Während sie auf dem Weg zur Fürstin waren, sprach niemand ein Wort. Das ganze Gebäude war von einer erhabenen Stille erfüllt. Nur wenige Elfen begegneten ihnen unterwegs. Am Ende des Ganges betraten die drei ein geräumiges Zimmer, das ebenfalls von grünlichem Licht erfüllt war. Der Raum war sauber und roch angenehm nach fremdartigen Kräutern. Neben dem einzigen Bett in dem Zimmer, in dem die Fürstin lag, saß wachend eine Pflegerin.

„Sie ist noch sehr schwach, aber sonst geht es ihr der Art ihrer Erkrankung entsprechend gut“, hatte ihnen der Heiler vor dem Betreten des Behandlungszimmers mitgeteilt. „Ich bitte euch aber trotzdem, die Fürstin mit allzu vielen Fragen zu verschonen. In ein oder zwei Tagen wird ihr ihre Beantwortung leichter fallen.“

Adhasil lächelte, als sie Melbart und Hagil eintreten sah, doch sie schien seltsam abwesend. Der Heiler gab der Pflegerin ein Zeichen und beide verließen das Zimmer.

„Es ist schön, euch zu sehen, Melbart und Hagil“, sagte sie schwach.

Melbart fiel ein Stein vom Herzen. Es war ein gutes Zeichen, dass Adhasil sie sofort erkannt hatte und keineswegs üblich nach einem Schlaf-der-Feen. Ihr Blick ging aber sogleich wieder in die Ferne.

„Ihr habt uns ziemliche Sorgen bereitet“, tadelte Melbart mild, „doch wir freuen uns, dass es Euch wieder besser geht.“

„Ich hatte mir die Ankunft in Elim´dor auch anders vorgestellt“, gab sie zu. „Meine Verkleidung ist durchschaut und mein Zustand hält euch nur auf. Doch bin ich auch froh darüber, dass das Versteckspiel ein Ende hat. Früher oder später wäre es sowieso dazu gekommen.“

„Wir werden Euch deswegen keine Vorwürfe machen“, versuchte Hagil sie zu beruhigen, „obwohl uns die wirklichen Gründe dafür schon interessieren würden. Doch das hat Zeit bis später.“

„Sie sind aber schnell erklärt und ich vermute, ihr ahnt sie bereits“, sagte Adhasil. „Ich erwartete Schwierigkeiten mit euch, mit meinem Vater und mit König Wechis. Deshalb musste ich mich euch in aller Heimlichkeit anschließen. Und – ehrlich gesagt – ich bin stolz darauf, wie gut es mir bis zu diesem Unfall gelang, und es hat mir Freude gemacht, euch ein wenig hinters Licht zu führen. Dass ich die Reise mitmachen wollte – musste, war wie ein Zwang, unerklärlich, aber auch unwiderstehlich. Er wurde in dem Augenblick geboren, als wir über sie bei König Wechis sprachen. Und glaubt mir, es war gar nicht so einfach, als Ritter Siegfried, den es gar nicht gibt, meinen elterlichen Hof unauffällig zu verlassen. Und nun kann ich nicht wieder nach Hause, ohne meine Ehre zu verlieren.“

„Seid unbesorgt, keiner von uns will Euch wieder heimschicken. So viel steht fest. Doch falls sich Eure Entscheidung, uns zu begleiten, irgendwann einmal als Dummheit erweisen sollte, dann könnt Ihr uns deswegen nicht tadeln“, meinte Melbart. „Zunächst sind wir aber beruhigt, dass es Euch wieder besser geht.“

„Ob es mir wirklich besser geht, das kann ich noch nicht sagen“, meinte sie und ihr Blick verklärte sich für einen Moment. „Ja, ich bin wieder hier, doch wo ich seit meines Unfalles war, fühlte ich mich für eine Weile geborgen.“

Das hatte Melbart befürchtet. Er ahnte, dass es Adhasil viel Überwindung gekostet haben musste, wieder in ihre Welt zurückzukehren. Er wollte gerade erklären, warum es ein Fehler wäre, dieser Erfahrung nachzuhängen, als der Chelont in Begleitung der Pflegerin wieder hereinkam.

„Ich denke, es wird besser sein, wenn wir der Kranken jetzt wieder etwas Ruhe gönnen“, sagte er freundlich, aber bestimmt. „Wenn ihr sie bitte wieder verlassen wollt. Ich weiß, dass euch noch manches auf der Seele liegt, doch habt Geduld. Das Schlimmste ist überstanden. Morgen könnt ihr sie wieder besuchen. Dann wird es der Fürstin besser gehen als heute.“

„Wir werden uns Eurem Wunsch beugen“, erklärte sich Melbart schmunzelnd bereit. „Für heute soll es genug sein. Morgen werden wir wiederkommen. Ruht Euch aus und seid guten Mutes, Adhasil.“

Sie nickte nur, und ihr Blick wanderte in die Ferne.

Melbart, Hagil und der Heiler verließen das Zimmer, während die Pflegerin bei der Kranken blieb. Hagil ahnte, was Melbart nicht ausgesprochen hatte.

„Sagt, wie geht es ihr wirklich?“, wandte er sich an Melbart und den Elfen gleichzeitig. „Adhasil machte zwar einen recht guten Eindruck, doch hatte ich das Gefühl, als wäre sie fern davon, wirklich wieder gesund zu sein.“

„Das habt Ihr gut beobachtet“, meinte der Heiler. „Tatsächlich verbringt sie die meiste Zeit damit, an die Decke zu starren und vermutlich in den Erinnerungen an jene Welt zu verharren.“

„Das ist gefährlich“, stellte Melbart fest.

„Deswegen ist ständig eine Schwester bei ihr“, sagte der Elf. „Sie hat die Aufgabe, zu verhindern, dass Fürstin Adhasil wieder fortgleitet. Bereits einige Male hat sie versucht, ins Feenland zurückzukehren, und es war nicht leicht, die Fürstin daran zu hindern. Doch diese Bestrebungen werden seltener. Ich kann Euch versichern, dass wir sie allmählich hierhalten können.“

„Das beruhigt mich“, sagte Melbart. „Und ich weiß, dass sie bei Euch in den besten Händen ist. Wir möchten Euch dafür danken. Lebt wohl und bis morgen.“

Sie verließen das Aurideŏn. Vor dem Eingang warteten ihre Freunde und bestürmten sie sogleich mit Fragen. Melbart und Hagil konnten ihnen zumindest versichern, dass Adhasil wieder auf dem Weg der Besserung war. Besonders Angholt musste sich noch in Geduld üben, denn ihn interessierte brennend, was die Fürstin während ihres Schlafes erlebt hatte, doch dazu konnte ihm Hagil nichts sagen und Melbart hielt sich mit Erklärungen zurück.

Noch während sie zum Königspalast zurückgingen, kam ihnen ein Bote Nôl´tahams entgegen und forderte Melbart dringend auf, in den Palast zurückzukommen. Da ahnten sie, dass etwas Unvorhergesehenes geschehen war. In schnellen Schritten folgten sie dem Boten und trafen nach kurzer Zeit in der Empfangshalle ein. Dort fanden sie den König mit einigen Hofbeamten sowie Ken´ir, den sie an diesem Tag erst jetzt wiedertrafen. Alle standen sie um eine Trage herum, auf der ein Elf lag. Beim Näherkommen erkannten sie Tai´gor. Äußerlich war er unversehrt, sein Gesicht jedoch war zu einer schrecklichen Grimasse entstellt, und sein Blick war starr und leblos.

„Was ist geschehen?“, fragte Melbart erschüttert.

„Er ist zu seinen Ahnen gegangen“, klärte ihn der König auf. „Eine Kriegerschar, die heute Morgen von ihrem Wachposten an der Zwergenhügelstraße, den ihr gestern Nacht passiert habt, zurückkehrte, fand Tai´gor. Es war etwa an der Stelle, wo eure Pferde durchgingen und ihr die Begegnung mit dem Muna hattet. Tai´gor lag mitten auf der Straße. Die Krieger erreichten ihn kurz nach dem Aufgang Asturs und stellten fest, dass sein Tod nur wenig früher eingetreten sein musste. Sein Pferd blieb verschwunden. Es gab keinerlei Zeichen für einen Kampf, berichteten die Krieger. Selbst sein Schwert steckte noch in der Scheide. Aber seht euch sein Gesicht an. Es muss ihm etwas Furchtbares über den Weg gelaufen sein.“

Melbart schaute sich Tai´gor genauer an. Seine Kleidung war heil, und er hatte keine Wunden. Auch seine Hände zeigten keine Druckstellen, wie sie häufig nach Schwertkämpfen vorkamen. Nur am Hinterkopf war eine kleine Platzwunde, die wahrscheinlich von seinem Sturz herrührte. Diese Wunde aber war keinesfalls tödlich gewesen.

„Er hat keine Knochenbrüche“, stellte Melbart fest. „Das macht es umso wahrscheinlicher, dass er nicht mehr auf seinem Pferd gesessen hatte, als er stürzte. Es scheint, als wäre er abgestiegen, wahrscheinlich, um sich irgendetwas genauer anzuschauen. Dann muss ihm etwas begegnet sein, das ihn so sehr erschreckt hat, dass er auf der Stelle starb und nach hinten umfiel. Ich frage mich, wer oder was zu einer solchen Wirkung fähig wäre.“

„Kann man den wirklich durch Angst sterben?“, fragte Angholt zweifelnd.

„Er wäre nicht der Erste, dem das widerfuhr“, meinte Cai.

„Es gehört eine schwerwiegende Ursache dazu“, erklärte Melbart. „Und bei Tai´gor sehe ich keine andere als eine grauenhafte Begegnung. Und doch ist sie für mich unbegreiflich.“

„In unserem Wald hausen zwar einige sonderbare Kreaturen, doch keine, die in der Lage wären, durch ihre bloße Erscheinung einen Elfen zu Tode zu erschrecken“, war sich Nôl´taham sicher. „Was immer es war, es muss auch der Grund für das sonderbare Verhalten eurer Pferde und die Flucht des Einhorns gewesen sein. Erstaunlich, dass es sich noch an diesem Ort aufgehalten hat, falls es überhaupt ein Wesen war und keine andere Erscheinung.“

Die letzten Worte hatten Melbart nachdenklich gemacht, so, als wäre ihm ein Gedanke gekommen.

„Entschuldigt mich, ich muss noch einmal zu Adhasil“, sagte er, einer plötzlichen Eingebung folgend. „Ich habe da so eine Ahnung, sogar Befürchtung, was es gewesen sein könnte. Ich hoffe, ich habe Unrecht, aber ich muss es herausfinden.“

Melbart wandte sich ohne eine weitere Äußerung ab und verließ den Raum. Die anderen blickten ihm ratlos hinterher.

Nôl´taham veranlasste, dass der Leichnam Tai´gors in eine kleine Kammer gebracht und aufgebahrt wurde. Dort ließ er dessen Gesicht durch einen Heiler in einen Zustand bringen, der das Entsetzen in dem Augenblick seines Todes verbarg. Keiner sollte mehr sehen, unter welchen schrecklichen Seelenqualen er gestorben war.

In der Zwischenzeit war die Familie des Elfen benachrichtigt worden, und seine ersten Verwandten trafen ein. Sie wurden in den Leichenraum vorgelassen, wo sie ungestört von ihm Abschied nehmen konnten.

Melbart kehrte bald zurück und bat Nôl´taham und die Gefährten um eine Unterredung. Sie zogen sich in ein Beratungszimmer zurück.

„Es ist, wie ich es befürchtet habe“, begann der Zauberer ohne Umschweife. „Die Rückkehr Adhasils und die Todesstunde Tai´gors fielen etwa auf den gleichen Zeitpunkt, nämlich den Aufgang Asturs. Beides steht in einem Zusammenhang. Ich befragte auch noch einmal die Pflegerin, und sie berichtete mir, dass Adhasil, bevor sie erneut in eine kurze Bewusstlosigkeit fiel, sie dringend vor einem schwarzen Schatten warnen wollte, dem sie begegnet war, als sie sich auf dem Pfad zwischen dem Feenreich und unserer Welt befand. Als Adhasil das nächste Mal wieder zu sich kam, konnte sie sich nicht mehr daran erinnern. Die Pflegerin hielt es für eine Wahnvorstellung der Kranken, eine Verwirrung, und schenkte ihr daher keine Beachtung. Erst auf mein Drängen hin, sich an alles zu erinnern, was in der Zeit geschehen war, als Adhasil wieder erwachte, erzählte sie es mir. Doch gerade diese Begegnung ist wichtig, denn es war die Begegnung mit dem Wesen, das für all die Dinge, die dort im Valedrim-Wald geschehen sind, verantwortlich ist. Doch zuvor muss ich euch erst noch auf einen bestimmten Sachverhalt hinweisen. An diesem Ort befindet oder befand sich eine der magischen Pforten zwischen den Welten. Ihr fragt euch bestimmt, woher ich das weiß? Nun, solche Orte kann ich spüren, und ich tat es auch an dieser Stelle. Doch da mir gelegentlich welche begegnen, ohne dass sich etwas ereignet, maß ich dem keine Bedeutung bei. Jetzt erkenne ich, dass ich mich dieses Mal geirrt habe. Magische Pforten entstehen zuweilen an den Stellen, wo sich unterirdische Kraftlinien kreuzen, die sogenannten Kyrilanischen Adern, bleiben aber nicht dauerhaft erhalten. Einige von euch werden sicher davon gehört haben. Durch dieses Tor muss das Wesen in unsere Welt eingedrungen sein, und zwar genau in dem Augenblick, als wir diese Stelle passierten. Diese magische Aufladung des Ortes und möglicherweise ein kurzes Sichtbarwerden des Wesens haben die Pferde und das Einhorn in Aufruhr versetzt und bei Urth und Hagil das Gefühl der Bedrohung erzeugt. Ob das Einhorn zufällig dort war oder durch das Tor herausfloh, ist dabei nicht entscheidend. Doch umso mehr das Ergebnis. Ich bin jetzt ziemlich sicher, dass Adhasils Seele durch diese Pforte ins Feenreich gerissen wurde. Dadurch, dass sie diesen Weg genommen hatte, wurde sie erst spät als Wechselwesen entdeckt. Unter anderen Umständen hätte sie bereits früher wieder zurückgeschickt werden können, und die Hilfe der Heiler wäre dann möglicherweise nicht notwendig gewesen. Dadurch, dass die Schreckenskreatur sich in unserer Welt befand, war andererseits ein gewisser Ausgleich geschaffen. Das führte mit ziemlicher Sicherheit dazu, dass Adhasil, als der schwächere Teil, sogar so lange drüben verharren musste, wie das andere Wesen sich in unserer Welt befand. Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre es ihr während dieser Zeit nicht möglich gewesen, zurückzukehren. Doch in dem Augenblick, als sich das andere Wesen zurückzog, und das fand statt, kurz nachdem Tai´gor ihm begegnet war, kam auch Adhasils Seele wieder frei. Beide begegneten sich bei diesem Durchgang. Wie ihm die Fürstin erschienen war, weiß ich nicht, doch sie sah dieses Wesen als bedrohlichen Schatten, der an ihr vorüberhuschte. Das muss jedoch so schnell gegangen sein, dass Adhasil nur äußerst wenig von dem Grauen gespürt haben kann, das Tai´gor umbrachte. Damit hatte sie großes Glück. Schlimmstenfalls wäre sie ebenso gestorben.“

„Dieses Wesen stammte aus dem Feenreich?“, fragte Angholt. „Und was hat der Sonnenaufgang damit zu tun?“

„Zu den Zeiten der Sonnenauf- und -untergänge sind die magischen Schwellen zwischen den Welten am niedrigsten und ein Durchtritt am leichtesten“, erklärte Melbart. „Jedoch muss dieses Geschöpf außerordentlich stark gewesen sein, denn bei seinem ersten Auftauchen war es bereits später Vormittag. Das flüchtende Einhorn spricht dafür, dass es wahrscheinlich erst in diesem Augenblick in unsere Welt kam. Wir können davon ausgehen, dass diese Kreatur mit Sicherheit nicht aus dem Feenland kam, denn solche Wesen kommen dort nicht vor.“

„Mir scheint, Ihr wisst ziemlich genau, was es war“, meinte Nôl´taham. „Wollt Ihr uns nicht endlich seinen Namen verraten?“

Der König hatte den Erklärungen gelauscht und war zu dem Schluss gekommen, dass Melbart sowohl wusste, mit wem sie es zu tun hatten als auch, woher es kam. Je länger Melbarts Ausführungen dauerten, desto ungeduldiger wurde er.

„Ja, es stimmt“, gab Melbart zu. „Ich denke, so viel ist jetzt klar. Es handelt sich um Runloc. Mir ist kein anderes Wesen bekannt, das unter solchen Umständen eine derartige Wirkung entfalten kann.“

Einige der Gefährten hatten seinen Namen bereits in Weißanger gehört, seine Bedeutung war ihnen allerdings nicht bekannt, außer dass er der oberste Heerführer von Kryonos war. Deshalb fiel es ihnen auch schwer, zu verstehen, warum Nôl´taham so erschrocken schien. Stellvertretend für seine Freunde erkundigte sich Urth nach diesem Runloc.

„Runloc ist Kryonos´ mächtigster Feldherr“, erklärte Melbart. „Er befehligt sowohl die Schwarzen Geister als auch die Bestien. Runloc selbst steht somit in der Hierarchie über den sieben verbliebenen Schwarzen Geistern. Sein letztes Erscheinen liegt über eintausend Jahre zurück und ereignete sich im damaligen Krieg gegen Kryonos. Ich will es dabei belassen, denn keine noch so eindringlichen Worte könnten die Gefahr beschreiben, die von ihm ausgeht, und von der sich nur die wenigsten eine Vorstellung machen können.“

„Ihr meint also, dass er zurückgekommen ist“, wiederholte Nôl´taham. „Und wir können nichts gegen ihn unternehmen. Das ist nicht gut.“

„Ganz und gar nicht. Ja, er ist nach all der Zeit wieder in Erscheinung getreten“, sagte Melbart. „Und doch ist sein Auftauchen nicht überraschend. Es war vielmehr vorauszusehen, seit Kryonos wieder erstarkt. Und nun, Angholt, wirst du auch verstehen, warum Runloc nicht aus dem Feenreich stammen kann. Er ist eine Kreatur des Kryonos und das Feenreich ist stark genug, um sie zurückzuweisen, wenn es auch unter dem Einfluss von Kryonos zu leiden und Schaden zu nehmen vermag. Doch wo er sich aufhielt und wohin er nun wahrscheinlich wieder zurückgekehrt ist, das kann ich euch nicht sagen. Ich vermute aber, er hält sich nicht fern unserer Welt auf. Das aber bedeutet, dass das magische Tor zwischen den Welten ein Mehrfachtor war, das heißt, es verband mehrere Daseinsebenen. Ein äußerst seltener und im Hinblick auf Tai´gor tragischer Umstand. Schließlich hatte Adhasil erhebliches Glück, denn sie gelangte nicht weiter, als bis ins Feenreich. Anderenfalls wäre ihr die Rückkehr möglicherweise nie gelungen. Sie hätte eine Kreatur Runlocs und damit des Kryonos werden können.“

„Lässt sich vorhersehen, wann und wo er wieder auftauchen wird?“, fragte Ken´ir sorgenvoll.

„Wie ich bereits sagte, das ist schwierig zu beurteilen“, wiederholte Melbart. „Das hängt auch davon ab, auf welchem Wege es geschieht. Auf Kyrilanische Adern kann er sich nicht verlassen. Sie sind ständig in Bewegung und verändern ihre Lage. Und kein magisches Tor entsteht an dem gleichen Ort, wo vorher bereits eines bestanden hatte. Ob er stark genug ist, einen künstlichen Übergang zu schaffen, vermag ich ebenfalls nicht zu sagen. Ich fürchte aber, es ist wahrscheinlich. Letztlich können wir nur abwarten und hoffen, dass es sobald nicht wieder geschieht. Aber ich neige dazu anzunehmen, dass es sich erst kurz vor dem Ausbruch des Krieges wiederholen wird. Es mag sich sonderbar anhören, aber Runloc ist von zu erschreckender Ausstrahlung, als dass er versuchen könnte, heimlich unter Erdanern aufzutauchen. Er würde sich selbst allzu leicht verraten.“

„Seltsam, warum habe ich denn davon nichts gespürt?“, meinte Angholt.

„Nicht jeder ist empfänglich für solche Sinneseindrücke, und vielleicht ging auch alles zu schnell“, meinte der Magier. „Hagil, Urth und ich waren näher an diesem Ort und empfanden seine Anwesenheit daher deutlicher – als Schrecken, dessen Ursache uns unbekannt war.“

„Glaubt Ihr, er wusste von unserem Ritt und hat uns dort im Wald aufgelauert?“, fragte Angholt weiter.

Melbart musste lachen, doch das klang bitter. „Wenn er uns hätte auflauern und überfallen wollen, dann wären jetzt einige oder alle von uns nicht mehr unter den Lebenden. Deshalb muss unser Zusammentreffen zufällig gewesen sein, wenn man es so ausdrücken will. Ich weiß nicht, was Runloc vorhatte. Vielleicht geschah es nur, um sich umzuschauen, vielleicht hatte er einen anderen Grund. Auf keinen Fall kann es von ihm beabsichtigt gewesen sein, ein derartiges Aufsehen zu erregen. Und wer weiß, von welcher Tat es ihn abgehalten hat. Ich glaube aber nicht, dass er erfahren hat, was unser Ziel ist, wenn er uns überhaupt für so wichtig hielt, sich für uns zu interessieren. Und das kann ich mir kaum vorstellen. Seltsam nur, dass er sich an diesem Ort bis heute aufgehalten hat, und noch seltsamer, dass das Tor so lange Bestand hatte. Na gut, darauf habe ich jetzt keine Antworten. Doch von jetzt an müssen wir umso wachsamer sein. Eine Gefahr sehe ich in ihm vorläufig aber nicht. Jedenfalls brauchen wir seinetwegen nicht unseren Plan zu ändern.“

Dass Runloc ihn als magisches Wesen bemerkt haben könnte, verschwieg Melbart, denn er wollte seine Freunde nicht beunruhigen.

„Und was ist mit dem Tod Tai´gors?“, wandte Nôl´taham ein. „Spricht der nicht gegen Eure Ansicht?“

„Was das betrifft, werden wir wohl nie herausfinden, was dort wirklich geschehen ist“, überlegte Melbart. „Ich vermute eher, dass dessen Tod noch nicht einmal von Runloc beabsichtigt war. Tai´gor erreichte nur zu einem unglücklichen Zeitpunkt diesen Ort, zu einem Zeitpunkt, als Runloc sich darauf vorbereitete, die Pforte wieder zu durchschreiten. Eines ist auf jeden Fall klar: Falls er vorhatte, heimlich in unserer Welt aufzutauchen, dann ist ihm das gründlich misslungen. Mehr Aufsehen hätte er unter diesen Umständen gar nicht erregen können. Er wird das nächste Mal wahrscheinlich vorsichtiger vorgehen, wenn es nicht seine Absicht ist, den Kampf zu suchen. Doch die Erfahrung hat gelehrt, dass er seine Krieger vorschickt, und das wird er erst tun, wenn es Kryonos für an der Zeit hält, also wenn der Krieg begonnen hat. Doch wie immer dem sei, diese Nachricht über die Rückkehr Runlocs ist so wichtig, dass ich euch, ehe wir weiterreiten, noch einmal verlassen muss. Ja, es sind wahrlich anstrengende Zeiten. Ich werde morgen früh wieder zurück sein. Euch, meinen Gefährten, rate ich, ruht euch aus und genießt noch für eine kurze Weile die Gastfreundschaft König Nôl´tahams.“

Noch bevor einer von ihnen fragen konnte, was der Zauberer vorhatte, war dieser schon aus dem Raum geeilt und mit ihm König Nôl´taham, dem Melbart ein kurzes Zeichen gegeben hatte, dass er mit ihm allein sprechen wollte. Ratlos blieben die anderen zurück.

„Die Sache ist ernst“, sagte Melbart zu dem Elfen, während sie durch den Flur gingen. „Ich hatte nicht so schnell mit dem Auftauchen Runlocs gerechnet. Ich muss darüber dringend mit Angulfin und, falls ich sie erreichen kann, mit Liseniél sprechen.“

„Ihr habt Recht“, stimmte Nôl´taham zu. „Diese Nachricht muss beide schnell erreichen und dem Rat vorgetragen werden. Früher oder später mussten wir mit Runlocs Auftauchen rechnen, doch auch mir erscheint der Zeitpunkt unerwartet früh. Damit beginnt auch euer Kampf früher als vorgesehen.“

„Das fürchte ich auch“, meinte Melbart. „Vielleicht ist es besser so. Noch kein Wort zu meinen Begleitern. Sie kennen bisher weder Liseniél noch die Zusammenhänge. Was die Königin angeht, wird sich das allerdings in Kürze ändern, glaube ich. Jedenfalls würde sie eine vollständige Erklärung zum jetzigen Zeitpunkt nur unnötig verwirren.“

„Und es wird einige Zeit dauern, bis sie die wahren Hintergründe ihrer Aufgabe begreifen“, vermutete der Elf. „Ich denke, es ist besser, wenn ich es Euch überlasse, ihnen die ganze Wahrheit mitzuteilen.“

„Das habe ich geahnt“, entgegnete der Magier trocken. „Doch so weit war ich noch gar nicht. Ich schätze, Branwyn wird vorher ins Spiel kommen. Gut, wir sind am Ausgang zum Hof. Die anderen sollen sich übermorgen früh für den Aufbruch bereithalten. Ich hoffe aber, morgen schon wieder hier zu sein. Nur auf Adhasil kommt es dann noch an.“

Der König nickte und Melbart eilte über den Burghof zu den Pferdeställen. Bereits bei seiner Rückkehr aus dem Aurideŏn hatte er den Befehl gegeben, sein Pferd zu satteln. Er hatte diese Art der Fortbewegung gewählt, weil er damit rechnen musste, dass Runloc doch noch einmal irgendwo im Wald auftauchen würde. Beritten war Melbart für ihn weniger leicht aufzuspüren, denn, das muss gesagt werden, zum jetzigen Zeitpunkt und noch dazu allein fürchtete der Magier eine Begegnung mit ihm.

So verließ Melbart kurz darauf die Stadt in Richtung Westen. Über die Waldstraße, den Alten Klippweg und ein Stück freier Ebene jenseits des Valedrim-Waldes erreichte er spät in der Nacht einen besonderen Ort, an dem er sich noch am Vormittag auf eine für einen Menschen und sogar für einen Elfen unbegreifliche Weise mit Angulfin verabredet hatte. Kurz nach Mitternacht traf dann auch sein Ordensbruder dort ein, fast gleichzeitig mit Liseniél.

Der König kehrte indessen wieder zu den Gefährten zurück, die sich immer noch in dem Raum aufhielten, in dem er und Melbart sie ein wenig ratlos zurückgelassen hatten. Er lud sie, sehr zum Entzücken von Angholt, ein, sich die Stadt anzusehen, die jeden Nichtelfen in einen märchenhaften Bann zog. Außerdem gab er die Anordnung Melbarts weiter, am Morgen des übernächsten Tages bereit für die Abreise zu sein. Wenn sie sich von Nôl´taham Aufschluss über das Ziel der Reise Melbarts versprochen hatten, so wurden sie enttäuscht. Der König wich den Fragen nicht aus, er beantwortete sie einfach nur schlicht mit einem wissenden Lächeln, aber ohne ein Wort der Erklärung.

Nach diesem merkwürdigen Gespräch löste sich die kleine Versammlung auf und einige hatten ein ungutes Gefühl. Zwar hatte die Gefährten manches Neue und eine wahrscheinliche Erklärung für die Vorfälle im Wald erfahren, doch schien alles sehr vage. Die wenigen Antworten hatten umso mehr Fragen bei ihnen aufgeworfen, ohne dass sie genau wussten, wie sie diese Fragen überhaupt ausdrücken konnten. Eine unterschwellige Unzufriedenheit machte sich unter den Gefährten breit. Dazu kam dieser sonderbar hastige Aufbruch des Magiers zu einem unbekannten Ort. Das alles schien nichts Gutes zu verheißen.

Kurz darauf verließen sie in der Begleitung von Ken´ir den Palast, um sich von ihm die Stadt zeigen zu lassen, wie König Nôl´taham vorgeschlagen hatte. Es dauerte nicht lange, bis Angholt von einer solchen Faszination erfüllt war, dass er die Sorgen der anderen vergaß.

Erst früh am nächsten Morgen, kurz nach dem ersten Sonnenaufgang, kehrte Melbart von seinem Ausflug wieder zurück. Jetzt war es zu spät für ihn, sich noch schlafen zu legen. So verbrachte er die Zeit, bis seine Freunde auftauchten, gedankenversunken im Burggarten.

Die Rache des Kryonos

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