Читать книгу Die Rache des Kryonos - Harald Höpner - Страница 18
16. Das Traumgesicht
ОглавлениеFürs Erste waren sie nun wieder auf sich allein gestellt. Angulfin, Zihanor und Thorgren stiegen von ihren Pferden ab und bereiteten sich eine kleine Mahlzeit. Obwohl sie schon lange unterwegs waren, fühlte sich Thorgren so gut, als wäre er nie krank gewesen. Nachdem Angulfin die Kopfwunde noch einmal untersucht hatte, entschied er, sehr zur Erleichterung Thorgrens, dass der Verband nicht mehr notwendig war.
„Glaubst du, wir werden Kerin´har wiedersehen?“, fragte Zihanor Angulfin. „Ich würde gern noch mehr über das Volk der Elfen erfahren. Auf diesem kurzen Ritt habe ich schon einiges gelernt, was wir bei uns über sie nicht wissen. Mein Volk hat seit langer Zeit keine Verbindung mehr zu dem der Elfen. Ich glaube aber, wir könnten voneinander lernen.“
„Ob du Kerin´har wiedersehen wirst, das weiß ich nicht“, meinte Angulfin. „Er wird jedenfalls nicht an unserer Fahrt teilnehmen. Aber ich kann dir versprechen, dass uns ein anderer Elf begleiten wird. Er heißt Ken´ir und dient gewöhnlicherweise am Hofe Nôl´tahams, des Königs dieses Volkes. Halte dich an ihn. Ob er aber so auskunftsfreudig ist wie Kerin´har, das kann ich nicht beurteilen. Es freut mich aber, dass du dich so aufgeschlossen zeigst. Deine Einsichten könnten eines Tages einen weitsichtigen Herrscher aus dir machen. Doch ich fürchte, die Lernbereitschaft wird in diesem Fall eher einseitig sein.“
Zihanor blickte Angulfin fragend an.
„Die Elfen sind ein sehr altes, gereiftes Volk, und sie haben erkannt, dass ihre Zeit abläuft“, erklärte Angulfin. „Sie ziehen sich vom Weltgeschehen immer mehr zurück. Ihre Bereitschaft, Neues aufzunehmen, hat im Laufe der Zeit abgenommen, und vielem, was für euch noch von Bedeutung ist, schenken sie keine Beachtung mehr. Ihr Volk ist älter als alle anderen auf Erdos, vielleicht mit Ausnahme der Felsgnome, und ihr Wissen tiefer.“
„Du meinst, sie sterben aus, wenn so etwas möglich ist?“, fragte Zihanor.
„In gewisser Hinsicht, ja“, bestätigte Angulfin. „Irgendwann wird es sie auf Erdos nicht mehr geben. Aber mach´ dir darüber keine Gedanken. Vermutlich wirst du das nicht mehr erleben.“
„Das erklärt aber, warum Kerin´har mir keine Fragen gestellt hat“, meinte Zihanor mehr zu sich selbst. „Er wird kein sonderliches Interesse gehabt haben.“
Plötzlich hatte er das Gefühl, als hätte er die ganze Zeit die Rolle eines neugierigen Kindes gespielt, und Kerin´har wäre der weise Lehrer gewesen. Zihanor fühlte sich bei diesem Gedanken fast ein wenig gekränkt, vor allem, wenn er daran dachte, dass die anderen vielleicht den gleichen Eindruck gewonnen hatten.
„Eine durchaus berechtigte Annahme“, hörte er die Worte Angulfins. „Sie halten bestimmte Dinge eben für wichtiger, als es andere Völker tun. Und was euch wichtig erscheint, ist für die Elfen belanglos geworden. Denke daran, was dir als Kind von Bedeutung war und worauf du niemals hättest verzichten wollen. Beantworte dir selbst die Frage, welche Rolle manches davon heute noch in deinem Leben spielt. Ein Erwachsener, der sich immer noch mit dem gleichen Eifer mit Kinderspielzeug beschäftigt wie ein Kind, ist nicht gereift. Völker sind da kaum anders als Einzelwesen. Aber zerbreche dir darüber nicht zu sehr den Kopf, sondern freue dich lieber, einen Elfen getroffen zu haben, der so mitteilungsfreudig war. Das gibt es in diesem Volk nicht oft. So, und nun lasst uns wieder aufbrechen. Bis heute Abend wollen wir die Stromschnellen erreicht haben.“
Sie packten ihre Sachen zusammen und ritten auf den Ort der Zusammenkunft zu. Zihanor stellte fest, dass der restliche Weg kürzer war, als er erwartet hatte. Zwar waren die Stromschnellen von ihrem Rastplatz nicht zu sehen gewesen, doch sie brauchten nur noch wenige Höhen und das von Kerin´har vorhergesagte namenlose Flüsschen zu überwinden, bis sie nicht mehr weit entfernt vor ihnen auftauchten. Als sie dort ankamen, war Zihanor alles andere als beeindruckt.
Die Engstelle der Dagau bestand lediglich aus ein paar kleineren Felsen, die das strömende Wasser an den gegenüberliegenden Ufern im Laufe der Zeit freigelegt hatte. Weder gab es eine richtige Schlucht, noch war die nähere Umgebung in eine dichte Gischtwolke gehüllt. Das Flussbett war an dieser Stelle nur ein wenig schmaler und die Strömung ein wenig schneller. Zihanor hatte sich etwas mehr unter diesen Stromschnellen vorgestellt.
„So können Erwartungen täuschen“, erwiderte Angulfin auf seine Bemerkung.
Zihanor war nicht sicher, ob wirklich kein tieferer Sinn hinter diesen wenigen Worten steckte.
Als sie die Stromschnellen erreichten, war die andere Gruppe wider Erwarten noch nicht da. Und der Nachmittag ging vorüber, ohne dass sie auftauchte. Da die drei durch Thorgrens Erkrankung einen Tag verloren hatten, waren sie sicher gewesen, dass Melbarts Gruppe bereits wartete. Noch wussten sie nicht, dass auch bei ihnen etwas dazwischengekommen war, womit keiner rechnen konnte.
Zihanor und Thorgren sahen sich in der Gegend nach einem Ort um, an dem sie geschützt die Nacht verbringen konnten. Unterhalb der Stromschnellen wurden sie fündig. Nicht weit entfernt vom Fluss entdeckten sie eine merkwürdige Höhle, merkwürdig aus dem Grund, weil sie ihnen an dieser Stelle unpassend erschien. Sie holten Fackeln von der Lagerstelle und gingen hinein.
Zuerst erschien den beiden die Höhle zu eng, denn auf den ersten Schritten konnten sie nur hintereinander hineingehen. Dabei stöberten sie einige Fledermäuse auf, die an der Decke gehangen hatten. Unter ihren Füßen knirschte der Boden, während sie schweigend und aufmerksam vordrangen. Thorgren ging voran, und einer inneren Stimme folgend, hatte er sein Schwert gezogen. Es konnte durchaus sein, dass die Höhle bereits bewohnt war. Kurz bevor sie einen größeren Raum betraten, nahm der Gang hinter einer engen Nische eine seltsame Form an. Keiner von beiden achtete jedoch darauf. Schließlich standen sie in einer großen Halle.
Die Flammen der Fackeln flackerten. Von irgendwo her zog es und brachte frische Luft in die Höhle. Trotzdem war sie erfüllt von einem schwachen Geruch von Zerfall und Verwesung, jedoch nur unterschwellig und kaum zu spüren. Bei einem längeren Aufenthalt würde man sich schnell daran gewöhnen. Sie waren schon fast geneigt dazu, die Höhle für geeignet zu halten, aber irgendetwas störte sie.
„Ich werde den Eindruck nicht los, dass wir nicht die Einzigen hier sind“, sagte Zihanor leise.
So verhalten er auch gesprochen hatte, es folgte ein schwaches Echo. Beide sahen sich die Wände und die Decke an, achteten aber nicht auf den Boden. Zihanor machte einen Schritt nach vorn, spürte, dass er auf etwas Unebenes trat, und da knackte es auch schon laut unter seinen Stiefeln. Erschrocken drehte sich Thorgren um und blickte auf Zihanor, der zurückgewichen war und vor sich den Boden ableuchtete.
„Knochen!“, stellte er fest. „Allerdings schon etwas älter.“
Jetzt leuchtete auch Thorgren mit seiner Fackel auf die Erde. Bisher hatte er sich nur mit den Felswänden und der Decke beschäftigt, wo er aber nichts Verdächtiges feststellen konnte. Sie fanden weitere Knochen. Einige lose verstreut, andere zeigten noch einen Verband. Aus der Dunkelheit schälte sich beim Näherkommen an der einen Wand etwas Weißes, Rippiges heraus. Vor ihnen lag das vollständige Skelett eines unbekannten Tieres mit einem gewaltigen, reißzahnbewährten Maul und einem langen Schwanz, dessen letzter Knochen zu einem fußlangen, dornartigen Fortsatz geformt war.
„Himmel!“, sagte Thorgren überrascht. „Dem hätte ich zu seinen Lebzeiten nicht begegnen wollen. Wir können froh sein, dass er seine letzte Mahlzeit nicht gut vertragen hat.“
„Schau dir den Schädel genau an“, forderte Zihanor, in dem jetzt der Jäger erwacht war, seinen Freund auf.
Im ersten Augenblick erkannte Thorgren nichts. Doch schließlich sah er, dass der Knochen oberhalb der auf dem Boden liegenden Augenöffnung zertrümmert war.
„Dann hat dieser Zeitgenosse seinen Meister gefunden und ist nicht eines natürlichen Todes gestorben“, schloss Thorgren aus der Verletzung.
„Du sagst es“, bestätigte Zihanor gelassen, was Thorgren verwirrte.
„Könnte es also sein, dass der Bewohner dieser Höhle noch lebt, von ungastlicher Art ist und wir schnellsten verschwinden sollten und uns einen anderen Unterschlupf für die Nacht suchen müssen?“, fragte er. Ein zunehmend drängender Unterton begleitete seine Worte.
„Das würde ich nicht unbedingt behaupten“, widersprach Zihanor lächelnd. „Ich glaube, als Jäger könntest du noch einiges von mir lernen. Schau dir die Knochen doch einmal genau an. Vielleicht beantwortet auch ein tiefer Atemzug deine Fragen.“
Thorgren ging vornüber gebeugt von einem zum nächsten Knochen. Manche hatten eindeutig Nagespuren, aber sonst fiel ihm zunächst nichts auf. Etwas ärgerlich, weil er nicht wusste, worauf Zihanor hinauswollte, trat er gegen ein großes Bruchstück eines Schenkelknochens, das polternd wegrollte.
„Und was hat das mit meiner Atmung zu tun?“, fragte Thorgren unwirsch. „Ich finde – ach so.“ Plötzlich hatte er begriffen. „Das meinst du. Die Knochen sind alt und trocken. Das Fleisch ist vergangen. Hier wurde schon lange keine Beute mehr von irgendwem verspeist. Die Höhle ist unbewohnt und stinkt nicht mehr, wie sie es einst sicher getan hat.“
„So ist es“, bestätigte Zihanor, zufrieden, Thorgren mit seiner Beobachtung zuvorgekommen zu sein.
„Schön“, meinte Thorgren misslaunig. „Dann kannst du mir bestimmt auch sagen, wer oder was sich hier breitgemacht hatte.“
„Drehe dich um und gehe zurück zum Eingang. Halte dabei die Fackel vor dir.“
Thorgren knurrte unfreundlich, tat aber, was Zihanor wollte. Er benimmt sich wie ein Schulmeister, dachte Thorgren verstimmt. Kurz vor dem Öffnungsspalt hielt er inne und trat plötzlich entsetzt einige Schritte zurück. Mit seiner Fackel hatte er genau in die verzerrte Grimasse eines Trolls geleuchtet.
„Verdammt!“, fluchte er. „Und du hast es die ganze Zeit gewusst. Du lässt mich in einer Trollhöhle herumlaufen und sagst kein Wort.“
Zihanor konnte sein Lachen nicht mehr unterdrücken.
„Man sollte dich wirklich nirgendwo allein hineinschicken“, spottete er. „Auf den ersten Blick habe ich den Troll aber auch nicht erkannt. Erst nachdem ich auf den Knochen getreten bin, erinnerte ich mich an den merkwürdig geformten Eingang. Und wenn mich der Troll nicht so reglos aus versteinerten Augen angesehen hätte, wäre ich bestimmt nicht so ruhig geblieben.“
„Willst du immer noch hier bleiben?“
„Warum denn nicht?“, meinte Zihanor ungerührt. „Der tut uns nichts mehr. Wir werden kaum etwas anderes finden.“
In diesem Augenblick erschien ein menschlicher Schatten im Eingang. Angulfin war ihnen gefolgt.
„Na? Wie weit seid ihr?“, rief er in den Gang und trat ein. „Es wird Zeit, dass – oh! Das ist ja ein toller Bursche.“
Der Magier war vor dem erstarrten Troll stehengeblieben und blickte ihn fasziniert an. Thorgren stöhnte auf, drängelte sich an Angulfin vorbei und eilte in seiner Verzweiflung nach draußen, um ihre Pferde und das Gepäck zu holen.
„Hättest du nicht etwas warten können mit der Entdeckung des Trolls und deiner etwas übertriebenen Bewunderung?“, tadelte Zihanor den Magier milde. „Thorgren ist sehr unglücklich darüber, dass er so lange gebraucht hat, um auf ihn aufmerksam zu werden. Außerdem hat der Troll ihm einen gehörigen Schrecken versetzt.“
„Ja, das glaube ich“, meinte Angulfin lachend.
„Er muss schon länger hier herumstehen“, sagte Zihanor. „Unseretwegen hat er sich jedenfalls nicht in Stein verwandelt. Vielleicht hat ihn draußen irgendetwas aufgehalten, und er hat es nicht mehr geschafft, tief genug in seinen Unterschlupf zu kommen, bevor ihn der erste Sonnenstrahl traf. Siehst du? Der Eingang schaut genau nach Westen. Wir können also annehmen, dass diesen Troll Pelin zur Strecke gebracht hat. Wenn du dir sein Gesicht ansiehst, erkennst du noch den kurzen Augenblick höchster Not, als er zu Stein wurde.“
„Schau an“, meinte Angulfin nur. „Das wäre möglich. Aber eigentlich ist es unwahrscheinlich. Trotzdem, eine bessere Erklärung habe ich auch nicht.“
Er drehte sich um und besah sich in dem trüben, unruhigen Licht der Fackeln das Innere der Höhle.
„Ich glaube, wenn wir hier etwas aufräumen, ist es ein ganz annehmbarer Platz zum Übernachten. Die Zugluft gestattet uns sogar, ein kleines Feuer zu entzünden, ohne an dem Rauch zu ersticken.“
Sie begannen, die Knochen zusammenzuräumen und über dem Skelett zu einem Haufen aufzutürmen. Thorgren brachte noch mehr Fackeln und ein Bündel Feuerholz. Seine Laune hatte sich wieder etwas gebessert, nur würde er sich nie an den Anblick des Höhlentrolls gewöhnen können. Als sie ihr Gepäck in die Höhle gebracht und sich leidlich eingerichtet hatten, strahlte sie sogar eine Spur von Gemütlichkeit aus – einmal abgesehen von dem großen Stapel alter Knochen.
Obwohl genügend Platz für die Pferde vorhanden war, schafften sie es nicht, auch nur ein Tier in die Höhle hineinzubringen. Bereits am Eingang weigerten sie sich, weiterzugehen. Selbst Mondblesse, der seinem Herrn fast überall hinfolgen würde, sträubte sich hartnäckig, die Höhle zu betreten. Schließlich gaben die Gefährten es auf. Dann mussten ihre Pferde eben draußen bleiben.
Am nächsten Morgen wurden sie durch die hellen Strahlen der Sonne Pelin geweckt. Nun stellten sie auch fest, mit welcher Stärke sie an klaren Tagen in die Höhle hineinstrahlte. Während Angulfin und Zihanor ausgeruht waren, hatte Thorgren schlecht geschlafen. Immer wieder war er aufgewacht und hatte sich vergewissert, dass der Troll noch an der gleichen Stelle stand. Und jedes Mal ärgerte er sich über seine Torheit.
Aber das war nicht der hauptsächliche Grund für seine Unruhe. Er hatte das ungute Gefühl, auf etwas zu warten, von dem er nicht wusste, was es war. Auf keinen Fall war es die Ankunft der anderen Gruppe. Das hätte ihn kaum beunruhigt. Und dann war da dieser Traum, der ihn gleich mehrmals heimgesucht hatte, und der ihn immer wieder aufs Neue verfolgte. Er hatte das sichere Gefühl, dass es mehr war als ein Traum. Tatsächlich glaubte er, ihn körperlich erlebt zu haben. Bei der Morgenmahlzeit sprach er darüber mit Angulfin, der ziemlich schnell bemerkt hatte, dass mit Thorgren etwas nicht stimmte, und das konnte nicht nur an der Gegenwart des toten Trolls liegen.
Anfangs zögerte Thorgren, weil er nicht recht wusste, wie er es ausdrücken sollte. Schließlich begann er folgendermaßen: „Ich lag in einem steinernen, aber offenen Sarkophag, vielleicht war es auch nur eine steinerne Wanne. Ich war allein, und um mich herum war es vollkommen still. Und obwohl ich von einem dichten Nebel eingehüllt schien, standen über mir, klar und deutlich zu erkennen, die beiden Sonnen Astur und Pelin sowie der Mond Nubius. Sie bildeten ein Dreieck. In deren Mitte drehte sich eine merkwürdige Scheibe. Darauf befand sich in unregelmäßiger Form eine Fläche mit grauen, grünen und gelbbraunen Gebieten. Insgesamt wurde die Scheibe zur Hälfte von dieser Fläche ausgefüllt, der Rest war von blauer Farbe. Aus dem Nebel trat plötzlich ein Einhorn auf mich zu. Zwar habe ich noch nie ein Einhorn gesehen und kenne ihre Beschreibung nur aus Legenden und Liedern, aber ich glaube, dass man keinem schöneren begegnen kann. Dieses Einhorn trug einen strahlendblauen Edelstein auf seiner Stirn. Es sah mich mit großen, traurigen Augen an und bedeutete mir, ihm zu folgen. Also verließ ich meinen Sarkophag und folgte dem Fabelwesen. Obwohl ich festen Boden unter meinen Füßen spürte, konnte ich nicht erkennen, wie der Untergrund beschaffen war. Unsere Schritte erzeugten keinerlei Geräusche. Schließlich wurde vor uns ein dunkles Tor sichtbar, das zu beiden Seiten von einem Wesen bewacht wurde, von denen jedes von einer weißen Aura umhüllt war. Weder trugen sie sichtbar Waffen irgendwelcher Art, noch war zu unterscheiden, ob sie weiblich oder männlich waren. Sie hatten vollendet schöne Gesichter, die einen tiefen Ernst ausstrahlten. Das Einhorn gebot mir lautlos, durch das sich nun öffnende Tor zu treten, bedauerte aber, mich nicht begleiten zu können. Ich trat ein. Obwohl das Licht, das keine eindeutige Quelle besaß, sondern scheinbar überall gleichmäßig aus den Wänden herauskam, alles in eine rötliche Trübnis tauchte, konnte ich klar sehen. Durch verschiedene Gänge gelangte ich schließlich in eine große Halle, das heißt, ich stand an ihrem Rand, da der letzte Tunnel, dem ich gefolgt war, in eine Art Galerie mündete, die sich in einiger Höhe um die Halle herumzog. In ihrer Mitte schwebte eine gewaltige, rote, pulsierende Kugel, um die sich eine entsetzlich große und schrecklich aussehende Schlange wand. Sie sah mich mit höhnischen Augen an, sprach aber nicht. Unten auf dem Höhlenboden entdeckte ich sieben, undeutlich erkennbare Wesen. Sie waren schwarzglänzend und konnten Fledermäuse, Drachen oder ähnliche Kreaturen gewesen sein. Plötzlich und mit einem grauenhaften Lärm wurde die ganze Höhle in das irrsinnigste Lachen gehüllt, das ich je gehört habe. Kurz danach erreichten zusätzlich eine Vielzahl verschiedenster Echos meine Ohren. Ich wurde in eine undurchdringliche Dunkelheit geworfen und glaubte, aus dem Traum aufgewacht zu sein. Doch ich irrte. Tatsächlich fand ich mich in dem Sarkophag wieder und sah das bekannte Sternbild über mir. Aber die bunte Scheibe hatte sich verändert. Sie zeigte nun das Gesicht der Schlange, die mir vorher in der Höhle begegnet war. Sie lachte nicht und ihr starrer Blick wanderte mit dem sich bewegenden Kopf. Als er mich traf, fühlte ich eine entsetzliche Kälte in mir. Erst jetzt wachte ich wirklich auf. Wäre mir dieser Traum nur einmal begegnet, dann würde ich ihm wenig Bedeutung beimessen. Aber ich durchlebte alles vier- oder fünfmal und durchleben meine ich im Sinne des Wortes. Der Traum bekam zunehmend etwas Drängendes. Einzelne Dinge kann ich selbst deuten: Kryonos, die Schlange, das Achôn-Tharén, das Feuer der Götter, wie es in den Legenden genannt wird, in der Gestalt einer Kugel. Und schließlich die sieben Nebelgeister. Wahrscheinlich war die Höhle die Grotte in dem Verlorenen Berg. Ich meine, auch das Sternbild ist mir klar. Doch den Sinn des Ganzen verstehe ich nicht. Wer war das Einhorn, wer die Wächter? Und was bedeutete der Sarkophag und der Nebel?“
Zihanor wusste keine Antwort. Er verstand sich nicht auf Traumdeutung und versuchte es auch gar nicht erst. Wie Thorgren, blickte er erwartungsvoll auf Angulfin. Wenn er es nicht wusste, wer von ihnen dann sonst? Der Magier zögerte einige Zeit. Er schien sich nicht völlig schlüssig zu sein. Doch das mochte täuschen.
„Hm, manches deute auch ich, wie du es getan hast“, begann er, und nach einer weiteren kurzen Pause fuhr er fort. „Was du gesehen hast, Thorgren, war mehr als ein Traum. Es war eine Eingebung, ein Gesicht. Gegenwärtiges und Zukünftiges war es. Vielleicht auch ein Teil der Vergangenheit. Doch das Zukünftige in diesem Traum kann nur eine von vielen Möglichkeiten sein, da die Entwicklung der Dinge ständig neuen Einflüssen unterliegt und klare Aussagen schwer zu treffen sind. Vor allem, je ferner das Ereignis, auf das sich das Gesicht bezieht, in der Zukunft liegt. Trotzdem ist die Deutung in diesem Fall nicht allzu schwierig. Wie du richtig erkannt hast, stellte das Sternbild Erdos mit seinen beiden Sonnen und seinem Mond da, und zwar vor der Ankunft von Kryonos. Das war die Vergangenheit. Die Höhle mit Kryonos, der Schlange, war Gegenwart und Vergangenheit. Ich denke, sie wird tatsächlich sein Unterschlupf sein. Der Anblick des Achôn-Tharéns in der Höhle mag Vergangenheit und eine mögliche Zukunft, vielleicht auch, was wir nicht hoffen wollen, die Gegenwart bedeuten. Die Deutung dieses Bildes ist schwierig.“
In diesem Augenblick hoffte Angulfin inständig, dass das Versteckspiel bald ein Ende hatte und Thorgren endlich erfahren konnte, dass das Achôn-Tharén bereits bei Kryonos war. Es war nicht einfach, es bei solchen Fragen vor ihm geheimzuhalten und trotzdem eine glaubwürdige Antwort zu geben, obwohl der Magier die Notwendigkeit einsah.
„Es handelt sich um einen Anblick, den König Merowinth seinerzeit gehabt haben mochte“, überlegte Angulfin. „Gleichzeitig wurde dir erlaubt, zu erkennen, wie es in einer möglichen Zukunft sein könnte, falls Kryonos das Achôn-Tharén wieder zurückerhält. Schließlich zeigte dir die letzte Ansicht dieses Sternenbildes, wieder die Gegenwart, in der Kryonos sich immer noch auf Erdos befindet und seinen Blick auf der Suche nach dem Achôn-Tharén schweifen lässt, vermute ich. Ob er dich als seinen, sagen wir einmal, Widersacher erkannt hat, ist nicht sicher und eher unwahrscheinlich. Aber du hast einen Vorgeschmack davon erhalten, wie es ist, sich in seiner Nähe zu befinden. Jedoch, wenn er dein Unterfangen ahnt, dann könnte sein letzter Blick auf dich auch als Drohung zu verstehen sein, es nicht zu versuchen. Schließlich würde der Verlust des Achôn-Tharéns nicht zum ersten Mal eintreten. Doch wie gesagt, es kann, muss aber nicht so sein und ist eher unwahrscheinlich.“
[An dieser Stelle soll vorweggeschickt werden, was später noch näher erklärt wird. Kryonos ist eines der ältesten Wesen der Schöpfung und bekannt unter verschiedenen Namen. Dass auch er mit dem Räderwerk des Schicksals vertraut ist, steht außer Zweifel. Daher ist nicht auszuschließen, dass er mit einem unmittelbaren Angriff auf das Achôn-Tharén rechnete. Vermutlich stand auf Erdos aber seine Selbstüberschätzung einer wirksamen Abwehr im Weg.]
„Du meinst, er könnte auf diese Art versuchen, Zweifel in mir zu säen?“, fragte Thorgren.
„Diese Möglichkeit bestünde, wenn er von dir und deiner Aufgabe wüsste“, antwortete Angulfin.
Es mag wenig überraschen, aber genau das war der Fall, wenn auch nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit Thorgren, denn der Angriff Merowinths im letzten Krieg gegen Kryonos war nicht der erste seiner Art, wenn auch der bis dahin erfolgreichste. Thorgrens Auftrag schloss sich zwar einer ganzen Reihe solcher Ereignisse an, und Kryonos rechnete damit, dass nochmals versucht werden würde, ihn vom Achôn-Tharén zu trennen, aber noch war zu viel in Bewegung, als dass er erkennen konnte, wie, wann und durch wen es geschehen würde. Also konnte er auch noch keine Maßnahmen treffen, um es zu verhindern, wozu wahrscheinlich auch eine Warnung an den vermuteten Angreifer gehören würde. Angulfin wusste um diese Zusammenhänge, und er wusste auch, dass Thorgren mehr darüber erfahren würde, bevor er schließlich in seine letzte Schlacht gegen Kryonos zog, denn ohne dieses Wissen war ihr Ausgang alles andere als vorhersehbar. Aber noch war Thorgren nicht in der Verfassung, diese Zusammenhänge allein durch Worte zu begreifen. Dazu bedurfte es noch einiger Erfahrungen, die in naher Zukunft auf ihn warteten. Aus diesem Grund war Angulfin auch nicht geneigt, Thorgren zu diesem Zeitpunkt mehr über diesen Aspekt seines Lebensweges mitzuteilen, obwohl dieser Traum für den Kundigen bereits gewisse Rückschlüsse zuließ. Die Ursachen dafür lagen aber mehr in der Vergangenheit als in zukünftigen Ereignissen.
„Glaubst du, er weiß es?“, fragte Thorgren.
„Woher sollte er es wissen?“, erwiderte Angulfin, und er war alles andere als zufrieden damit, diese Antwort geben zu müssen. „Kryonos ist zwar ein sehr mächtiges Wesen, besitzt aber keine prophetischen Fähigkeiten, sonst wäre Merowinth kaum nahe genug an den Verlorenen Berg herangekommen, um ihm das Achôn-Tharén abzunehmen. Ich denke, da kannst du ganz beruhigt sein. Dein Traumgesicht, so sehr es deinen Kampf gegen Kryonos zum Inhalt hatte, gründet in der Tatsache, dass er sich zu der entscheidenden Schicksalsfrage deines Lebens entwickelt hat, mit der du dich anscheinend auch noch im Schlaf beschäftigst, glaube ich.“
„Aber wofür stehen der Nebel und die Wächter?“, fragte Thorgren.
„Die Wächter scheinen auf eine Grenze hinzudeuten, oder einen Durchgang, das ist schwer zu sagen“, meinte Angulfin. „Den Nebel würde ich als eine Unsicherheit, einen Mangel an Klarheit, ansehen. Vielleicht infolge deiner Zweifel, wie du die dir gestellte Aufgabe lösen sollst. Vielleicht symbolisiert er aber auch die verschiedenen, zur Zeit noch buchstäblich nebulösen Entwicklungen, die den Verlauf der Zukunft beeinflussen. Auf eines jedenfalls möchte ich wetten: Je näher ihr eurem Ziel kommt, desto mehr wird er sich lichten, da die Zahl der Einflüsse abnehmen wird. Falls sich kurz vor eurem Ziel noch einmal ein solches Gesicht einstellt, wirst du von dem Nebel nichts mehr feststellen können, vermute ich.“
„Das ist nicht unbedingt beruhigend“, fand Thorgren.
„Es würde aber immerhin Klarheit schaffen.“
„Ich habe den Eindruck, dass es zwischen Thorgren und Kryonos zumindest geistige oder schicksalhafte Verbindungen gibt“, warf Zihanor ein, der dem Gespräch stumm gelauscht hatte. „Wenn ich mich richtig erinnere, hattest du mir einmal gesagt, Angulfin, dass es zwischen einem Empfänger einer Vision und deren Gegenstand oft eine, häufig verborgene Beziehung gibt. Weißt du noch? Wir sprachen im Zusammenhang mit den Gesichtern meiner Mutter darüber.“
„Natürlich erinnere ich mich“, meinte Angulfin. „Ich bin auch sicher, dass es hier so ist. Allerdings, verzeiht meine Geheimnistuerei, werde ich mich jetzt dazu nicht äußern. Doch bereite dich auf weitere Offenbarungen zu einem späteren Zeitpunkt vor, Thorgren. Da ist aber noch etwas anderes. Der Sarkophag. Ich deute ihn als die Bindung zur irdischen Welt. Dein Gesicht hat mir gezeigt, dass du dein Ziel nicht erreichen kannst, ohne dich, zumindest teilweise, von ihr zu lösen und dich in deinem Verständnis der Dinge über sie zu erheben. Die Möglichkeit hast du, der Sarkophag ist offen. Du kannst ihn verlassen. Dabei wird dir aber Hilfe zuteil werden. Das Einhorn symbolisiert die unterstützenden Kräfte aus einer ganz besonderen Richtung. In deinem Inneren hast du es erkannt. Es ist gleichzeitig ein ganz besonderes, wirkliches Wesen. Denke an die letzten Tage.“
Angulfin wollte, dass Thorgren selbst auf die Lösung kam. Das war notwendig, um seine Lage zu verstehen.
„Die Erscheinung im Wald“, sagte Thorgren nach einigem Nachdenken. „Die Erscheinung trug einen solchen Edelstein. Wenn du weißt, wer sie ist, und wenn jene Frau in meiner Eingebung als Einhorn auftrat, dann ist jetzt der rechte Zeitpunkt, mir den Namen zu nennen, denke ich.“
„Ja, jetzt ist es so weit“, sagte Angulfin lächelnd. „Sie heißt Liseniél und ist die Königin des Feenreiches. Sie erscheint auserwählten Irdischen als Einhorn oder als weiße Frau und ist unmissverständlich an ihrem blauen Edelstein zu erkennen.“
„Ich nehme an, du hast es die ganze Zeit gewusst“, fragte Zihanor.
„So ist es“, gab Angulfin zu. „Doch ich konnte dieses Geheimnis noch nicht preisgeben. Thorgren war noch nicht so weit. Ich wartete auf ein Ereignis, das mir den rechten Zeitpunkt andeutete. Die wiederholte Vision dieser Nacht war dieses Ereignis, denke ich. Wie konnte ich euch erklären, dass euch auf eurer Fahrt die Hilfe verschiedener Welten zuteil wird, wenn ihr von diesen Dingen noch keine Ahnung hattet? Sein Traumgesicht war für Thorgren ein geradezu gegenständliches Ereignis, vermute ich."
„Es war, als wäre ich tatsächlich ein Teil davon“, meinte Thorgren.
Er atmete tief durch. Einerseits waren die Worte des Magiers Ermutigung und Hoffnung, andererseits hatte er sich die Suche und Aneignung des Achôn-Tharéns weniger – mystisch – vorgestellt. Außerdem konnte er nicht behaupten, dass alles klar geworden war. Er verzichtete aber auf weitere Fragen, um nicht noch mehr in Verwirrung zu geraten. Mit einem Anflug von Galgenhumor stellte er fest, dass es doch schwerer war, ein Held zu werden, der in die Legenden und Lieder einging, als er es sich vorgestellt hatte.
Thorgren verließ die Trollhöhle. Er hoffte, die frische Morgenluft werde ihm helfen, seine Gedanken zu ordnen. Vor dem Eingang empfingen ihn die warmen Strahlen Pelins und noch einmal atmete er tief durch. Thorgren blickte zum entgegengesetzten Horizont und beobachtete, wie sich Astur langsam in den Himmel erhob. Die anderen waren Thorgren ebenfalls nach draußen gefolgt und betrachteten wortlos das Naturschauspiel.
„Ich habe eine Entscheidung getroffen“, sagte Thorgren unerwartet zu seinen Freunden. „Falls Melbart heute nicht auftaucht, dann werde ich morgen ohne die anderen in die Schwarzen Sümpfe aufbrechen. Ich weiß zwar nicht, was sie dann aufgehalten haben kann, doch ich spüre, dass wir nicht viel Zeit haben. Ihr müsstet dann hier bleiben und zunächst auf die andere Gruppe und anschließend auf mich warten, bis ich hierher zurückkehre.“
„Wir werden zu Branwyn gehen“, meinte Zihanor entschlossen. „Oder wolltest du die Ehre, sie zu treffen, für dich allein in Anspruch nehmen? Außerdem fürchte ich, dass du es allein nicht schaffen wirst, nach den Erfahrungen des letzten Abends. Du würdest dich wahrscheinlich hoffnungslos verirren.“
Thorgren lächelte und schüttelte fast verzweifelt den Kopf. Zihanor hatte natürlich übertrieben, das wussten sie alle. Doch seit dem Beginn ihrer Reise hatte sich zwischen Thorgren und ihm bereits eine enge Freundschaft entwickelt, und jeder wusste, er konnte sich auf den anderen verlassen, auch wenn sie sich gelegentlich gern einmal gegenseitig auf den Arm nahmen. Deshalb hatte Thorgren auch mit Zihanors Einwand gerechnet. Zihanor würde ihn nicht allein gehen lassen. Aber nicht nur aus freundschaftlichen Erwägungen, sondern auch, weil er sich von den Sümpfen das eine oder andere Abenteuer versprach. Er würde sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Thorgren wusste, sein Freund würde es ihm schwerlich verzeihen, wenn er ihn nach einem so weiten Weg bei einer trostlosen Höhle zurückließ, nur um den anderen mitzuteilen, dass er schon wieder weitergezogen war.
„Und ihr glaubt wirklich, ich würde euch allein gehen lassen?“, warf Angulfin ein. „Die Sümpfe sind gefährlich in mancherlei Hinsicht. Und da Melbart von diesem Treffpunkt hier weiß, wird es genügen, wenn wir ihm eine Nachricht hinterlassen. Niemand braucht hier zu warten. Aber ich bin sicher, dass sie rechtzeitig hier sein werden. Macht euch keine Sorgen. Wenn ich eine Prophezeiung wagen darf, dann die, dass wir unser nächstes Nachtlager am Rand der Schwarzen Sümpfe aufschlagen werden – gemeinsam!“
„Na, wir werden sehen“, meinte Thorgren wenig überzeugt.
„Hast du eine Vorstellung, was du überhaupt bei der Seherin sollst?“, fragte Zihanor, der bisher nur das nächste Ziel ihrer Fahrt kannte, aber nicht den Grund dafür.
Thorgren zuckte mit den Schultern.
„Nein, das ist es ja, was mich beschäftigt“, gab er zu. „Die einzige Mitteilung bisher war die Aufforderung des Geistes von König Nigall, sie aufzusuchen.“
„Aha“, gab Zihanor zurück, auch nicht klüger als vorher. „Doch vielleicht weiß Angulfin etwas?“
„Ich?“, tat der Magier erstaunt. „Nein, dieses Mal verheimliche ich euch wirklich nichts. Ich rate euch nur, euch in Geduld zu üben. Es wird euch sicher zu gegebener Zeit mitgeteilt werden.“
Zihanor hatte einige Fragen zu Branwyn, doch Thorgren konnte sie nicht beantworten, und bei Angulfins ausweichenden Antworten hatte er den Eindruck, als wollte der Magier doch einiges verheimlichen. Schließlich gab er es auf. Er hoffte nur, dass Angulfin Recht hatte: Was wichtig war, würden sie noch rechtzeitig erfahren.
Bis zum Mittag vertrieb sich jeder die Zeit nach Belieben. Thorgren saß unter einer nahen Baumgruppe und dachte nach. Seine innere Unruhe hatte sich wieder etwas gelegt, war aber nicht völlig verschwunden. Zihanor nahm an, sein Freund wollte sich geistig auf die kommende Wanderung durch die Sümpfe vorbereiten. Er selbst hatte sich eine Angel gebaut und war zum Fluss gegangen, um zu fischen. Für die Angelschnur hatte sein Pferd ein paar Haare seines Schweifes opfern müssen, was es aber in bewundernswerter Geduld über sich hatte ergehen lassen. Angulfin war verschwunden. Er hatte sein Pferd gesattelt und war davongeritten, ohne seinen Gefährten wieder einmal zu sagen, was er vorhatte.
Am späten Vormittag kam Zihanor mit zufriedenem Gesicht und drei großen Fischen zur Höhle zurück. Er hatte sie gerade zubereitet, das Feuer neu entfacht und die Tiere auf Spieße darüber gehängt, um sie zu braten, als Thorgren hereinkam und ihm mitteilte, dass sich Angulfin in Begleitung einer größeren Anzahl von Reitern mit Packpferden ihrem Lagerplatz näherte. Zihanor vergaß fürs Erste die Fische und trat vor den Eingang. Die Gruppe hatte die Höhle fast erreicht, und er erkannte Melbart neben Angulfin. Also waren die anderen doch noch rechtzeitig erschienen.
„Oje, für so viele wird der Fisch ja nie reichen“, stellte er murmelnd fest.
Es waren sieben Reiter mit fünf Packpferden. Zwei Dinge fielen Zihanor sofort auf. Das Erste war eins der Packpferde, das ihm für diese Aufgabe viel zu edel erschien. Dann gewahrte er die Frau, die dieses Pferd mit einer langen Leine an dem ihren befestigt hatte. Doch obwohl er zunächst auf das Pferd und dann erst auf sie geachtet hatte, erschien sie ihm überaus reizvoll.
Überhaupt war die Gruppe ein recht bunter Haufen. Neben Melbart erkannte er einen Elfen. Das musste Ken´ir sein, von dem Angulfin gesprochen hatte. Desweiteren kamen da drei sehr große Krieger, die zwar wie Seenländer aussahen, aber eindeutig elfische Züge trugen. Er war sicher, dass die Frau mit ihrer außergewöhnlichen Wuchshöhe, aber dennoch zarten Erscheinung, ebenfalls zu diesem Volk gehörte. Und wenn sie keine Seenländer waren, mussten es Namurer sein. Der siebte Reiter war eindeutig ein Seenländer. Er war etwas kleiner als die Namurer, aber auch von kräftiger Gestalt. Sein Gesicht verriet ein entschlossenes Wesen.
„Habe ich euch nicht gesagt, sie werden rechtzeitig hier sein?“, sagte Angulfin triumphierend zu den beiden vor der Höhle wartenden Freunde.
Er sprang drahtig vom Pferd. Wieder eine Bewegung, die ihm keiner zugetraut hätte, der ihn nicht kannte. Auch die anderen waren nun abgestiegen.
„Ich darf euch zuerst meine beiden Begleiter vorstellen“, sagte Angulfin zu den Neuankömmlingen. „Das hier ist Thorgren. Ich denke, ich brauche euch nicht weiter zu erklären, um wen es sich handelt. Seinetwegen seid ihr ja schließlich alle hier. Und neben ihm steht Zihanor, der Sohn König Zethimers, des Herrschers über das Land-Der-Vielen-Feuer. König Zethimer hielt es für angebracht, mit seiner Teilnahme ebenfalls einen Beitrag zum Erfolg unseres kleinen Unternehmens beizusteuern.“
Cai, der die Vorbehalte vieler seiner Landsleute gegenüber den Lysidiern teilte, musterte Zihanor argwöhnisch, enthielt sich aber jeglicher Äußerung über dessen Herkunft und spottete nicht über Zihanors Bartlosigkeit, von der er wusste, dass sie nicht üblich war. Umso freudiger begrüßte er Thorgren, den er von Thorafjord her kannte.
„Wie ihr seht, bringe ich euch den anderen Teil eurer Gruppe“, sagte Melbart.
Ihm war bereits der fragende Blick Thorgrens aufgefallen, als er die Frau musterte. Er schien nicht völlig einverstanden mit ihrer Teilnahme zu sein. Natürlich wusste er noch nicht, wie es überhaupt dazu gekommen war, sonst wäre ihm bekannt gewesen, dass es zum Zeitpunkt des Aufbruches von Weißanger einigen anderen nicht anders ergangen wäre.
„Thorgren, ich sehe deinen vorbehaltvollen Blick auf die Fürstin Adhasil. Doch du solltest sie nicht unterschätzen. Sie hat sich als tapfere und einfallsreiche Kriegerin erwiesen und steht ihren männlichen Gefährten in nichts nach. In mancher Beziehung hat sie bisher sogar mehr Mut bewiesen, als es manch ein Mann getan hätte.“
Das Pferd neben der Fürstin wieherte und nickte heftig. Es war das Packpferd, von dem Zihanor so viel hielt. Es hatte sich unauffällig neben Adhasil gestellt und mit aufgestellten Ohren der Rede Melbarts gelauscht. Zihanors Blick hatte bis dahin auf Adhasil gelegen. Erst die Bewegung des Pferdes hatte ihn abgelenkt. Bevor er sich dem Magier zuwandte, hatte er den Eindruck, das Tier verzog sein Maul zu einem Lächeln. Himmel, jetzt grinst das Pferd auch noch, dachte er bei sich und wandte verlegen seinen Blick ab.
Noch in Gedanken über diese Beobachtung hörte er im Hintergrund die Namen der anderen Teilnehmer: Cai Grevenworth, Rittmeister König Harismunds; Ken´ir, Abgesandter der Valedrim-Elfen; Angholt, der Sohn von König Wechis, Fürst Hagil und Urth vom Eschenbach, Hauptmann der Wache Fürst Thorgasmunds.
Noch ein Königssohn, dachte Zihanor innerlich schmunzelnd, als wäre einer nicht schon genug. Dann betrachtete er Ken´ir, den Elfen, von dem ihm Angulfin bereits einiges erzählt hatte. Offensichtlich tat er es derartig auffällig, dass der Elf ihn plötzlich mit einem so durchdringenden Blick ansah, dass Zihanor etwas unsicher wegschaute. Das kurze Lächeln Ken´irs entging ihm.
Zihanor, der gleich am Höhleneingang stand, bemerkte mit einem Mal einen seltsam angebrannten Geruch. Der Fisch, durchzuckte es ihn. Eilig ging er wieder in die Höhle und je tiefer er hineinkam, desto sicherer wurde er, dass sich die ehemaligen Leckerbissen in etwas vollkommen Ungenießbares verwandelt hatte. Als sich seine Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten, sah er das Malheur. In der Glut des Feuers vergingen gerade die letzten Reste des Mittagessens.
Hinter sich hörte er Schritte. Thorgren war ihm gefolgt, weil Zihanor so schnell verschwunden war, dass er sich darüber gewundert hatte. Zihanor hörte sein Lachen.
„Du magst ja ein guter Jäger und Angler sein“, feixte er, „aber was das Kochen angeht, wirst du noch ein wenig üben müssen. Doch ärgere dich nicht. Wir haben sowieso keine Zeit mehr für eine Mahlzeit. Eben ist der Entschluss gefallen, sofort zu den Schwarzen Sümpfen aufzubrechen.“
Bedauernd starrte Zihanor noch kurz auf das Lagerfeuer. Dann schob er mit seinen Stiefeln so viel lose Erde in die Glut, dass sie nicht mehr zu sehen war. Sie sammelten ihre Sachen zusammen und verließen die Höhle. Zihanor warf einen letzten Blick auf den versteinerten Troll. Eigentlich war es seltsam, dass er in einer Ebene lebte. Doch wer wusste schon, welches ungewöhnliche Schicksal ihn dorthin verschlagen hatte. So manch ein Schicksal erschien vordergründig rätselhaft. Während er die Höhle verließ, überlegte er, ob der Troll nicht gut in die heimische Trophäensammlung passte. Wer konnte eine solche Trophäe schon sein eigen nennen? Da ließe sich auch sicher eine spannende Geschichte über den heldenhaften Kampf, bei dem er sie errungen hatte, erfinden. Vielleicht später, dachte Zihanor.
Er trat vor den Eingang und schloss kurz geblendet die Augen. Dann wandte er sich seinem Pferd zu. Einen Augenblick lang spürte Zihanor hinterrücks einen Blick auf sich ruhen, während er sein Pferd bepackte. Als er sich umdrehte, stand an nächster Stelle die Fürstin Adhasil, die geschäftig den Sitz ihres Gepäcks überprüfte. Ihr Packpferd zwinkerte ihm zu. Etwas verwirrt nahm er sein Pferd an die Zügel und führte es einige Schritte aus der Gruppe hinaus, wo er dann wartete, bis alle abreisefertig waren. Diese Geste des Pferdes der Fürstin konnte nur eine Täuschung sein.
Auf den Befehl Melbarts begannen sie ihren Ritt zu den Schwarzen Sümpfen – und in ein Abenteuer, wie es schon lange niemand mehr auf Erdos erlebt hatte.
Von den Stromschnellen war es nur noch ein halber Tagesritt bis zum Rand der Sümpfe. Unterwegs wurde wenig gesprochen. Auch Zihanor unterdrückte sein Interesse an Ken´ir und den Elfen. Zwar hatte er Kerin´har ebenso wenig gekannt wie Ken´ir, doch mit dem Letzteren würde er länger zusammen sein. Daher war noch genügend Zeit, seine Neugierde zu befriedigen.
Bei Einbruch der Dämmerung erreichten die nunmehr zehn Weggenossen nach einem schnellen, ereignislosen Ritt das Dagau-Delta. Hier ergoss sich der Fluss in die Schwarzen Sümpfe. Damit waren sie für diesen Tag an ihrem Ziel angelangt und richteten sich für die erste gemeinsame Nacht ein. Angulfin hatte Recht behalten.