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Die politische Relevanz der Matriarchatsforschung

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Indem ich kritische Analyse und kulturvergleichende Forschung miteinander verband, entdeckte ich ein vollständiges Bild der Struktur matriarchaler Gesellschaften, eine Aufgabe, der ich mich viele Jahre widmete. Meine geistige Reise führte mich auf verschiedene Kontinente, und die dort lebenden matriarchalen Gesellschaften und Kulturen wurden meine wahren Lehrerinnen. Ich zog nicht nur die westliche Literatur über sie heran – die man nur mit kritischem Blick hinsichtlich ihrer patriarchalen Ideologie lesen kann – sondern unternahm auch eine Forschungsreise zu den matriarchalen Mosuo in Südwestchina. Aufgrund ihrer Einladung reiste ich mit einem Team von Mitarbeiterinnen dorthin, denn es kam mir nicht in den Sinn, uneingeladen indigene Völker aufzusuchen und sie zusätzlich zu den vielen politischen Problemen, die sie zu lösen haben, noch mit meiner Gegenwart zu belasten. Die Mosuo wünschten ausdrücklich, dass ich über sie schreibe, denn sie betrachten jede seriöse und verständnisvolle Publikation als einen Baustein in ihrem Kampf um Anerkennung ihrer Kultur im gegenwärtigen China.5 Die Begegnungen mit den Mosuo und mit vielen Gewährspersonen aus matriarchalen Kulturen bei anderen Gelegenheiten ließen mein Wissen wachsen und veränderten mein Denken tiefgreifend. Damit veränderte sich schrittweise auch mein Leben.

Zugleich wurde mir immer deutlicher bewusst, wie wenig ich als Außenstehende eigentlich über ihre Kultur wissen kann. Dies bewahrte mich davor zu meinen, dass meine Ergebnisse anstelle von indigenen Völkern sprechen könnten, noch würde ich beanspruchen, dass meine Analyse der Tiefenstruktur der matriarchalen Gesellschaftsform auch nur eine dieser Gesellschaften vollständig in allen Einzelheiten darstellen könnte. Auch behaupte ich nicht, sämtliche Formen indigener Gesellschaften erfasst zu haben, sondern ich beziehe mich nur auf die matriarchal-indigenen. Solche Aufgaben könnten nur durch viele Jahre ethnografischer Feldarbeit in vielen Weltgegenden erfüllt werden, und das geschieht am besten durch indigene Forscher und Forscherinnen selbst über ihre eigenen Gesellschaften. Glücklicherweise gibt es heute immer mehr indigene Wissenschaftler/innen, die ihre eigenen Gesellschaften untersuchen und dabei berechtigte Kritik an der verzerrenden und abwertenden Art üben, wie ihre Kulturen in der patriarchal-kolonialistisch geprägten Ethnologie dargestellt wurden. Zugleich setzen sie ihre Kenntnis für eine Bewahrung und Rehabilitation ihrer Kulturen ein und für ihren politischen Kampf um Selbstbestimmung.6

Meine Arbeit hier ist eine andere: Es geht darum einen theoretischen Rahmen zu schaffen, um den Typus der matriarchalen Gesellschaft überhaupt zu erkennen und angemessen darstellen zu können. Ohne einen solchen theoretischen Rahmen würden wir in dieser Hinsicht blind bleiben, wie es in den patriarchal geprägten sozio-kulturellen Wissenschaften bis heute geschieht. Diese besondere Gesellschaftsform wird oft als »matrilinear«, »matrifokal«, »matristisch« oder »gylanisch« bezeichnet, womit statt einer klaren Definition von »matriarchal« – die allgemein in der Forschungsgeschichte zu diesem Thema fehlt, was viel Verwirrung stiftet – lediglich schwächere Ersatzbegriffe erfunden werden, die willkürlich und unangemessen sind. Dabei werden zwar Auflistungen von einzelnen Elementen dieser Gesellschaftsform gegeben, doch es fehlt der innere Zusammenhang und das Verstehen dieses Typs von Gesellschaft als ganzer. Demgegenüber habe ich mich der Aufgabe gewidmet, die Tiefenstruktur dieser Gesellschaftsform herauszufinden, und dafür muss ich einige indigene Gesellschaften dieses Typs im Wesentlichen verstehen können. Aber ich muss sie weder vollständig noch in allen Einzelheiten erfassen und beschreiben, was – wie schon gesagt – mir als Europäerin letztlich nicht möglich ist.

Diese Aufgabe hat gleichzeitig politische Relevanz. Denn sie besitzt Überschneidungen mit den politischen Intentionen verschiedener alternativer Bewegungen, die für Selbstbestimmung kämpfen. Es besteht eine wichtige Überschneidung der modernen Matriarchatsforschung mit dem westlichen Feminismus, soweit er Kritik an der inneren Kolonisierung von Frauen durch das westliche Patriarchat übt, das Frauen als den »Anderen« nur einen Objektstatus zuweist. Im Feminismus werden Frauen hingegen als handelnde Subjekte in Gesellschaft und Geschichte gesehen und ihre Selbstbestimmung gefördert – eine Position, die für die moderne Matriarchatsforschung wesentlich ist.

Aber gibt es nicht nur ein westliches Patriarchat europäisch-amerikanischer Prägung, sondern auch ein östliches Patriarchat islamischer oder chinesischer Prägung, ebenso ein südliches Patriarchat indischer oder afrikanischer Prägung, und so weiter auf allen Kontinenten. Daraus ergeben sich erhebliche Verschiedenheiten im internationalen feministischen Kampf für die Selbstbestimmung der Frauen. Doch es gibt ähnliche Prinzipien, nach denen Frauen heute überall von verschiedenen patriarchalen Eliten unterdrückt werden. Das verschärft sich noch, wenn diese herrschenden regionalen Eliten im Lauf der jüngeren Geschichte vom westlichen, globalen Patriarchat überlagert oder beeinflusst wurden und werden. Daraus ergeben sich zahlreiche weitere Überschneidungen der modernen Matriarchatsforschung mit den verschiedenen Formen von Feminismus auf anderen Kontinenten. Denn sie zeigt Patriarchalisierungsprozesse nicht nur in Europa auf, sondern auch in den anderen Kontinenten.

Wie das im Einzelnen vor sich gegangen ist, können die Forscherinnen in anderen Weltgegenden wiederum am besten selbst bei der Analyse der Geschichte ihrer konkreten Gesellschaften herausfinden. Deshalb sind Aussagen über geschichtliche Vorgänge bei anderen Völkern, die ich mache, nur als Anregungen zu verstehen, die darauf hinweisen sollen, dass die moderne Matriarchatsforschung für solche neuen und tiefgreifenden Analysen der Geschichte einen Rahmen bereitstellt. Bei meinen geschichtlichen Hinweisen nehme ich die mündlichen Traditionen der entsprechenden Völker – soweit ich etwas darüber wissen kann – ebenso ernst wie die schriftlichen und archäologischen Zeugnisse.

Nun sind es heute im westlichen Patriarchat nicht nur Frauen, die sich gegen die zunehmende Gewalt und Militarisierung der europäischen und US-amerikanischen Gesellschaften zur Wehr setzen, sondern auch viele westliche Männer. Denn es sind Frauen und Kinder, aber auch die meisten Männer von den repressiven, ausbeuterischen Strukturen des Patriarchats betroffen, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Das gilt gleichermaßen für die diversen anderen Patriarchate in der Welt, sei es im Osten oder im Süden. In zahlreichen internationalen Bewegungen kämpfen Männer auf allen Kontinenten deshalb für eine grundsätzliche Veränderung dieser Situation und für eine bessere Gesellschaft, wobei ihre Kämpfe ebenfalls eine große Verschiedenheit zeigen.

Sofern sie dabei die Erkenntnis haben, dass ihr Kampf sich nicht nur gegen kolonialistische und kapitalistische Strukturen richtet, sondern auch gegen mehrtausendjährige oder jüngere Formen des Patriarchats, gibt es auch eine bedeutende Überschneidung von ihren diversen alternativen Bewegungen mit der modernen Matriarchatsforschung. Ist diese Erkenntnis bei alternativen Männern jedoch nicht vorhanden, so lässt ihr Befreiungskampf eine entscheidende Tatsache aus oder degradiert sie zur Nebensache, und er wird an der Geschlechterfrage scheitern – wie schon oft zu beobachten war. Wenn dagegen Kolonialismus gleich welcher Provenienz als kolonialistisches Patriarchat und Kapitalismus als kapitalistisches Patriarchat und die derzeitige Art von Globalisierung als globalisiertes Patriarchat verstanden werden, dann bekommt dieser Kampf eine größere gesellschaftliche und geschichtliche Tiefe. Dann weist er Übereinstimmungen mit dem feministischen Kampf der Frauen um Selbstbestimmung auf. Die moderne Matriarchatsforschung wird dann als das erscheinen, was sie tatsächlich ist, nämlich als eine kritische und emanzipatorische Gesellschaftsforschung in erster Linie von Frauen, doch nicht nur für Frauen, sondern für alle Menschen.

Sie kann ebenfalls eine wichtige Unterstützung für den Kampf indigener Völker für ihre kulturelle Identität sein. Die indigenen Gesellschaften auf allen Kontinenten werden von den verschiedenen, herrschenden patriarchalen Eliten durch den äußeren Kolonialismus unterdrückt und sind in etlichen Fällen in Gefahr zerstört zu werden. Sie kritisieren und bekämpfen den Kolonialismus, und bei ihrem Kampf um Selbstbestimmung kommt es auch darauf an zu erkennen, dass dieser ein Teil des Patriarchats ist. Besonders krass tritt dies hervor, wenn es sich um die letzten, noch existierenden matriarchalen Kulturen handelt, weil der Kolonialismus hier zusätzlich mit Sexismus verbunden ist, was einen doppelten Druck für sie bedeutet. Genauso wie es im Denken des sexistischen Patriarchats die Frau nicht gibt, gibt es auch keine matriarchalen Gesellschaften – weil es sie nicht geben darf! Deshalb wurde bei der patriarchalen Kolonisierung indigener Gesellschaften die Bedeutung der Frauen allgemein missachtet und zum Verschwinden gebracht, was sich im Fall von indigenen matriarchalen Gesellschaften besonders verheerend ausgewirkt hat und noch auswirkt. Bei indigenen Gesellschaften mit patriarchalen Mustern würde das allerdings bedeuten, zum kolonialistischen Sexismus von außen auch den eigenen Sexismus nach innen kritisch wahrzunehmen und aufzulösen.

In vielen Fällen verschärft sich das Problem für indigene, matriarchal lebende Völker noch dadurch, dass ihnen das Besondere ihrer Gesellschaftsform selbst nicht bewusst ist – sie haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keinen Begriff dafür. Sie betrachten ihre Gesellschaft üblicherweise als die Summe ihrer je eigenen Traditionen, die einen lokalen Namen oder gar keinen hat. Dieses Namenlose droht in der Gegenwart verloren zu gehen, wenn keine Bewusstheit für das Besondere dieser Kulturen hinzutritt, das weltweit war und sogar noch ist und das gerade in der heutigen patriarchalen Gegenwart eine so große Bedeutung hat.

Hier ist indigene Forschung über die eigene Gesellschaft äußerst wichtig, und diese besitzt wesentliche Überschneidungen mit der modernen Matriarchatsforschung. Die Tiefenstruktur der matriarchalen Gesellschaft kann hier die Erkenntnis vermitteln, dass diese besondere Gesellschaftsform noch heute in allen Kontinenten existiert und eine lange, weltweite Geschichte hat – viel länger als die patriarchale Gesellschaftsform. Matriarchale Gesellschaften stehen also keineswegs als vereinzelte, »exotische« Fälle da, sondern haben einmal größte Allgemeinheit besessen. Das würde die Traditionen einzelner matriarchaler Gesellschaften in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen, es würde ihre Ähnlichkeiten zeigen und sie sehr bestärken. Diese Erkenntnisse können matriarchale Völker im Kampf um ihre kulturelle Identität unterstützen und ihre weltweite Vernetzung untereinander fördern – und das ist keine geringe Sache.

Diese vielfältigen Überschneidungen deuten die vielfältigen Möglichkeiten an, die moderne Matriarchatsforschung zu gebrauchen. Da sie eine grundsätzlich kritische und emanzipatorische Forschung ist, kann sie ein respektvolles, heilendes und erzieherisches Potential entfalten. Auf diese Weise trägt sie dazu bei, feministische Frauen und alternative Männer in westlichen Gesellschaften und indigene Völker in allen Kontinenten zu ermächtigen, um weite und wirksame politische Bündnisse miteinander gegen die regionalen und globalen patriarchalen Eliten zu bilden.

Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart

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