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Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie
ОглавлениеDie wenigen Hinweise zur politischen Relevanz der modernen Matriarchatsforschung zeigen, wie praktisch eine gute Theorie sein kann. Doch das gilt nicht nur für das gesellschaftliche Leben, sondern auch für die geistige Arbeit. Das möchte ich im Folgenden skizzieren.
Die moderne Matriarchatsforschung ist während der letzten Jahrzehnte entstanden und macht heute schnelle Fortschritte. Als emanzipatorische Forschung kommt es bei ihr auf den Prozess ebenso an wie auf die Resultate. Diesen Prozess stelle ich hier kurz dar und schließe dabei theoretische Überlegungen ein. Klar formulierte, konsistente Theorien sind ein äußerst effizientes wissenschaftliches Werkzeug, das von allen daran interessierten Forscherinnen und Forschern weiterverwendet werden kann. Denn auch hier gilt: Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie!
Durch langjährige, vorbereitende Arbeit habe ich der modernen Matriarchatsforschung ein starkes Fundament gegeben, das auf wissenschaftstheoretischen Prinzipien beruht und ihr erlaubt, sich als eine neue sozio-kulturelle Wissenschaft zu entfalten. Dieses Fundament enthält:
• erstens die Formulierung einer zunehmend genaueren Definition von »Matriarchat«, welche die Tiefenstruktur dieser Gesellschaftsform wiedergibt;
• zweitens die Entwicklung einer Methodologie, die ihr Untersuchungsgebiet: matriarchale Gesellschaftsform, angemessen analysieren kann;
• drittens die Entwicklung eines theoretischen Rahmens, der die enorme geschichtliche und geographische Reichweite der matriarchalen Gesellschaftsform systematisch umfassen kann.
Den ersten Entwurf der modernen Matriarchatsforschung schrieb ich 1978 nieder, in dem ich einen theoretischen Rahmen und eine Methodologie der Matriarchatsforschung vorstellte, wobei Ideologiekritik als eine wesentliche Methode einbezogen ist.7 Von Anfang an erkannte ich, dass es entscheidend ist, den Begriff »Matriarchat« neu zu definieren. Denn es gab bis dahin keine Klarheit zu diesem Begriff. In voller Absicht wählte ich keinen Ersatzbegriff, denn diejenigen, die ich kannte, waren ebenso unklar oder gar nicht definiert.8 Also formulierte ich eine erste, noch sehr vereinfachende Definition von »Matriarchat«, die sich jedoch klar auf die gesamte Gesellschaftsform mit ihren sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Mustern bezieht – und nicht nur auf das eine oder andere.
In meinem ersten Buch Die Göttin und ihr Heros arbeitete ich zunächst einige Muster auf der kulturellen Ebene aus, die sich auf das matriarchale Weltbild beziehen.9 Darin wird eine Methode der vergleichenden Mythenforschung entwickelt, die eine differenzierte Struktur matriarchaler Mythologie sichtbar werden lässt und ihre Transformationen in den verschiedenen Phasen der Patriarchalisierung zeigt. Damit stellte ich Mythen aus dem kulturellen Raum von Indien bis Europa in ihren kulturgeschichtlichen Kontext mit seinen deutlich unterscheidbaren Phasen zurück. Dadurch erhält eine strukturelle Betrachtung überhaupt erst historische Tiefe und Dynamik.
Als nächsten Schritt arbeitete ich in meiner Reihe »Das Matriarchat« (1988, 1991, 2000) die Strukturmuster der matriarchalen Gesellschaftsform auf der sozialen, politischen und ökonomischen Ebene aus und erweiterte sie auf der kulturellen Ebene.10 Da dies nicht allein durch die Analyse von Mythologie möglich ist, wandte ich mich der Ethnologie zu und fand diese Muster Schritt für Schritt an den heute noch existierenden, matriarchalen Gesellschaften weltweit heraus.
Auf diese Weise gewann ich die detaillierte und reiche Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform auf allen ihren Ebenen. Sie ist der gemeinsame, wenn auch komplexe Nenner von allen diesen Gesellschaften und stellt damit die explizite und systematische Definition von »Matriarchat« dar. Ihr Vorzug ist, dass sie nicht abstrakt vorausgesetzt und damit in dieses Forschungsfeld hineinprojiziert wurde, sondern dass sie induktiv aus einer analytischen Betrachtung dieser Gesellschaften entwickelt wurde. Ich nenne diese Definition eine »strukturelle Definition«, denn sie gibt die Tiefenstruktur der matriarchalen Gesellschaftsform wieder.
Hier in äußerster begrifflicher Kürze zusammengefasst, besagt diese strukturelle Definition, dass die matriarchale Gesellschaftsform
• ökonomisch auf einer Ausgleichsgesellschaft beruht, in der Frauen die Güter verteilen und ständig für ökonomischen Ausgleich sorgen; diese Ökonomie hat die Eigenschaften einer »Ökonomie des Schenkens«;11
• sozial auf einer matrilinearen Verwandtschaftsgesellschaft beruht, deren Hauptzüge Matrilinearität und Matrilokalität bei gleichzeitiger Geschlechter-Egalität sind;
• politisch auf einer Konsensgesellschaft beruht, mit den Clanhäusern als realpolitischer Basis und einem Delegiertenwesen der Männer; das bringt nicht nur eine geschlechter-egalitäre, sondern eine insgesamt egalitäre Gesellschaft hervor;
• kulturell auf einer sakralen Kultur beruht, in der das Weiblich-Göttliche das Weltbild prägt.