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Das matriarchale Paradigma

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Eine Theorie zu entwickeln und sie eine »paradigmatische Theorie« oder ein »Paradigma« zu nennen meint nicht, eine universalistische Theorie anzustreben, sondern es bedeutet einen vollständigen Wechsel der Perspektive. Ein solcher Perspektivewechsel ist die sich entwickelnde Matriarchatstheorie ohne Zweifel, weshalb ich sie als ein Paradigma bezeichne. Eine universalistische Theorie ist sie nicht, weil sie kein geschlossenes System darstellt und keine inhaltlich universellen Aussagen aufstellt. Das heißt, es werden keine Annahmen über universelle Gleichheit von Frauen gemacht. Dasselbe gilt für matriarchale Kulturen, denn trotz gleicher Grundeigenschaften wird ebenso ihre konkrete Verschiedenartigkeit betont. Es wird auch keine Gleichheit der patriarchalen Unterdrückungsformen im konkreten Einzelfall behauptet. Allerdings ist heute die Unterdrückung durch patriarchale Eliten weltweit geworden, welche die meisten Menschen gemeinsam betrifft, aber darauf gibt es heute auch verschiedene Antworten.

Universalistische Theorien waren in der traditionellen, patriarchalen Philosophie üblich, und sie hatten in der Regel normativen Charakter. Wenn sie dann zu evolutionistischen Geschichts- oder Sozialtheorien ausgebaut wurden, traten die stillschweigend vorausgesetzten, patriarchalen Wertvorstellungen hervor, die das Bild anderer Gesellschaften und früherer Kulturen weitgehend verzerrt haben. Das kennzeichnet sie gegenüber zeitlich vorhergegangenen Kulturen als überheblich und gegenüber gegenwärtigen indigenen Kulturen als kolonialistisch und rassistisch.

Die hier formulierte Matriarchatstheorie ist ein theoretischer Rahmen, der von verschiedenen Forschern und Forscherinnen für ihre eigenen Untersuchungen aufgenommen and weiterentwickelt werden kann. Diese Dynamik ist typisch für ein neues Paradigma. Obwohl ich etliche matriarchale Gesellschaften der Gegenwart aus verschiedenen Kontinenten selbst analysiere und darstelle, zeigt schon die Kürze, in der sie in diesem theoretischen Rahmen vorkommen, dass die Untersuchungen nicht abgeschlossenen sind. Bei meinen Analysen geht es darum, die Grundstruktur herauszuarbeiten, um die strukturelle Definition der matriarchalen Gesellschaftsform Schritt für Schritt daraus zu entwickeln. Doch der theoretische Rahmen ist damit keineswegs schon gefüllt, sondern es öffnet sich eine Vielfalt neuer Aufgaben. Denn die Entwicklung einer neuen Wissenschaft überschreitet eine einzelne Person bei weitem. Fortführende Forschungen werden die Reichweite dieses neuen Wissensgebiets zunehmend sichtbar werden lassen. Genau das ist die Art und Weise, wie die Dynamik eines neuen Paradigmas funktioniert und neue Resultate hervorbringt.

Ich erhebe auch nicht den Anspruch, sämtliche heute noch existierenden matriarchalen Gesellschaften erfasst zu haben. Paradigmatische Theorien müssen in ihrem Anfangsstadium solche Lücken lassen. Es ist nicht die Aufgabe eines Paradigmas, ein Lexikon zu sein. Seine Leistung ist, aus ganz anderer Perspektive einen viel mehr umfassenden Erklärungszusammenhang herzustellen als bisher bekannt.

Die Reichweite des Matriarchats-Paradigmas ist enorm. Es umfasst nicht nur die gesamte bisher bekannte sozio-kulturelle Geschichte, sondern – gerade durch die Patriarchatskritik – auch die verschiedenen Gesellschaftsformen der Gegenwart. Außerdem betrifft es auch die Inhalte aller Kultur- und Sozialwissenschaften, wie sie bisher unter Auslassung des mariarchalen Modells formuliert worden sind, eine Tatsache, die sie beträchtlich verengt hat.

An verschiedenen Stellen habe ich die Reichweite des Matriarchats-Paradigmas logisch geordnet dargestellt.15 Hier sei sie nochmals skizziert:

Im ersten Schritt der Entwicklung der Matriarchatstheorie muss eine Übersicht über die bisherige, traditionelle, in der Regel von Männern gemachte Matriarchatsforschung gegeben werden, wobei diese kritisch zu hinterfragen ist (in diesem Buch in Kapitel 1 zusammengefasst).16 Beim Blick auf diese Forschungsgeschichte tritt der Mangel an einer klaren und vollständigen Definition von »Matriarchat« krass hervor. Darüber hinaus wird in solchen älteren und auch zeitgenössischen Schriften zum Thema Matriarchat der massive Anteil an patriarchaler Ideologie offensichtlich.

Im zweiten Schritt der Entwicklung der Matriarchatstheorie muss eine vollständige strukturelle Definition von »Matriarchat« formuliert werden. Das ist der systematische Platz meiner ethnologischen Forschung, deren erster Teil in diesem Buch präsentiert wird und der zweite Teil in einem Folgeband. Der methodische Grund ist, dass wir aus der Kulturgeschichte allein eine vollständige Definition von »Matriarchat« nicht gewinnen können. Diese Geschichte beruht nur auf Überresten und Fragmenten früherer Gesellschaften, was für ein umfassendes Bild nicht ausreicht. Zweifellos kann es zahlreiche Fragmente geben und sie sind sehr wichtig, aber sie können uns nur verstreute Informationen geben, so dass wir nicht wissen können, wie diese Gesellschaften insgesamt organisiert waren. Daher müssen wir für die vollständige Definition von »Matriarchat« noch lebende matriarchale Gesellschaften untersuchen.17

Im dritten Schritt wird die so gewonnene strukturelle Definition von »Matriarchat« als ein wissenschaftliches Werkzeug angewendet, um eine Revision der menschlichen Kulturgeschichte vorzunehmen. Diese Kulturgeschichte ist viel länger als die fünf oder sechs Jahrtausende patriarchaler Muster in der Geschichte. Während der längsten Zeit der Kulturgeschichte existierten nicht-patriarchale Gesellschaften, in denen Frauen die Praktiken, Institutionen und Strukturen schufen, die Kultur ausmachen, und während der sie im Zentrum der Gesellschaft standen mit der Fähigkeit, alle anderen Mitglieder zu integrieren. Die matriarchalen Gesellschaften der Gegenwart sind dafür die letzten Beispiele. Es ist klar, dass eine solche Aufgabe nicht ohne die vollständige strukturelle Definition von »Matriarchat« bewältigt werden kann. Allein eine solche verlässliche Definition schützt davor, anachronistische Phantasien aus der Gegenwart in die Geschichte hinein zu projizieren, wie es zu diesem Thema noch immer üblich ist. Ohne die Verzerrungen, die patriarchale Vorurteile hier verursacht haben, kann sich eine neue Interpretation der menschlichen Kulturgeschichte entfalten.18

Im vierten Schritt der Entwicklung der Matriarchatstheorie muss das Problem der Entstehung des Patriarchats gelöst werden. Zwei wichtige Fragen verlangen hier eine wissenschaftliche Antwort. Die eine lautet: Wie und wo konnten patriarchale Muster zuerst entstehen? Die andere lautet: Auf welche Weise konnten sie sich in der ganzen Welt ausbreiten? Die zweite Frage ist keineswegs selbstverständlich. Nach meiner Meinung ist keine dieser beiden Fragen bisher ausreichend beantwortet worden. Denn wenn wir die Entstehung des Patriarchats erklären wollen, müssen wir erstens ein genaues Wissen über die Gesellschaftsform haben, die vorher existierte – und diese war das Matriarchat. Zweitens muss eine Theorie der Patriarchatsentstehung erklären, warum patriarchale Muster an verschiedenen Orten in verschiedenen Kontinenten zu verschiedenen Zeiten und durch ganz verschiedene Ursachenketten entstanden sind. Es gibt keineswegs nur eine einzige Ursache für alle Weltgegenden und zu allen Zeiten, wie populäre Spekulationen annehmen. Die Antworten werden daher für die verschiedenen Kulturregionen der Welt sehr verschieden ausfallen.19

Im fünften Schritt der Entwicklung der Matriarchatstheorie muss eine tiefe Analyse der Geschichte des Patriarchats gegeben werden. Bis heute wurde sie als Herrschaftsgeschichte geschrieben, als »Geschichte von oben«. Aber es gibt auch die Perspektive der »Geschichte von unten«, die ein völlig anderes Bild zeigt. Es ist die Geschichte der Frauen, der unteren Klassen, der indigenen Völker, das heißt, der Subkulturen und Randkulturen. Diese andere Geschichte zeigt, dass es dem Patriarchat keineswegs gelang, die alten und lang andauernden matriarchalen Traditionen überall zu zerstören. Schließlich lebt es parasitär von diesen matriarchalen Unterströmungen.20 Aber wir können diese nur mithilfe der strukturellen Definition von »Matriarchat« erkennen. Doch wenn es uns gelingt, diese Spuren durch die patriarchale Epoche zeitlich zurück zu verfolgen und wieder zu verknüpfen, bedeutet dies nichts weniger als unser Erbe wiederzugewinnen.21

Auf diese Weise zeigt die Matriarchatstheorie die enorme Reichweite des matriarchalen Paradigmas bzw. der modernen Matriarchatsforschung. Wichtige Forschungen, die bereits zu diesem Thema gemacht wurden, sind in diesen Rahmen aufgenommen und werden weiterhin integriert.22 So hoffe ich, dass Generationen von Forscherinnen und Forschern mit dem matriarchalen Paradigma kreativ weiterarbeiten werden, so lange, bis die neue Weltsicht ein Teil des öffentlichen Bewusstseins geworden ist.

Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart

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