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Vorwort: Zum Begriff »Matriarchat«

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Die Welle des populären wie wissenschaftlichen Interesses an Gesellschaften mit nicht-patriarchalen Mustern hat verschiedene neue Bezeichnungen dafür hervorgebracht. Warum sollen wir daher auf dem oft als problematisch empfundenen Begriff »Matriarchat« bestehen? Dafür gibt es gute Gründe, denn diesen Begriff zu beanspruchen und ihn konsequent zu gebrauchen ist von großer Bedeutung: Zugleich mit ihm wird das Wissen über Gesellschaften beansprucht, die sozial, ökonomisch, politisch und kulturell von Frauen geschaffen wurden. Im Verlauf der langen Geschichte dieser Gesellschaften waren Frauen und Männer gleichermaßen beteiligt, sie zur Blüte zu bringen und an künftige Generationen weiterzugeben. Diese kurze Bemerkung soll im Augenblick als Orientierung genügen.

Dieses Buch wurde mit dem Ziel geschrieben, eine gut begründete, solide, wissenschaftliche Definition von »Matriarchat« zu entwickeln, die bisher überall fehlt. Ich hoffe, dass sie nützlich sein wird, um sich in einem Meer von Missverständnissen zu diesem Begriff und zu den Kulturen, die er bezeichnet, zurechtzufinden. Die Entwicklung dieser Definition begleitet uns wie ein roter Faden durch das ganze Buch, was an dem Schlussteil von jedem Kapitel »Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform« zu sehen ist. Hier wird die Definition Schritt für Schritt aus dem Inhalt der einzelnen Kapitel entfaltet.

Von Anfang an sei hier festgehalten, dass Matriarchate grundsätzlich egalitäre Gesellschaften sind. Sie sind, was die gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und die Freiheit beider Geschlechter betrifft, wahrhaft geschlechter-egalitär und im Zusammenwirken aller Teile der Gesellschaft vollständig egalitär. Dabei sind die Frauen, insbesondere die Mütter, die Mitte dieser Gesellschaften. Die Mitte bedeutet nicht die Spitze, das »Oben«, wie es Patriarchaten üblich ist, sondern es ist eine alle Teile der Gesellschaft integrierende Mitte. Daher können Matriarchate entschieden nicht als das Spiegelbild von Patriarchaten betrachtet werden, mit herrschenden Frauen anstelle der in patriarchalen Gesellschaften herrschenden Männer. Denn matriarchale Menschen haben die hierarchischen Strukturen von Patriarchaten bewusst niemals angenommen. Patriarchale Herrschaft, die begann, indem eine männliche Minderheit durch Krieg und Eroberung die Mehrheit der Menschen einer anderen Kultur unterdrückt und ausgebeutet hat, hängt von Macht durch Waffengewalt ab. Daraus folgte der bei den Herrschenden angehäufte Privatbesitz, der ihre Herrschaft festigte. In späteren Phasen kamen Kolonialismus und Missionierung hinzu, wobei die eigene Lebensweise und das eigene Denken anderen Menschen aufgezwungen wurden. Diese Strukturen von Gewalt und Zwang sind eine geschichtlich ziemlich späte Entwicklung, die nicht früher als ein paar Jahrtausende vor unserer Zeit auftauchten – in vielen Weltgegenden begannen sie noch erheblich später. Davor und in einigen Regionen bis heute gab und gibt es einen völlig anderen Typus von Sozialordnung, Lebensweise und Weltanschauung, eben den matriarchalen.

Diejenigen, die an den Mythos vom ewigen Patriarchat glauben, stellen diese relativ späte Gesellschaftsform jedoch so dar, als ob es sie überall und von Anfang an zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte gegeben habe. Zahlreiche Fiktionen dieser Art wurden von Hunderten patriarchal orientierter Theoretiker propagiert. Deshalb sind sie auch nicht in der Lage, den Begriff »Matriarchat« anders als immer wieder mit Herrschaftsmustern zu verknüpfen. Dann forschen sie vergeblich in der ganzen Weltgeschichte nach Beispielen von Gesellschaften mit Frauenherrschaft, und wenn sie keine finden, die ihrer falsch formulierten Hypothese entsprechen, erklären sie zum Schluss, dass Matriarchate weder jetzt noch früher jemals existiert haben. Es ist, als ob man sich ein Gespenst erschafft und dann nach diesem auf die Suche geht, um es, weil es nicht gefunden werden kann, zuletzt zu einem Gespenst zu erklären. Dies ist nichts anderes als ein unlogischer Zirkelschluss und eine beschämende Verschwendung von Wissenschaft.

Das allgemeine Missverständnis zum Begriff »Matriarchat« kann man bereits durch einen linguistischen Hinweis aufklären. So wird angenommen, allein weil die beiden Wörter »Matriarchat« und »Patriarchat« parallel klingen, dass auch die beiden Gesellschaftsformen in ihrer Herrschaftsstruktur parallel seien. Vorschnell kommt es damit zu dem üblichen Vorurteil, dass »Matriarchat« gleichbedeutend sei mit »Frauenherrschaft« oder »Herrschaft der Mütter«. Auf dem Fuße folgt die Annahme, dass Matriarchate genauso funktionieren wie Patriarchate, nur mit umgekehrtem Geschlecht. Linguistisch bedeutet das griechische Wort »arché« aber nicht nur »Herrschaft«, sondern auch »Anfang« – was die ältere Bedeutung dieses Wortes ist. Diese beiden Bedeutungen sind verschieden und können nicht vermischt werden. Sie werden auch in unserem Sprachgebrauch noch klar unterschieden, zum Beispiel würden wir »Arche-typ« doch nicht mit »Herrschaftstyp« übersetzen wollen, sondern verstehen darunter einen »uranfänglichen Typus«. Auch »Archäo-logie« bedeutet nicht die »Lehre von der Herrschaft«, sondern die »Lehre von den Anfängen der Kultur«. Selbst die »Arche Noah« meint nicht »Noahs Herrschaft«, sondern den Neubeginn der Menschheit nach der Sintflut, so wie es die Bibel darstellt.

Auf dem Boden dieser älteren Bedeutung von »arché« als »Beginn« heißt »Matri-archat« also »am Anfang die Mütter«. Das bezieht sich sowohl auf die biologische Tatsache, dass Mütter durch die Geburt den Beginn des Lebens schenken, als auch auf die kulturelle Tatsache, dass sie den Anfang von Kultur geschaffen haben. Patriarchat kann auch als »Herrschaft der Väter« und als »am Anfang die Väter« übersetzt werden. Die letztere Bedeutung führt jedoch unmittelbar zur Herrschaft der Väter. Denn weil ihnen jede natürliche Gabe für das Setzen eines »Anfangs« fehlt, sind sie seit Beginn des Patriarchats gezwungen, genau das zu behaupten, in ihren Mythen aus dem Kopf zu gebären und diese »Wahrheit« mit Gewalt durchzusetzen. Im Gegensatz dazu sind Mütter klar am Anfang durch ihre Fähigkeit Leben zu geben, womit sie nicht nur individuelle Menschen, sondern auch die Verwandtschaftsgruppe, die nächste Generation und damit die Gesellschaft hervorbringen. Deshalb haben sie es im Matriarchat nicht nötig, ihre Position durch Herrschaft zu erzwingen.

Ich möchte nochmals betonen, dass dieser linguistische Hinweis keine Definition ist. Die wissenschaftliche Definition von »Matriarchat« wird, auf dem Boden der Forschung zu diesem Typus von Gesellschaften, in diesem Buch empirisch Schritt für Schritt gewonnen.

Es gibt noch weitere Gründe, den Begriff »Matriarchat« zu gebrauchen und keinen der Ersatzbegriffe zu wählen. Nicht alle Wissenschaftlerinnen, die an der modernen Matriarchatsforschung beteiligt sind, benennen diese Gesellschaftsform gleich. Es werden solche Wortschöpfungen gewählt wie »matrifokal«, »matristisch«, »matrizentrisch« oder »gylanisch«. Dennoch stimmen alle darin überein, dass es sich um eine Gesellschaftsform handelt, die keine patriarchalen Herrschaftsmuster hat und einen hohen Grad von Ausgewogenheit oder Balance aufweist. Aber diese neu erfundenen Ersatzbegriffe haben den Mangel, dass sie sehr künstlich sind und keine Verbindung zur Umgangssprache haben. In der Regel sind sie kaum definiert und zu schwach oder zu eng. Zum Beispiel suggerieren die Wörter »matrifokal« und »matrizentrisch«, dass alles um die Mütter kreise, wobei das vielfältige Netz der sozialen und politischen Beziehungen zwischen den Menschen in matriarchalen Gesellschaften vernachlässigt wird; diese Begriffe sind also zu eng. Das Wort »matristisch« enthält die Silbe »-istisch«, die auf einen »-ismus« hinweist, was abwertend ist. Denn jeder »-ismus«, wie »Biologismus«, »Ökonomismus«, »Sozialismus« und so weiter, wird als einseitig verstanden, weil er Anteile an dogmatischer Ideologie enthält; daher ist diese Bezeichnung hier nicht zu gebrauchen. Der Begriff »gylanisch« (R. Eisler) ist völlig fremd und benötigt eine lange Erklärung, um überhaupt verstanden zu werden. Er meint die Verbindung (griechisch: »lyein«) von Frauen (griechisch: »gyne«) und Männern (griechisch: »andros«), was Kenntnisse in Griechisch voraussetzt. Außerdem bestehen matriarchale Gesellschaften keineswegs nur aus Männer-Frauen-Partnerschaften, sondern aus weit mehr und anderen sozialen Beziehungen; auch dieser Begriff ist, abgesehen von seiner Unverständlichkeit zu schwach.

Im Gegensatz zu diesen Kunstbegriffen ist der Begriff »Matriarchat« allgemein bekannt und ein Wort der Umgangssprache. Jede gebildete Person versteht ihn, ganz gleich ob sie darauf positiv oder negativ reagiert. Bei den meisten löst er das alte Vorurteil von der »Frauenherrschaft« aus, was jedoch die Möglichkeit bietet, ein Gespräch darüber zu führen. Man kann darauf hinweisen, dass der Begriff mittlerweile neu definiert wurde und sich auf egalitäre Gesellschaften bezieht. Jede philosophische und wissenschaftliche Re-Definition von Begriffen geht von bekannten Begriffen der Umgangssprache aus und definiert sie auf dem Boden neuer Erkenntnisse neu; es ist ein normaler wissenschaftlicher Vorgang. Danach kann auf wissenschaftlicher Ebene mit ihnen gearbeitet werden, aber man verliert dabei nicht den Kontakt zur Umgangssprache. Die Begriffe gewinnen durch die Re-Definition eine neue, klarere und umfassendere Bedeutung als in der Umgangssprache. Umgekehrt wird die Umgangssprache durch die wissenschaftlich re-definierten Begriffe wieder beeinflusst, was den allgemeinen Diskurs sehr bereichert.

Nehmen wir zum Beispiel den Begriff »Atom«, der bei den griechischen Philosophen das »kleinste Unteilbare« bedeutete. In der modernen Atomphysik wurde er grundlegend neu definiert, so dass wir heute eine ganz andere Vorstellung davon haben, was ein Atom in seinem gesamten Aufbau ist. Ein anderes Beispiel sei der Begriff »Nachhaltigkeit«. In der alltäglichen Sprache meint er etwas, »das sich lange hält und von Dauer ist«. In der neuen Wissenschaft der Ökologie wurde er als ein zentraler Begriff neu definiert, der nun viele besondere Bedingungen enthält, die für das Verständnis von »Nachhaltigkeit« wichtig sind. Damit enthält er jetzt eine viel weitere Weltsicht als zuvor. So ist auch im Fall des meist unsachlich gebrauchten Begriffs »Matriarchat« eine Neudefinition ein großer Vorteil. Denn diesen Begriff wieder einzufordern bedeutet, das Wissen über Kulturen zurück zu gewinnen, die von Frauen geschaffen wurden und deren Lebensweise für alle Menschen grundsätzlich egalitär war. Das stellt auch für die Umgangssprache und das allgemeine Verständnis einen großen Gewinn dar.

Heute verwenden einige indigene Völker offen den Begriff »Matriarchat«, um ihre egalitären Gesellschaftsmuster zu bezeichnen, wie es die Minangkabau in Sumatra, die Mosuo in China und etliche nordamerikanische Ethnien tun, unter ihnen die Irokesen. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler respektieren es und folgen ihnen, sie re-definieren den Begriff »Matriarchat« entsprechend und verwenden ihn in seiner geklärten Bedeutung. Für diese indigenen Völker ist die Benennung von politischer Bedeutung. Sie nehmen den Begriff »Matriarchat« bewusst an, weil sie damit ihre besondere Gesellschaftsform betonen, für die sie vorher kein Wort hatten. Zugleich betonen sie ihre Werte, die zeigen, wie das gesellschaftliche Leben ohne Gewalt und Zwang, stattdessen bedürfnisorientiert und friedfertig organisiert werden kann.

Diesen politischen Gehalt hat der Begriff »Matriarchat« auch für uns, wenn wir uns eine andere, bessere Gesellschaftsform vorstellen und sie erstreben als die, die uns umgibt, ebenso wenn wir eine Zukunft gestalten wollen, die im Gegensatz zu patriarchaler Herrschaft und Gewalt von Menschlichkeit geprägt ist und schlicht »human« genannt werden kann.

Auf dem Weghof, Juni 2020

Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart

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