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Interdisziplinarität und Ideologiekritik

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In der bisherigen Matriarchatsforschung fehlte nicht nur eine explizite und systematische Definition, ebenso gab es keine ausdrücklich formulierte Methodologie, bis ich 1978 den ersten Ansatz dazu machte.13 Schon damals zeigte ich, dass eine solche Methodologie auf zwei Säulen ruht, einer weit gespannten Interdisziplinarität und einer tiefgreifenden Ideologiekritik.

Was die Interdisziplinarität betrifft, so ist sie, um eine ganze Gesellschaftsform und ihre Geschichte erfassen zu können, schlichte Notwendigkeit. Die Fragmentierung des Wissens, die wesentlich durch die Zerteilung in die herkömmlichen Disziplinen zustande kommt und größere Zusammenhänge unsichtbar macht, wird auf diese Weise aufgehoben. Im Gegensatz zu diesen Disziplinen kommt es nicht auf noch mehr Spezialistentum an, sondern auf das Erkennen und Integrieren von gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhängen. Das erste Kapitel dieses Buches, die kritische Forschungsgeschichte zum Thema Matriarchat, zeigt deutlich, welche verschiedenen Forschungszweige dafür relevant sind, um dem Thema gerecht zu werden. Die hier notwendige Interdisziplinarität umfasst nicht weniger als sämtliche Sozial- und Kulturwissenschaften, und gelegentlich braucht es auch Resultate aus einzelnen Naturwissenschaften.

Um jedoch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu kommen, muss die Beliebigkeit von Eklektizismus, der sich wahllos überall bedient, vermieden werden. Denn das würde nur wieder eine andere Art von Fragmentierung mit sich bringen. Es ist deshalb erforderlich, die relevanten Forschungszweige für die Entwicklung der Theorie systematisch aufeinander zu beziehen, was eine systematische Interdisziplinarität ergibt. Dabei wird diese Anordnung je nach theoretischem Schwerpunkt unterschiedlich ausfallen, ebenso wird sie für Einzelstudien im Rahmen der Theorie unterschiedlich sein. In jedem Fall braucht es aber die ausdrückliche Nennung der verwendeten Forschungszweige und eine logische Begründung für die jeweils gewählte Anordnung.

Die Ideologiekritik ist hier immer die Kritik patriarchaler Ideologie. Aber auch sie braucht eine Methode, um sich nicht selbst wieder in undurchschauter Ideologie zu verfangen. Eine solche Methode wurde 1978 von mir skizziert und 1988 ausgearbeitet.14 In ihr kommen ein Negativ-Verfahren und ein Positiv-Verfahren zur Anwendung. Im Negativ-Verfahren werden die typischen Vorurteile herausgefunden, die zum Thema Matriarchat in der Forschungsliteratur auf Schritt und Tritt zu sehen sind. Dafür ist die Interdisziplinarität von großem Vorteil, denn beim Vergleich von Forschermeinungen aus verschiedenen Disziplinen – aber auch schon in einer einzigen Disziplin – enthüllen sich die unvollständigen, einseitigen und verzerrten Darstellungen. Ich habe diese Vorurteile in einer Liste zusammengestellt, und es ist nützlich, sie im Auge zu behalten, um in der Forschung die Sache von der Ideologie trennen zu können.

Diese typischen Vorurteile sind:

• erstens die Beurteilung des Geschlechterverhältnisses in matriarchalen Kulturen nach patriarchalen Mustern und Normen; diese sind die eigentlich ideologischen Vorurteile.

Aus diesen ergeben sich sachliche Vorurteile, die oft den eigenen Ergebnissen der Forscher widersprechen, woraus sich logische Widersprüche in der Argumentation ergeben. Zu dieser Gruppe gehört:

• zweitens die Leugnung der Existenz von Matriarchaten überhaupt oder ihrer Eigenstruktur und Eigenwertigkeit, die natürlich wegen der ersteren Vorurteile nicht erkannt werden kann.

Das erzeugt eine charakteristische Blindheit für die räumliche und zeitliche Ausdehnung der matriarchalen Gesellschaftsform, die durch folgende Vorteile verstärkt wird:

• drittens die Eingrenzung von Matriarchaten auf ferne, exotische Gegenden und auf geschichtlich diffuse Zwischenstufen, die als »primitiv« beurteilt werden. Frühe Patriarchate werden dagegen nicht als begrenzt angesehen, zum Teil sogar ohne Evidenz zeitlich vor matriarchale Kulturen gesetzt oder parallel gesetzt, wodurch letztere zur geschichtlichen Ausnahme gemacht werden.

Damit setzen die typische Verdrängung und Zerstückelung ein, die von matriarchalen Kulturen schließlich nur einzelne »Züge« übrig lassen, was ihre kulturelle Bedeutung leugnet. Das geschieht auf diese Weise:

• viertens die Leugnung der Priorität kultureller Leistungen oder das Zuschreiben dieser Leistungen an (fiktive) frühpatriarchale Epochen. Hinzu kommt die Leugnung, dass matriarchale Kulturen sich überhaupt zu Hochkulturen weiterentwickelt haben, wobei darunter Staats- und Reichsbildung nach patriarchalem Muster verstanden wird.

Aus alledem ergibt sich ein Mangel an Erklärungen für die Entwicklung von matriarchalen Gesellschaften wie für die Entstehung von patriarchalen Gesellschaften. Denn das Patriarchat wird als universell hingestellt, das nur kurz – wenn überhaupt – durch das zufällige und abweichende Matriarchat in abgelegenen Gegenden unterbrochen wurde. Die Ewigkeit des Patriarchats wird ungeprüft aus den »überlegenen« Eigenschaften des Mannes angenommen. Daraus ergibt sich dann:

• fünftens die Leugnung von matriarchalen Traditionen bis in die Gegenwart, seien diese nun als Randkulturen neben patriarchalen Gesellschaften oder als Subkulturen in patriarchalen Gesellschaften vorhanden. Es gibt auf diese Weise keine Möglichkeit sie zu erkennen, weshalb sie gar nicht erklärt oder falsch eingeordnet werden, was sie auf jeden Fall unsichtbar macht.

Eine gut durchgeführte Ideologiekritik, die bei neueren Theorien nicht ganz einfach ist, weil die Vorurteile raffiniert versteckt werden, macht dann den Weg frei für das Positiv-Verfahren der sachlichen Analyse.

Die Überlegung ist berechtigt, ob diese Liste typischer Vorurteile auch für jede andere kritische Forschung angewendet werden kann, zum Beispiel für die Situation von Frauen, insbesondere von Müttern innerhalb von patriarchalen Gesellschaften. Dasselbe gilt für indigene Gesellschaften im kolonialistischen Kontext, deren Werte und Leistungen, sogar deren bloße Existenz durch gleiche Vorurteile unsichtbar gemacht werden.

Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart

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