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1.6 Der volkskundliche Zweig

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Der volkskundliche Zweig erforscht den Bereich mündlicher Traditionen, wie Sitten, Bräuche, Lieder und Sprichwörter, aber auch später verschriftlichte Volkserzählungen, wie Mythen, Sagen und Märchen. In diesen sind noch Reste der matriarchalen Kulturinhalte vorhanden, und solche Inhalte aus einer viel älteren Kulturepoche hatten in der patriarchalen Zeit noch eine enorm lange Dauer; sie reichen bis an den Rand der Gegenwart. Sie wurden in verschiedenen sozialen Schichten, die nicht zur herrschenden Klasse gehören, weitergegeben, ohne dass ihre Träger über die Herkunft der Inhalte noch etwas wussten. In diesen Subkulturen hatten Frauen als Weiterträgerinnen von Elementen aus matriarchalen Traditionen nicht zufällig eine wichtige Rolle inne.

Diese matriarchalen Elemente sind also »heißes Material« für die patriarchale Weltsicht; darum ist es interessant zu sehen, wie damit umgegangen wird. Erst im 19. Jahrhundert wurden Teile dieser mündlichen Traditionen mit dem Aufkommen des nationalen Selbstbewusstseins verschriftlicht. Dieser Nationalismus hatte sich aus der Romantik entwickelt, die »das Volk« als den wahren Träger der Kultur einer Nation hochhielt, als einen kollektiven Repräsentanten der nationalen Kreativität. Man hat die mündlichen Traditionen sogar zum Ausdruck einer numinosen nationalen »Volksseele« hochstilisiert, was zu Sammlungen von Märchen verschiedener Völker führte, die diese Volksseele enthalten sollen. Dabei kam die Gattung »Märchen« erst in der Romantik auf, vorher waren diese Erzählungen Mythen gewesen. Als »Märchen« wurden sie nun fiktionalisiert, das heißt, sie wurden zur Phantasie oder gar zum Aberglauben des Volkes erklärt, womit die matriarchalen Elemente darin jeden Realitätsgehalt verloren.

Volkskunde als ernsthaftes Studium begann im 19. Jahrhundert und hat sich auf diesem Weg aus der Romantik entwickelt. Die Ernsthaftigkeit machte jedoch Halt vor den inhaltlichen Aussagen dieser Überlieferungen, denn diese galten ab jetzt als fiktional, eben als unwahre »Mythen und Märchen«, aus denen man nichts erschließen könne. So kam es dazu, dass im 20. Jahrhundert und noch bis heute die Inhalte, mit denen die Volkskunde umging, in den Dienst des »Zeitgeistes« gestellt wurden. Die verschiedensten intellektuellen und politischen Strömungen benutzten und missbrauchten sie für ihre Zwecke: die patriarchale Ideen- und Religionsgeschichte, die ihre Ideologie darüber stülpte; die Richtung des Ästhetizismus und Formalismus, die sich nicht für den Inhalt interessierte; die symbolische Psychologie, die sie zu individuellen und kollektiven Träumen machte; bis hin zur nationalsozialistischen Vereinnahmung im »Dritten Reich«. Die matriarchalen Elemente darin wurden auf diese Weise immer mehr verwischt und unsichtbar, nämlich in patriarchale Denkmuster eingespeist.

Jedoch gibt es auch Forschungen in der Volkskunde, welche die Inhalte ernst genommen haben. So hat der deutsche Volkskundler Wilhelm Mannhardt (1905) die enge, nationale Sichtweise überschritten und die vergleichende Volkskunde gepflegt. Sein Werk über die bäuerlichen Feld- und Waldkulte in der griechisch-römischen Antike, die er mit den Feld- und Waldkulten in Mittel- und Nordeuropa vergleicht, ist eine hervorragende Sammlung uralten Glaubens, alter Riten und mythischer Gestalten, die in den Bauerntraditionen Europas überlebten.32 Dabei gibt es überraschende Parallelen zwischen griechischen Baum- und Quellnymphen, Faunen und Satyrn und mitteleuropäischen Baumfrauen und Wasserfeen sowie Getreidegeistern und Kornwölfen. Auf diese Verwandtschaft der gesamten europäischen, subkulturellen Tradition hingewiesen zu haben, ist zweifellos das größte Verdienst Mannhardts. Er hat damit, ohne es selbst wahr zu haben, gezeigt, dass im gesamten patriarchalisierten Europa: bei Griechen, Thrakern, Römern, Kelten, Germanen und Slawen, abgesunkene Gottheiten matriarchaler Herkunft in der bäuerlichen Schicht weitergelebt haben. Der matriarchale Gehalt blieb ihm allerdings verborgen, weil sein diffuser Begriff von »Naturgeistern«, eine sehr allgemeine Bezeichnung ohne historischen Hintergrund, seine Erkenntnisse wieder verdunkelt hat. –

Die Sagen von Weißen Frauen, die auf Bergen und Schlössern wohnen und meist dreifach auftreten, würden ohne Boden bleiben, hätte nicht Friedrich Panzer (1848) noch früher ein einzigartiges Sammelwerk geschaffen.33 Darin hat er diese Sagen im ganzen deutschsprachigen Raum aufgezeichnet und sie mit über hundert konkreten »Frauenbergen« und »Jungfernbergen« verknüpft – was doch ein sehr auffälliger Befund im patriarchalen Mitteleuropa ist! Allerdings weiß auch er sie nicht recht zu deuten. Er ordnet diese Sagen von den Drei Schicksalsfrauen der germanischen Zeit zu, ohne dies weiter differenzieren zu können. Ihre Geschichte reicht jedoch zurück bis in die Epoche des jungsteinzeitlichen Europa mit matriarchaler Kultur, als diese Berge rituelle Kultstätten der dreifachen Großen Göttin gewesen waren. In dieselbe Richtung weisen auch die Sagen von der Frau Holde oder Holla, die in Bayern Frau Percht und im Märchen Frau Holle heißt. Auch hier hat Panzer vorbildlich zu sammeln begonnen, ohne zu wissen was er fand, nämlich die Große Göttin Mitteleuropas.34

Allerdings fehlt es diesen älteren, deutschen Forschern noch an erklärender Theorie, aber wir finden theoretische Reflexion bei englischen Volkskundlern, welche diese Inhalte zu verstehen versuchten. Dabei sind sie von der keltischen Volkstradition ausgegangen. So widmet sich Evans Wentz (1911) den zahlreichen Erscheinungsformen des Feenglaubens, den er selbst auf einfühlsame Weise von der keltischen Landbevölkerung erfragt hat.35 Er zählt verschiedene Theorien auf, die helfen sollen, ihn zu erklären: Erstens stellt er ihn in den Rahmen eines weltweiten Animismus, des Glaubens an die Beseeltheit aller natürlichen Erscheinungen. – Das ist jedoch eine schwierige These, da man mit »Animismus« meist primitive Vorstellungen von unverstandenen Naturerscheinungen meint, was Völker mit sogenanntem »Animismus« herabsetzt. – Zweitens versucht Wentz, den Feenglauben mit der »Pygmäentheorie« zu erklären, nach der die oft geschilderte Kleinheit und Zartheit des Feenvolkes sich auf eine kleinwüchsige Rasse in prähistorischer Zeit beziehen soll – wofür er aber keinerlei archäologische Zeugnisse sieht. Drittens zitiert er die Druidentheorie, nach der die Feen eine Volkserinnerung an Druidenpriesterinnen sein sollen – was Wentz aber bezweifelt. Viertens nennt er die mythologische Theorie, nach der Feen abgesunkene und verkleinerte Gestalten alter Gottheiten seien. – Hier ist Wentz auf der richtigen Spur, allerdings reicht sein historischer Zeitraum nur bis zu keltischen Gottheiten zurück. – Fünftens bietet er seine eigene Theorie an, nach der Erfahrungen mit sympathetischer Energie im Austausch zwischen Mensch und Natur die Wurzel für diesen Glauben sein sollen – Was immer man dazu denkt, so respektiert Wentz hier die Aussagen seiner Gewährsleute über solche sympathetischen Erscheinungen, was ihn als Forscher ehrt.

Trotz dieser Bemühungen gelingt es ihm aber nicht, einen Schlüssel für die Erklärung des Feenglaubens zu finden. Alle theoretischen Ansätze scheinen wie die Steine eines Puzzles, das er nicht zusammensetzen kann, da ihm ein weiter zurückreichender kulturhistorischer Hintergrund fehlt.

Lewis Spence (1946) weist in seinem Buch auf genau dieses Problem hin.36 Er kritisiert zu Recht, dass vereinzelte Theorieansätze die Frage nach der Herkunft des Feenglaubens eher verzerren, weil sie Fragen aus den vereinzelnden, herausschneidenden, konkurrierenden Perspektiven moderner Wissenschaftler sind. Die Widersprüche liegen nicht in der Sache, sondern im Geist der Forscher. Darum sucht er nach einer historisch umfassenden Erklärung und findet sie in einem kulturellen Zusammenstoß verschiedener Völker in der frühen Geschichte. Den Konflikt sieht er sich in der Bronzezeit abspielen, als eine neue Kultur auf eine ältere, steinzeitliche traf. Die Menschen der Eisenzeit bewahrten diese Ereignisse später in ihren Erzählungen auf.

Mit dieser Überlegung stößt Spence weit vor, da er die immensen geschichtlichen Zeiträume, durch die sich mündliche Traditionen hinziehen, ernst nimmt. Die Verschiedenheit der frühgeschichtlichen Epochen und die Konflikte, die damals ausgetragen wurden, werden nicht zugedeckt. Seine umfassende Erklärung ist jedoch nicht in der Lage, die inhaltlich verschiedenen Sozialordnungen und Weltbilder, die hier zusammengestoßen sind, zu benennen; er hat keine Begriffe dafür. Deshalb bleiben die inhaltlichen Elemente des Feenglaubens noch immer unerklärt. Obwohl Spence, ebenso wie Mannhardt und Wentz, so wichtige Forscher wie Bachofen und Morgan als Vorgänger hatte, bezieht er sich nicht auf sie. Deshalb bleibt auch bei ihm die matriarchale Kulturepoche im Dunkeln, so dass der Konflikt, um den es bei ihrer Zerstörung gegangen ist, von ihm nicht wirklich verstanden werden kann.

Diese Inhalte kommen erst durch die Forschung von Michael Dames (1976, 1977) klar zur Sprache, womit es ihm gelingt, die einzelnen Bausteine zum Ganzen zu fügen.37 In seinen Büchern über die großartige Megalith-Anlage von Avebury und die künstliche Rundpyramide von Silbury verbindet er Archäologie mit vergleichender Kulturforschung und die Untersuchung heimischer Volksbräuche mit Namenskunde. Dadurch gelangt er vom Feenglauben zu den Glaubensinhalten um die Große Göttin, die bis in die Jungsteinzeit zurückreichen. Er entdeckt, dass der Silbury Hügel selbst die Form einer Göttin hat, das heißt, so erbaut wurde, dass er im Wechsel der Jahreszeiten in der Landschaft die Gestalt einer liegenden Göttin ergibt: eine »Landschaftsgöttin«. Auch die mächtigen Steinmonumente der Avebury-Kreise kann er als Elemente für die Verehrung der Großen Göttin erschließen, wobei nach ihm die verschiedenen Steine den verschiedenen Aspekten des agrarischen Jahres entsprechen. Er macht damit die harmonische Verbindung von menschlichen Kulturbauten und lebendiger Landschaft sichtbar, was die enorme geistige Höhe nicht nur jungsteinzeitlicher Technik, sondern auch jungsteinzeitlicher Religiosität erweist. Im Volksglauben werden die Feen mit solchen Megalith-Bauten verknüpft, wodurch sie auf einfache Weise als eine Reminiszenz an eine vergangene, matriarchale Kulturepoche erklärt werden können. Michael Dames scheut sich nicht, das offen zu benennen, und das hat ihm – wie schon Ranke-Graves – unter den Akademikern den Ruf eines »Dichters« eingetragen.

Das Beispiel von Michael Dames zeigt, dass es für das Verständnis dieser matriarchalen Elemente in der Volkskunde den Rahmen der modernen Matriarchatsforschung braucht, mit dem sie in jene kulturelle Epoche zurückgestellt werden können, aus der sie stammen. Nur so ist ihre angemessene Interpretation möglich. Auf diese Voraussetzung gestützt, die ihm den Schlüssel in die Hand gibt, hat gegenwärtig Kurt Derungs (1997, 2000) den volkskundlichen Zweig weiterentwickelt.38 Er zeigt anhand von zahlreichen Einzelstudien, die er hauptsächlich in der Schweiz unternommen hat, dass matriarchale Gesellschaften eine großartige Landschaftsgestaltung und Landschaftsmythologie besaßen. In der symbolischen Benennung von Bergen, Hügeln, Flüssen, Seen, Tälern und Schluchten, aber auch in künstlichen Landschaftszügen wie den Megalith-Anlagen und Grabstätten, ist eine alte Weltsicht dokumentiert, die sich durch Sagen und Bräuche wieder erschließen lässt. Sie kreist um die Verehrung der zentralen Gestalt einer Ahnfrau, die in den Naturerscheinungen als Landschaftsgöttin betrachtet wird.

Derungs nennt seine Arbeit »Landschaftsmythologie«, und seine komplexe Methode entspricht der von Michael Dames. Noch deutlicher wurde dieses Gebiet von mir als »Matriarchale Landschaftsmythologie« bezeichnet und in Arbeiten zu verschiedenen Landschaften in Deutschland und den Alpenländern herausgearbeitet.39 Auf diese Weise ist es gelungen, den Mythen und Sagen nicht nur buchstäblich ihren Boden zurückzugeben und ebenso ihre Kulturgeschichte, sondern auch den symbolischen Zusammenhang und die sakrale Bedeutung einzelner Landschaften für die Menschen in der jungsteinzeitlichen Epoche zu erkennen.

Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart

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