Читать книгу Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart - Heide Göttner-Abendroth - Страница 20
1.4 Der Zweig der Urgeschichtsforschung
ОглавлениеZur Urgeschichtsforschung können sehr unterschiedliche Disziplinen beitragen wie zum Beispiel Höhlenforschung, Paläolinguistik und Soziobiologie. Das ist dann besonders interessant, wenn sich Forscher und Forscherinnen aus diesen verschiedenen Richtungen zusammenfinden und eine Kooperation miteinander eingehen, wie es 1979 geschah. Die Ergebnisse dieser Gruppe bestätigen die Auffassung von Briffault aus verschiedenen Perspektiven.
Die Prähistorikerin und Höhlenforscherin Marie König (1973, 1980) widmete sich hauptsächlich der Entzifferung des Zeichensystems der Eiszeitkultur in den Kulthöhlen Europas.21 Auf dem Boden ihrer Erkenntnisse lässt sich die Vorstellung von dem eiszeitlichen »Mann als Jäger«, der die Urgeschichte bestimmt haben und die Kultur hervorgebracht haben soll, nicht mehr halten. Es gelang ihr, die Bedeutung der schriftartigen, abstrakten Zeichen, die entweder allein oder in Verbindung mit den Höhlenmalereien vorkommen, aufzudecken und das Weltbild der Altsteinzeitmenschen zu interpretieren.
Nach Marie König besaßen die Menschen in der Altsteinzeit mindestens seit 100.000 Jahren ein System der praktischen Orientierung in Raum und Zeit und ein vollständiges, religiöses Weltbild, das sie mit Intelligenz und künstlerischer Begabung zum Ausdruck brachten. Ihre Kultur ist anfänglich, das heißt, sie konnten noch nicht von vorhergehenden Generationen Erkenntnisse und Wissen erben, aber die Eiszeit-Kultur ist keineswegs »primitiv«. Im Herzen Frankreichs, auf der Île de France, hat Marie König eine Kulturprovinz mit über 2000 Kulthöhlen entdeckt und untersucht und mit anderen Kulthöhlen in Europa verglichen. Diese Epoche liegt noch weit vor jener, in der die kleinen Frauenskulpturen auftauchen. Doch diese Frauenstatuetten sind nicht aus dem Nichts entstanden, ihnen geht ein System symbolischer Zeichnungen und Ritzungen voraus, das an den Wänden der Höhlen angebracht ist.
Dabei fallen – so die Forscherin – zwei abstrakte Systeme auf: eins der Vierheit (Viereck, Raute, viergeteilter Kreis), das der Orientierung im Raum diente, und eins der Dreiheit (drei Striche, Dreieck), das auf die Phasen des Mondes hinweist und zur ersten Zeitmessung gebraucht wurde. Diese Lunarsymbolik ist mit Zeichnungen von Frauen verknüpft, die mit einer Mondsichel in der Hand oder ebenfalls als Dreiheit dargestellt werden, was eine Verbindung zwischen ihnen und dem Mond als Kalendersystem herstellt. Auch die Tierdarstellungen dienten keinem »Jagdzauber«, sondern die Stiere sind durch die abstrakte und keineswegs naturalistische Zeichnung ihrer Hörner ebenfalls mit dem Mond als Zeitmesser verknüpft. Das weist auf die älteste Religion hin, die das Problem von Leben und Tod aufnahm und durch den Wiedergeburtsglauben löste. In dieser Religion waren die Frauen zentral. Die Zeichnungen von Frauen dienten keineswegs einem »Fruchtbarkeitskult«, wie es immer wieder verengend behauptet wird, sondern die Frau galt wegen ihrer Fähigkeit zur Geburt, die als Wiedergeburt der Verstorbenen aufgefasst wurde, als das Zentrum und die Trägerin dieses religiösen Systems. Erst später, zeitlich nach diesen abstrakten Zeichensystemen, traten die Frauenstatuetten auf, die Marie König anhand der Einritzungen als Trägerinnen des Raum- und Zeitsystems deutet und damit als machtvolle Symbolfiguren.
Auch die Erde mit ihren Spalten und Höhlen wurde als Ur-Mutter angesehen. Denn die Toten wurden seit ältester Zeit in embryonaler Hockerstellung in die Erde gelegt, um aus der Tiefe des Erdschoßes wieder ins Leben geboren zu werden.
Marie Königs Forschung wird bestätigt durch die paläolinguistische Arbeit von Richard Fester (1979).22 Er weist nach, dass die in sämtlichen Sprachen der Erde verbreiteten Ursilben und Urworte das unmittelbar Weibliche bezeichnen oder die Wirkungen, die vom Weiblichen ausgehen. Vergleichbares für den Mann konnte er nicht finden. Das musste einen Grund haben.
Für Fester ist das zuverlässigste Kriterium der Menschwerdung in der Urzeit – neben aufrechter Haltung und Werkzeuggebrauch – die Sprache. Das Entstehen von Sprache sieht er nicht bei den Zurufen während der Jagd, was er für sehr unwahrscheinlich hält, da Jäger das Wild nicht durch lautes Reden und Schreien zu stören und zu verscheuchen pflegen. Er sieht die Entstehung der Sprache in der lautlichen Zweisamkeit von Mutter und Kind, woraus sich die sprachliche Formung und Sinngebung entwickelt hat. Das würde die überwältigende Fülle weiblich konnotierter Urworte erklären. Von Soziobiologen ist unterdessen herausgefunden worden, dass das Sprachvermögen von Frauen und Mädchen noch heute – nach ungefähr 6 Millionen Jahren menschlicher Entwicklungsgeschichte – weitaus höher ist als bei Männern und Knaben.
Auch den ersten Werkzeuggebrauch sieht Fester nicht beim »Mann als Jäger«, sondern dafür dürfte die mütterliche Versorgung des Kindes Pate gestanden haben. Um die Nahrung für das Kind zu zerkleinern, dürfte das Zerstampfen von Früchten und Wurzeln schon früh zu einfachen Werkzeugen geführt haben. Dafür spricht, dass die Bezeichnungen für »Hand« und »Halten« sowie die ersten Werkzeuge in vielen Sprachen Ableitungen von Urworten sind, die Weibliches benennen – wie Fester nachweist. Gemäß ihm legten damit die Mütter den Grundstein für jede weitere Technologie. Sie sind außerdem der Anfang der menschlichen Gemeinschaftsbildung durch Geburten, der Anfang der Kultur durch die Erfindung der Sprache und die Schöpfung der Religion.
Fester sieht deshalb anhand seiner paläolinguistischen Befunde eine langdauernde und weit zurückreichende, gesellschaftlich zentrale Stellung der Frau, die entscheidend war für das Überleben der Gattung. Er schließt mit einer Würdigung Bachofens und der mutterrechtlichen Ordnung des Matriarchats, die Bachofen lange vor jeder Existenz prähistorischer, evolutionsbiologischer, genetischer und anderer modernen Forschungen herausgefunden hat. –
Das Forscher-Ehepaar David A. Jonas, Ethnologe und Psychologe, und Doris F. Jonas, Evolutionsbiologin, kommt auf seinem jeweiligen Fachgebiet zu entsprechenden Ergebnissen (1982, 1979).23 Die beiden Jonas zeigen aus ihren Forschungen, dass Frauen der Beginn und für Jahrhunderttausende der Mittelpunkt der menschlichen Gesellschaftsbildung gewesen sein müssen. Sie weisen darauf hin, dass bei allen höheren Säugetieren der Kern der sozialen Organisation die Muttertiere sind und dass das Alpha-Weibchen die Herde anführt und den höchsten Rang genießt. Die dominanten Männchen haben demgegenüber eine ganz andere Rolle. Sie halten sich am Rand der Herde auf, weil alle geschlechtsreifen Männchen von den Müttern aus der Mitte der Herde verjagt werden. Am Rand kämpfen sie um den obersten Rang, der sich darauf beschränkt, wer die Herde begatten darf und wer sie beschützt. Bei vielen Tiergruppen werden die unterlegenen Männchen verjagt, bei anderen dürfen sie, wenn sie dem Alpha-Männchen den Rang nicht streitig machen, am Rand der Gruppe verweilen und werden dort als erste die Beute von Raubtieren. Damit haben sie eine indirekt schützende Funktion für das Zentrum der Gruppe, das aus den weiblichen und jungen Tieren besteht.
Dies ist noch deutlicher bei bestimmten Affengruppen zu beobachten, und daraus schließt das Ehepaar Jonas, dass es bei den frühen Menschengruppen nicht anders war, da sowohl Affen als auch Menschen von den Primaten abstammen. So sollen männliche Mitglieder am Rand der Menschengruppe ähnlich unfreiwillige »Beschützer« der Gruppe geworden sein, bis sie lernten, sich mit Werkzeugen gegen die Raubtiere zu wehren. Später wurden sie durch Weiterentwicklung der Verteidigungstechnik allmählich zu Jägern und erfanden den Angriff als beste Verteidigung. Aber nicht die Jagd war das, was die Menschen zu Kulturträgern machte, sie war eine sekundäre Erscheinung. Hingegen war das, was sich im Zentrum der Gruppe ereignete, wo Frauen mit gesammelter Nahrung eine stabile Versorgung sicherten, das tragende soziale Netz bildeten und mit den Kindern die Zukunft der Gruppe schufen, die Basis der Kulturentwicklung.
Das Forscher-Ehepaar kritisiert mit dieser Theorie ausdrücklich die maßlose Überbewertung der Jagd und damit der männlichen Rolle zu jener Zeit, was ein völlig verzeichnetes Bild der Urgeschichte ergeben habe. Doris Jonas meint dazu wörtlich, dass in dieser Ordnung der höheren Säugetiere und Primaten der Kern einer gesellschaftlichen Organisation angelegt sei, die faktisch ein Matriarchat ist.24 – So interessant diese Überlegungen von Doris Jonas sind, übersieht sie dabei allerdings, dass »Matriarchat« sich nicht mit der Tierwelt vergleichen lässt. Es ist ein gesellschaftlicher Begriff und daher keine Angelegenheit der Sozio- oder Evolutionsbiologie, er kann darum nicht auf die Tierwelt projiziert werden. Die matriarchale Gesellschaftsordnung ist auch kein Ergebnis von Instinkten, die aus der Tierwelt stammen, sondern eine bewusste menschliche Schöpfung, in der Mutterschaft als ein biologisches Faktum zu einem kulturellen Modell gemacht wurde.
Das interdisziplinäre Werk und die mutige Theorie dieser Forschungsgruppe hat in der offiziellen Wissenschaft viel zu wenig Beachtung gefunden. Ihre Werke wurden weitgehend ignoriert, weil sie die Ideologie vom ewig dominierenden Mann als falsch entlarven. Das gilt als gefährlich, was dieses Forscher-Team am ablehnenden Umgang mit seinen Erkenntnissen erfahren musste. Für diesen Umgang ist bezeichnend, dass zum Beispiel Marie König als eine von ganz wenigen Frauen zum Mitglied der berühmten »Académie Française« ernannt wurde – jedoch nur für ihre Spezialforschung zu keltischer Numismatik, d. h. Münzenkunde, nicht aber für ihre bahnbrechenden Erkenntnisse zum urgeschichtlichen Zeichensystem.