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1.5 Der religionswissenschaftliche Zweig

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Obwohl auch Ethnologen sich der Erforschung von Mythologie und Ritualen bei verschiedenen Völkern widmen, werden ihre Arbeiten durch die Forschungen im religionswissenschaftlichen Zweig wesentlich ergänzt und erweitert.

Wie Bachofen liest auch James George Frazer in seinem Werk »Der Goldene Zweig« (1890) Mythologie als Bilderschrift mit historischem Kern damaliger sozialpolitischer Vorgänge.25 Doch anders als jener bezieht Frazer dabei viel Material aus der Ethnologie seiner Zeit ein. Im Bund mit der Empirie wird Mythologie für ihn zu einer reichen Erkenntnisquelle über archaische Denkweisen. Seitdem hat sich diese Orientierung in der Religionswissenschaft durchgesetzt und die rein ideengeschichtliche Betrachtungsweise überwunden.

Frazer fand durch seine vergleichenden Studien ein sehr altes, religiös-rituelles Grundmuster heraus, das »rituelle Muster«, das er in seinem Werk beschreibt. Es ist das weit verbreitete Muster von der Göttin und ihrem Heiligen König, der Priesterkönig, Magier oder Schamane ist. Die Göttin verkörpert die ewig sich wandelnde Natur, während der Heilige König als menschliches Wesen den zyklischen Ablauf von Werden und Vergehen, dem alle Wesen unterworfen sind, an sich selbst erfährt. Sein Schicksal spielt sich ab im Kreislauf von Initiation als Einweihung, Heiliger Hochzeit mit der Göttin bis zu seinem rituellen oder symbolischen Tod, der als Reise in die Unterwelt aufgefasst wird, bis sein Schicksal in die glückliche Wiedergeburt durch die Göttin mündet. Ein später geborener oder gewählter Nachfolger wird als Reinkarnation des Heiligen König betrachtet und nimmt nun dessen Platz ein. Im magischen Weltbild der Mythen wird der Heilige König für die Harmonie zwischen Menschenwelt und Natur verantwortlich gemacht, die er durch sein rituelles Leben und Sterben erhalten soll.

Mit diesem »rituellen Muster« deckte Frazer eines der am weitesten verbreiteten, religiösen Grundmuster bei Völkern auf allen Kontinenten auf. Aus diesem archaischen Muster sind sämtliche späteren Religionen hervorgegangen – diese Grundidee skizziert Frazer unter Einschluss des Christentums.

Allerdings krankt Frazers mythologische Analyse an einer durchgängigen Einseitigkeit. Obwohl er an mehreren Stellen andeutet, dass dieses »rituelle Muster« eine zweiseitige Angelegenheit zwischen Göttin und Heiligem König ist, ist er in seinem umfangreichen Werk von Anfang bis Ende allein mit dem Muster auf der männlichen Seite beschäftigt. Das Muster auf weiblicher Seite kommt bei ihm so gut wie nicht in den Blick.

Außerdem werden, wie schon bei Bachofen, seine bahnbrechenden Erkenntnisse durch eine der typischen Stufentheorien des 19. Jahrhundert überbaut und verdunkelt. Denn er bezeichnet das früheste, magische Weltbild als »primitiv« und Magie als eine rohe, praktische Philosophie, welche die Natur mit den falschen Mitteln zu beherrschen versucht. Als Folge davon reduziert er schließlich das Bild des Heiligen Königs, Magiers oder Schamanen auf das eines willentlichen Betrügers, der längst weiß, dass seine magischen Mittel nicht wirken, aber ihre Wirksamkeit seinem Volk vorgaukelt, um seine Machtposition zu behalten.

Als zweite Stufe erscheint bei ihm die Religion, welche die Natur unter Einschaltung von übernatürlichen Wesen zu beherrschen versucht. Wenn Magie nach Frazer nichts anderes als Manipulation ist, so ist Religion nichts anderes als Aberglaube. Dann aber folgt als dritte und höchste Stufe die Befreiung durch die neuzeitliche Wissenschaft, welche die Natur mit den richtigen Mitteln, nämlich kausal-analytisch zu beherrschen versucht und auch beherrscht.

Wir sehen, die gesamte, seinem Material übergestülpte Stufentheorie kreist um die klassisch patriarchale Idee von Beherrschung und Unterwerfung der Natur. Dass mittels Kolonialismus und Imperialismus die Unterwerfung und Beherrschung anderer Völker, der »Primitiven«, die noch immer am magischen Weltbild hängen, mitgemeint ist, versteht sich dabei von selbst. –

Demgegenüber hat der Religionswissenschaftler Mircea Eliade (1951) das Verständnis des magischen Weltbildes und des Magiers oder Schamanen in seinem Buch »Schamanimus und archaische Ekstasetechnik« um ein großes Stück weitergebracht.26 Seit Sigmund Freud in seinem Werk »Totem und Tabu« (1913) Frazers Forschung und Ideologie für seine Zwecke benutzte, gibt es die naive Auffassung von der Parallelität zwischen Magie und Neurose.27 Der Psychologe Karl Kerény (1977) folgerte daraus kühn, dass archaische Völker, die in ihrem Kult magische Handlungen ausführen, sich in einem geschlossenen, kollektiv-neurotischen Weltbild befänden.28 Schlicht und einfach ist bei ihm Magie ein neurotischer Sprössling des Mythos und der Magier ein öffentlicher Neurotiker. Kerény scheut sich nicht einmal, einen »neurotischen Zustand« auf einer »Frühstufe der ganzen Menschheit« zu sehen.

Eliade räumt mit diesen Ansichten gründlich auf, indem er ein ganz anderes und differenziertes Bild vom Magier oder Schamanen entwirft. Vor allem das Zerrbild vom raffinierten Betrüger weist er zurück. Auch er bezieht ethnologisches Material aus allen Kontinenten ein und belegt damit, dass Schamanimus ein weltweites Phänomen ist.

Aus seinen Forschungen geht hervor, dass der Schamane kein Hysteriker, Neurotiker oder Epileptiker ist, sondern im Gegenteil eine Person von übernormaler Nervenkonstitution und Konzentrationsfähigkeit. Die Intensität seiner Konzentration bleibt anderen Menschen unerreichbar. Außerdem verfügt er über eine überdurchschnittliche Intelligenz und Gedächtnisleistung, denn Schamanen sind in erster Linie die Bewahrer der mündlichen Überlieferung von Mythologie und Geschichte ihrer Völker, die sie bei festlichen Gelegenheiten rezitieren. Auch zum Heilungsritual, das als Reise durch die drei Zonen der Welt: Himmel, Erde und Unterwelt, vollzogen wird, gehört das kosmologische Weltbild ihrer Kultur hinzu, das sie singend oder rezitierend einbeziehen. In diesem Sinne sind sie als Kulturträger »das Gedächtnis« ihrer Völker.

Die Forschung Eliades kommt einer Rehabilitation des Magiers oder Schamanen und des magischen Weltbildes gleich. Es fehlt darin allerdings Entscheidendes: Bei ihm ist nur von männlichen Schamanen die Rede, als sei der Schamanimus ein durch und durch männliches Phänomen. Das Auftreten von Schamaninnen in vielen Kulturen und von frühester Zeit an, teilweise bis in die Gegenwart, ist ihm völlig entgangen. Etliche Züge beim männlichen Schamanimus weisen außerdem darauf hin, dass er eine vom weiblichen Schamaninnentum abgeleitete Erscheinung ist und letztlich seine Wurzeln im Weltbild matriarchaler Kulturen hat. Das ist eine Perspektive, die Eliade, der auf die männliche Hälfte der Welt fixiert ist wie die meisten männlichen Forscher, nicht in den Sinn kam. –

Der Religionswissenschaftler Robert von Ranke-Graves wagte den Schritt über diese Grenze hinaus. Als Schüler Frazers und beeindruckt vom Werk Bachofens machte er sich völlig frei von deren Vorurteilen gegenüber der von Frauen geschaffenen Gesellschaftsform, dem Matriarchat. In seinen Werken zur griechischen Mythologie und der Mythologie des Mittelmeerraumes (1955, 1958) gebraucht er diesen Begriff offen.29 Er verzichtet auf den unbegründeten Schlenker, das schließlich eingetretene Patriarchat für höher und besser zu halten, nur weil es zeitlich später ist. Stattdessen hat er seine Forschung mit einer leidenschaftlichen Patriarchatskritik verbunden.

Ranke-Graves liest wie seine Vorgänger Mythologie nicht als phantastische Geschichten, sondern als Quellen für kulturpolitische Vorgänge in frühen Epochen. Er unterscheidet erstens sehr genau zwischen falschen und echten Mythen, wobei die echten Mythen die erzählerische Kurzschrift von archaischen Kultdramen sind, welche die damalige Weltanschauung enthalten. Zweitens liest er die einzelnen Mythen nicht als geschlossene Erzählungen, sondern er zeigt anhand ihrer Varianten die verschiedenen zeitlichen Schichten, aus denen sie bestehen. Diese Schichten bezieht er drittens auf die verschiedenen kulturpolitischen Vorgänge in der Vergangenheit, soweit diese sich archäologisch auffinden lassen. Auf diese Weise kann er kulturhistorische Epochen mit bestimmten Schichten in der Mythologie in Zusammenhang bringen.

So kann er zeigen, dass diese Mythologien eine klare Sprache hinsichtlich der matriarchalen Gesellschaftsform sprechen, die der Mittelmeerraum und Europa vor dem Erscheinen der patriarchalen Eroberer besessen haben. Die Gestalt der Göttin erscheint bei ihm in ihrer vollen Bedeutung und Reichweite. Er weist nach, dass das frühe Europa keine männlichen Götter kannte, sondern die Große Göttin verehrte, die allein als unsterblich und allmächtig galt. Sie verkörpert die kosmische Natur, und Mond und Sonne sind ihre himmlischen Symbole. Der Mond mit seinen drei sichtbaren Phasen hatte dabei Vorrang und wurde zu einem wichtigen Symbol der dreifachen Göttin. Auch das damalige Stockwerk-Weltbild von Himmel, Erde und Unterwelt entsprach der Dreiheit der Großen Göttin. Sie erschien in den drei Gestalten der Mädchengöttin, der Göttin als erwachsene Frau und der Göttin als weise Alte. Ranke-Graves erkennt diese Dreiheit der Göttin als das Grundmuster matriarchaler Mythologie. Der dreifachen Göttin zugeordnet ist der Heros oder Heilige König als ihr Gefährte und Geliebter, der durch ihre Führung die drei Stadien von Initiation, Heiliger Hochzeit und Umwandlung durch Tod und Wiedergeburt erfährt. Damit hat Ranke-Graves das unvollständige »rituelle Muster« von Frazer um die wichtigere weibliche Seite ergänzt und dessen einseitige Interpretation aufgehoben.

Darüber hinaus gibt er nicht nur eine mythologische und religionswissenschaftliche Studie, sondern schreibt anhand des Reichtums seines Materials politisch-kritische Kulturgeschichte. Er zeigt, dass die Welt der frühen Menschen eine vollständig sakrale war und dass es vor dem Patriarchat die sakralen matriarchalen Kulturen gab, die in der patriarchalen Geschichtsschreibung ausgelassen werden. Dieses Weltbild wird bei ihm nicht aus der Perspektive einer eurozentristischen Gegenwart abgewertet, im Gegenteil, er wertet die bestehenden patriarchalen Werte ab, indem er die matriarchale als die überlegene Kultur betrachtet. Er stellt klar fest, dass sie durch eine männliche, militärische Aristokratie umgestürzt und ihr friedlicher, sakraler Charakter durch Gewalt und Herrschaft abgelöst wurden – mit zunehmend katastrophalen Folgen bis heute.

Es liegt auf der Hand, dass Ranke-Graves dieses mutigen Vorstoßes wegen von seinen Kollegen als Außenseiter abgestempelt wurde. Die Angriffe gegen ihn dienten zum größten Teil dazu, seine unbequemen Erkenntnisse als »Dichtung« abzuqualifizieren und seine Kritik an der patriarchalen Kulturgeschichte zum Schweigen zu bringen – es ist das übliche Vorgehen. Er hat jedoch mit seinem Werk und seiner Kritik an der patriarchalen Zivilisation die amerikanische und europäische Zweite Frauenbewegung, insbesondere deren kulturell-spirituellen Teil, stark beeinflusst. –

Fast zur gleichen Zeit erschien das Buch von Edwin O. James mit dem Titel »Der Kult der Großen Göttin« (1959).30 James ist zwar ein konventioneller Forscher, weshalb er zusammenhängende, mythische Strukturen nur andeutet und sich auf keinerlei Kulturkritik einlässt. Aber auf dem Boden seiner genauen Quellenstudien konnte er den Kult der Großen Göttin für einen noch weitaus größeren Kulturraum nachweisen, als Ranke-Graves es tat. In seinem gut fundierten Werk verfolgt er die Religion der Göttin zeitlich von der Altsteinzeit über die Jungsteinzeit bis in die späte Bronzezeit hinein. Er zeigt ihn in Palästina und Anatolien auf, ebenso in Mesopotamien und Ägypten, in Persien und Indien, auf Kreta, in Griechenland und in anderen Teilen Europas. Auch thematisch ist sein Werk weitgespannt, denn er stellt die Große Göttin nicht nur als die Urmutter dar, sondern auch in der Verbindung mit dem »jungen Gott«, das heißt, dem sterblichen »Heros«. Ebenso zeichnet er den Göttinnenglauben über die hellenistische und römische Epoche nach, bis hin zur christlichen Madonna, deren Attribute und Feste im Rahmen der Kirche von der Großen Göttin abgeleitet sind. Sein Werk bestätigt das von Ranke-Graves, doch es ist nur unter Religionswissenschaftlern bekannt und für die allgemeine Diskussion folgenlos geblieben. –

Eine Weiterentwicklung des Göttin-Heros-Musters erfolgte durch eine meiner eigenen Arbeiten, die sich auf Ranke-Graves und James stützt und zusätzlich die internationalen Zaubermärchen sowie Teile der mittelalterlichen Literatur in die Analyse einbezieht.31 Damit konnte ich zeigen, dass dieses Muster, welches das matriarchale Weltbild enthält, noch über Jahrhunderte in patriarchalen Zusammenhängen weiter existierte, wenn auch unterschwellig.

Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart

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