Читать книгу Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart - Heide Göttner-Abendroth - Страница 15
Zu diesem Buch
ОглавлениеDas vorliegende Buch: Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart. Band I: Ostasien, Indonesien, Pazifischer Raum, eröffnet in gewisser Weise das matriarchale Paradigma und damit die Matriarchatstheorie. Ich will hier dessen Stelle darin benennen. Es erfüllt den ersten und zweiten Schritt der Matriarchatstheorie und stellt damit, zusammen mit dem nachfolgenden Band: Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart. Band II: Amerika, Indien, Afrika, einen wichtigen Teil der modernen Matriarchatsforschung dar.
Eine gewisse Zeitverschiebung, die dabei vorkommt, braucht ein Wort der Erklärung. Sie ergibt sich daraus, dass diese beiden Bände in drei einzelnen Teilen bereits in den Jahren 1988, 1991 und 2000 publiziert wurden und damit die moderne Matriarchatsforschung eröffnet haben. Ihre Neuerscheinung jetzt beruht auf der erweiterten und an vielen Stellen präzisierten englischen Ausgabe.23 Diese Verbesserungen verdanke ich nicht zuletzt meinen persönlichen Kontakten zu indigenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus matriarchalen Gesellschaften, die zu ihren eigenen Kulturen forschen. Etliche von ihnen waren zu den drei »Weltkongressen für Matriarchatsforschung« (2003, 2005, 2011), die ich leitete, eingeladen. Das schenkte mir die unschätzbar wertvolle Gelegenheit, durch ihre Vorträge sowie über die persönlich weitergeführten Kontakte mit ihnen hinzu zu lernen, so dass sich mein Wissen erweitern konnte.
Ich beschreibe nun in Kürze, welche der genannten Schritte des matriarchalen Paradigmas in diesem Buch verwirklicht sind.
Zum ersten Schritt des matriarchalen Paradigmas: Im ersten Kapitel dieses Buches wird die Forschungsgeschichte zum Thema »Matriarchat« in ihren verschiedenen Diskussionszusammenhängen und wissenschaftlichen Zweigen verfolgt. Es ist eine Kurzfassung der ausführlichen Diskussion im früheren Band Das Matriarchat I. Geschichte seiner Erforschung (1988–1995). Dabei erscheinen alte Theorien in einem neuen Licht, und jüngere Theorien werden in ihrer Bedeutung für die moderne Matriarchatsforschung neu eingeschätzt. Insgesamt ist es eine kritische Würdigung dessen, was vor der modernen Matriarchatsforschung geleistet wurde. »Kritisch« ist sie in dem Sinne, dass bei aller Wertschätzung dieser Werke hier die Methode der Ideologiekritik dringend angebracht ist. Das macht den wissenschaftstheoretischen Unterschied zwischen der modernen Matriarchatsforschung und der bisherigen, traditionellen Matriarchatsforschung sehr deutlich. Bei allem Reichtum der Kenntnisse liegt bei den älteren Theorien nämlich erstens ein Mangel an einer klaren, wissenschaftlichen Definition von »Matriarchat« vor, weshalb sich die üblichen Vorurteile bei diesem Begriff einschleichen können (siehe oben). Das belastet diese Einzelstudien und Theorien an vielen Stellen mit unlogischer, emotional geprägter Argumentation und schwächt ihre Aussagekraft. Zweitens fehlt eine explizite Methodologie, weshalb es – trotz der Materialfülle – zu keiner Darstellung der matriarchalen Gesellschaftsform insgesamt kommt. Deren Zerstückelung kann auf diese Weise nicht aufgehoben werden, was zu keiner tieferen Erkenntnis führt. Drittens fehlt ein expliziter theoretischer Rahmen. Deshalb bleiben diese Einzelstudien und Theorien regelmäßig exotische Einzelerscheinungen, und so kann keine Einsicht in ihren Zusammenhang untereinander sowie in die Weite ihres Forschungsgebietes aufkommen. Aus diesen Gründen muss man die Beiträge der älteren Forschung hinsichtlich des Themas »Matriarchat« als vor-wissenschaftlich bezeichnen, eine Situation, die sich erst mit der modernen Matriarchatsforschung ändert. Ganz abgesehen davon ist diese ältere Forschung in politischer Hinsicht unreflektiert, da sie in der Regel keine emanzipatorischen Ziele verfolgt, sondern – mit wenigen Ausnahmen – in den Mustern patriarchalen Denkens befangen bleibt. Das Kapitel schließt mit einer kurzen Darstellung der Ansätze und bisherigen Werke aus der feministischen und indigenen Matriarchatsforschung. Sie unterscheiden sich grundsätzlich von der traditionellen Matriarchatsforschung, weil sie einen patriarchatskritischen und emanzipatorischen Hintergrund haben. Sie stellen deshalb einen ersten, aber noch nicht völlig geklärten Anfang der modernen Matriarchatsforschung dar.
Zum zweiten Schritt des matriarchalen Paradigmas: Danach folgen die ethnologischen Kapitel dieses Buches – und des Folgebandes – in denen konkrete, heute noch lebendige matriarchale Gesellschaften vorgestellt werden. Diese Kapitel sind der systematische Ort, um aus der Fülle dieser Gesellschaften nacheinander die vollständige strukturelle Definition von »Matriarchat« zu entwickeln. Ihre Reihenfolge ist deshalb keineswegs beliebig, sondern aufbauend angeordnet. In diesem Buch sind es die gegenwärtigen, matriarchalen Gesellschaften in dem riesigen Kontinent Asien, deren Muster analysiert werden. Dieser Kontinent besitzt eine immense Völkervielfalt, so geht es in diesem Buch insbesondere um Ostasien (mit Nordost-Indien), Nepal, Tibet, China und Korea. Hinzu treten matriarchale Gesellschaften aus der Inselwelt des Pazifischen Ozeans: Japan, Indonesien, Melanesien und Polynesien, insgesamt ein nicht weniger riesiger Raum. Es werden einige Hypothesen über kulturelle Zusammenhänge und Wanderungen von matriarchalen Gesellschaften in diesen Weltgegenden aufgestellt und begründet.
Wenn ich von »Gegenwart« spreche, wird darunter nicht nur das unmittelbare Hier und Heute verstanden, sondern der Zeitraum der ethnologischen Berichterstattung über solche Gesellschaften, der bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Obwohl alle diese Berichte von patriarchal geprägten Wissenschaftlern westlicher oder östlicher Herkunft ideologische Verzerrungen aufweisen, sind sie doch Augenzeugenberichte. Das meine ich mit »gegenwärtig«, denn mit Augenzeugenberichten begann die Phase der empirischen Ethnologie. Um die Sache hier so weit wie möglich von der Ideologie zu trennen, kommen ständig die kulturvergleichende und die ideologiekritische Methode zur Anwendung. Ich gebrauche diese jedoch implizit, denn um der Lesbarkeit des Buches willen kann ich sie nicht an jedem einzelnen Argument vorführen. Insofern geben die einzelnen, knappen Kapitel die Resultate dieses komplexen Verfahrens wieder.
Wenn ich ferner von der »traditionellen« Kultur einer matriarchalen Gesellschaft spreche, so meine ich damit diese Gesellschaft vor dem Kontakt mit dem europäischen oder einer anderen Art von Kolonialismus. Natürlich können wir dabei nie genau wissen, wie »traditionell« diese Muster tatsächlich sind, zumal wir die theoretischen Quellen, in denen sie beschrieben werden, ideologiekritisch betrachten müssen. Außerdem sind indigene Gesellschaften keine starren, zeitlosen Gebilde, sondern ihre Geschichte ist ebenso lang und komplex wie unsere eigene. Sie haben sich auch vor dem Kontakt mit dem Kolonialismus auf verschiedene Weise weiter entwickelt, und zwar gemäß ihren eigenen Prinzipien und Problemen. Da es aber sehr schwierig ist, darüber Näheres zu wissen, bezeichne ich ihre Muster in der Zeitphase, in der sie erstmals beschrieben werden, als »traditionell«. Außerdem versuche ich mithilfe der lokalen Archäologie, wo es möglich ist, mich behutsam ihren »traditionellen« Mustern noch weiter anzunähern. Grundsätzlich bleibe ich mir der Relativität dieser Bezeichnung »traditionell« jedoch bewusst.
Der thematische Schwerpunkt in diesem Buch liegt auf der Analyse der inneren Strukturen matriarchaler Gesellschaften, den Mikrostrukturen, das heißt den Regeln und Bräuchen, welche die Sippenordnung und die Gemeinschaften konstituieren. Die mit der Sippenordnung verknüpfte Ökonomie und Politik gehören dazu, ebenso die kulturell-spirituellen Formen, die ebenfalls auf der Sippenordnung beruhen. Im Folgeband richtet sich der Fokus auf die Makrostrukturen matriarchaler Gesellschaften, das heißt, auf Institutionen, die über die Sippenordnung hinausgehen und auf das gesellschaftliche Gefüge insgesamt verweisen. Dabei werden auch große Gebilde von mehreren matriarchalen Völkern untereinander dargestellt, wobei diese Großformen höchst verschiedene Strukturen haben. Das heißt, diese Gesellschaften sind keineswegs zu klein oder zu »primitiv«, um solche großen Zusammenhänge von mehreren Stämmen oder Völkern politisch hervorzubringen. Das können sie durchaus und haben es in ihrer Geschichte oft getan. Das Erstaunliche an diesen Großformen ist, dass sie nicht wie bei patriarchalen Gesellschaften durch hierarchischen Druck von oben zusammengehalten werden, sondern dass auch diese komplexen Strukturen auf dem Boden der Egalität aller Mitglieder gebildet werden.
Zuletzt ein Wort zu den Quellen, das heißt, zur Literaturauswahl in diesem Buch: Gerade für das Auffinden der traditionellen Muster matriarchaler Gesellschaften ist die ältere Literatur relevant. Denn sie beschreibt – trotz des patriarchalen Blickwinkels, der leicht zu durchschauen ist – eine Situation, in der diese Gesellschaften weniger zerstört waren als heute. Aus diesem Grund stütze ich mich auf relativ viele ältere Werke. Bei der neueren Literatur folge ich zwei Schwerpunkten: Die Arbeiten von feministischen Ethnologinnen sind eine wertvolle Ergänzung, denn sie bringen die Bedeutung der Frauen ans Licht, die in der älteren Literatur vernachlässigt wurde. Der andere Schwerpunkt liegt auf der Literatur indigener Ethnologinnen und Ethnologen, die ihre eigenen Gesellschaften darstellen; doch auch ihre Stimmen werden erst seit neuerer Zeit hörbar. Diese beiden Schwerpunkte sind in der Literatur nicht übermäßig zahlreich vertreten, da ihre Vertreterinnen und Vertreter meist nicht zu den geförderten und bestbezahlten Personen im Wissenschaftsbetrieb gehören. Aber ihre Arbeiten sind von besonderem Gewicht für die moderne Matriarchatsforschung, weil sie nicht die patriarchale Brille haben. Demgegenüber sehe ich nicht viel Sinn in Publikationen mit einem neueren Datum, die aber die Entwicklung der feministischen und indigenen Forschung und der modernen Matriarchatsforschung ignorieren und von daher einer »rückständigen« Perspektive anhängen. Von mir kommen mehrfach eigene Titel vor, da ich durch meine Arbeit die moderne Matriarchatsforschung als eine sehr junge Wissenschaft aufgebaut habe.