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Meine geistige Reise mit der Matriarchatsforschung
ОглавлениеWarum habe ich mich mit diesem Gebiet, dessen zentraler Begriff so sehr missverstanden und das in der Sache häufig denunziert wird, überhaupt eingelassen? Während der Zeit, als ich traditionelle und moderne Philosophie studierte und meine Dissertation in Wissenschaftsphilosophie schrieb, quälte mich unausgesetzt die Frage, was dies eigentlich mit mir als Frau zu tun hat. Denn in allen philosophischen Systemen war stets allgemein vom »Menschen« die Rede, womit jedoch nur die männliche Hälfte der Menschheit gemeint war, die zur Norm erhoben und über alles gesetzt wurde. Die weibliche Hälfte der Menschheit existierte in diesen Theorien nicht, die Gleichsetzung von »Mensch« und »Mann« war in der Weltsicht und Sprache der europäisch-westlichen Philosophie allgegenwärtig. Ich fühlte mich hier fremd und litt unter einem schleichenden Verlust meiner Identität als Frau. So begab ich mich auf die Suche nach einer Welt und Denkweise, in der ich als Frau vorkam, und ich fand sie zu meiner Überraschung in der geschichtlichen Epoche vor der griechischen und römischen Zivilisation, einer Epoche, die noch nicht patriarchal geprägt war. Damit begann ich mit meiner Forschung zu matriarchalen Gesellschaften. Ich fing bei meinem eigenen kulturellen Hintergrund an und untersuchte die sozialen und mythologischen Muster der vor-patriarchalen Kulturen Europas, des Mittelmeerraumes und des Nahen Ostens (Westasiens). Dieses Doppelstudium, das offizielle und das inoffizielle, half mir, in der repressiven Institution Universität geistig-seelisch zu überleben.
Nachdem ich noch zehn Jahre Philosophie an der Universität gelehrt hatte,2 stand ich am Scheideweg: Wollte ich dieser patriarchalen Philosophie weiter dienen, oder wollte ich mich ganz der Matriarchatsforschung widmen, die vonseiten der Universität ignoriert wurde, aber im höchsten Grad sozial und politisch relevant war? Dies erkannte ich nur zu deutlich durch meine Aktivität in der beginnenden Zweiten Frauenbewegung und der Frauenforschung, durch welche die neue Matriarchatsforschung zum ersten Mal öffentlich gehört wurde. Ich entschied mich gegen eine universitäre Karriere, verließ diese Institution und gründete die autonome »Internationale Akademie HAGIA für Moderne Matriarchatsforschung«. Seither forsche und lehre ich als unabhängige Wissenschaftlerin im Kontext der feministischen und der alternativen Bewegungen. Für mich bedeutete diese Freiheit, mich so frei wie möglich von den patriarchalen Verinnerlichungen zu machen, welche die europäisch-westliche Philosophie und Wissenschaft ihren Schülern und Schülerinnen indoktrinieren. Natürlich wurde ich seither vom wissenschaftlichen Establishment diskriminiert und in der allgemeinen Öffentlichkeit denunziert.3
Von Anfang an bedeutete diese Aufgabe, die moderne Matriarchatsforschung zu entwickeln, zugleich eine tiefe Kritik des Patriarchats. Denn Frauen sind immer Fremde in einem patriarchalen System, immer unsichtbar, ungehört, immer die »Anderen«. Dies wird im Allgemeinen »Sexismus« genannt, doch es ist weit mehr, nämlich der Kolonialismus nach innen, der in patriarchalen Gesellschaften die Ausbeutung der Frauen in ihrer Gesamtheit bedeutet.4
Bei meiner Wurzelsuche nach einer von Frauen geprägten Weltsicht und Kultur in jenen Zeiten Europas, die vor dem europäischen Patriarchat lagen, stieß ich bald an unübersteigbare Grenzen: Die frühen matriarchalen Kulturen Europas, des Mittelmeerraumes und Westasiens waren schon lange zerstört. Nur Fragmente sind übrig geblieben, verzerrt durch dicke Schichten späterer Interpretationen; diese Reste sind nicht ausreichend, um das vollständige Bild matriarchaler Gesellschaften herauszufinden. Sie konnten mir nicht weiterhelfen zu erfahren, wie die Menschen in matriarchalen Gesellschaften leben, handeln, feiern und Politik machen. Wollte ich nicht Gefahr laufen, Wissen durch Phantasie zu ersetzen, musste ich den begrenzten Raum Europas verlassen.
So entschied ich mich, die ethnologische Forschung heranzuziehen, die zu diesem Thema unternommen worden war. Aber in dieser Disziplin begegneten mir dieselben Vorurteile über matriarchale Kulturen, dieselbe Fragmentierung und Verzerrung der Sachverhalte, die ich schon in der historischen Forschung gefunden hatte. Deren Quelle, nämlich die europäisch-westliche Philosophie, kannte ich nur allzu gut, und das führte mich dazu, meine Kritik an der patriarchalen Ideologie zu erweitern. Diese Kritik richtete sich jetzt gegen den Kolonialismus nach außen, diese ausbeuterische Kombination von Imperialismus, Rassismus und Sexismus, die auf allen Kontinenten indigene Männer und Frauen zu den »Anderen« macht und sie in die Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit stößt. Das trifft noch verschärft auf matriarchale Gesellschaften zu. Genauso wie es die weibliche Hälfte der Menschheit in der westlich-patriarchalen Philosophie nicht gibt, existieren Gesellschaften und Kulturen matriarchaler Prägung gemäß dieser Ideologie ebenfalls nicht und haben angeblich niemals existiert. Dank der ideologiekritischen Methode, die ich unterdessen entwickelt hatte und die mich das Verschweigen durchschauen ließ, fand ich jedoch reichliche Evidenz für ihre Existenz. So entstand allmählich eine völlig andere Perspektive auf Gesellschaft und Geschichte, die ich das »matriarchale Paradigma« nenne.
Obwohl mit der Zweiten Frauenbewegung verknüpft, überschreitet das matriarchale Paradigma jene Auffassungen des Feminismus, die der europäisch-westlichen Denkweise verhaftet bleiben. Denn erstens ist es nicht nur mit der Situation von Frauen beschäftigt und stellt auch keinen a-historischen Antagonismus zwischen Frauen im Allgemeinen und Männern im Allgemeinen her. Im matriarchalen Paradigma gelten solche Verallgemeinerungen als kontraproduktiv, denn sie missachten die höchst verschiedenen gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontexte, in welche die Geschlechterfrage eingebettet ist. Die moderne Matriarchatsforschung bezieht sich dagegen auf das gesamte Gefüge einer Gesellschaft aus Frauen und Männern, aus Alten und Jungen und schließt das Verhältnis von menschlicher zu außermenschlicher Natur ein. Außerdem beschränkt sie sich nicht auf die westliche Welt – wie es im Mainstream-Feminismus meist geschieht –, sondern ist mit den nicht-patriarchalen Gesellschaften auf allen Kontinenten beschäftigt. Aus demselben Grund überschreitet das matriarchale Paradigma auch die gängige Genderforschung, die ebenfalls der westlichen Denkweise verhaftet bleibt und weder die Geschichte noch indigene Gesellschaften auf anderen Kontinenten in den Blick bekommt.