Читать книгу Alles wird gut ... - Heidi Dahlsen - Страница 5

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Allmählich wird Jutta bewusst, dass sie es wirklich getan hat. Irgendwie überstürzt war ihr Aufbruch schon, aber wenn sie ihren Mann erst um sein Einverständnis gebeten hätte, wäre sie nie von ihm weggekommen. Sie kann sich nicht erinnern, was der Auslöser war. Plötzlich hatte sie dieses überwältigende Gefühl – bloß weg hier. Nur gut, dass sie nicht weiter darüber nachgedacht hat. Sie schmiedete auf einmal neue Pläne für ihr weiteres Leben. Rüdiger kam darin nicht mehr vor. Sie musste leider feststellen, dass die Entscheidung, Rüdiger zu heiraten, falsch war. Das entschuldigt sie mit jugendlichem Leichtsinn. In den letzten Jahren hatte sie jedoch schwer daran zu knabbern. Ob der Umzug in ihre Heimatstadt wirklich richtig war, wird die Zukunft zeigen.

Sie ist gerade mit dem Einräumen des Wohnzimmers fertig, setzt sich in einen Sessel, lässt ihren Blick über die spärliche Einrichtung schweifen und denkt: „Na ja, etwas kahl ist mein neues Zuhause schon und das Echo, das meine Schritte auslösen, ist auch beträchtlich. Ich werde einen großen Teppich und viele Grünpflanzen besorgen, dann wird es sicher etwas wohnlicher. Obwohl – wenn ich die freien Flächen alle mit Blumen ausfülle, sieht es hier aus wie im Botanischen Garten. Das hat aber den Vorteil, dass ich Eintritt nehmen kann, wenn Besuch kommt.“

Eigentlich sieht man nach einer Trennung leidend aus und nimmt ab. Bei ihr ist das absolut nicht der Fall. Ihr Appetit ist mit so einer Wucht zurückgekehrt, dass sie sich über das Ausmaß bald Sorgen machen muss.

Leider“, denkt sie jedes Mal, wenn sie feststellt, dass die meisten ihrer Blusen und Shirts bereits eine leichte Spannung aufweisen und ihre Lieblingshose die Elastizität des Materials ziemlich ausschöpft.

Sie schaut in den großen Spiegel im Flur, betrachtet sich skeptisch und spielt das Problem herunter: „Wenn ich meinen Bauch noch ein kleines Stück einziehen könnte, würde die Hose auch nicht kneifen. Vielleicht sollte ich versuchen, mehr aus- als einzuatmen. Eigentlich sollen schwarze Klamotten oder Längsstreifen schlank machen. Pah! Das halte ich für ein Gerücht.“

Ihr ist sehr wohl klar, dass es absolut keine Lösung wäre, einfach nichts mehr zu essen, denn dann fällt sie bald vor Schwäche um. Stark sein muss sie jetzt – vor allem für ihre Tochter Jenny.

In ihrem Kühlschrank findet sie fast nichts mehr, um ein Abendessen zuzubereiten, deshalb macht sie sich auf den Weg zum Supermarkt.

Völlig in Gedanken geht sie durch die Regalreihen und überlegt, was sie noch alles benötigt. Als sie gegen einen Einkaufswagen stößt, sieht sie erschrocken hoch und sagt: „Oh, Entschuldigung.“

„Macht nichts. Es ist nichts passiert“, erhält sie freundlich zur Antwort.

Jutta betrachtet die junge Frau genauer und staunt nicht schlecht, als sie in ihr eine alte Schulfreundin erkennt.

„Lydia“, sagt sie erfreut.

„Ja“, sagt Lydia etwas verwundert, denn die Stimme ist ihr nicht vertraut.

Als sie in Juttas freudestrahlendes Gesicht sieht, ist sie ebenfalls überrascht.

„Jutta, was machst du denn hier?“

„Ich bin vergangenes Wochenende umgezogen“, antwortet diese und betrachtet Lydia neugierig.

„Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Das müssen ungefähr achtzehn Jahre sein“, stellt Lydia fest, „und wenn ich dich so anschaue, muss ich sagen, dass es eine viel zu lange Zeit war. Du bist erwachsen geworden und siehst einfach super aus. Das Leuchten deines kastanienbraunen Haares habe ich früher schon bewundert. Dass du es jetzt bis zur Hüfte hast wachsen lassen, kaschiert etwas deine Größe und zeigt, wie wundervoll es ist. Ich bin beeindruckt. Ich fand es immer schade, dass deine Eltern von dir verlangt haben, mit einem Bubikopf rumzulaufen.“

„Dafür hast du jetzt einen Bubikopf“, stellt Jutta amüsiert fest.

„Ja. Aber freiwillig. Das ist für mich praktischer“, antwortet Lydia. „Christine wird sich auch freuen, dass du wieder da bist. Sie hat letztens erst gesagt, dass sie gern wissen möchte, wie es dir wohl geht.“

„Du hast noch Kontakt zu Christine?“, fragt Jutta.

„Ja“, antwortet Lydia. „Sie wohnt immer noch in ihrem Elternhaus in der Waldsiedlung, in dem wir uns früher alle so wohl gefühlt haben. Hättest du Lust, mit zu mir zu kommen? Dann können wir uns in Ruhe unterhalten.“

„Ich bin zwar noch im Umzugsstress, aber es drängt mich niemand. Die vollen Kartons warten sicher auf mich. Es bleibt ihnen ja nichts anderes übrig. Seit Tagen bin ich allein in der neuen Wohnung. Meine Stimme ist schon fast eingerostet“, lacht Jutta. „Wenn du Zeit hast, komme ich gern mit.“

„Das ist kein Problem. Ich arbeite zu Hause und kann mir den Tag einteilen.“

Jutta ist erstaunt und fragt: „Wolltest du nicht Lehrerin werden?“

„Wolltest? Du meinst wohl – solltest. Das konnte ich gerade noch verhindern. Aber das ist eine Geschichte für sich.“

Als die beiden jungen Frauen in Lydias Wohnung angekommen sind, sieht Jutta sich um und sagt begeistert: „Ich bin immer davon ausgegangen, dass man in einem Dachgeschoss kaum Möglichkeiten hat, sich gemütlich einzurichten. Aber hier werde ich eines Besseren belehrt.“

„Die Wohnfläche ist etwas klein, aber für mich reicht es“, sagt Lydia. „Die Einbaumöbel konnte ich von meinem Vormieter übernehmen, und die Dachterrasse hat eine Firma gestaltet. Du siehst also, dass ich selbst nicht viel dazu beigetragen habe.“

Jutta schaut durch die große Glasschiebetür und hat den Eindruck, einen Garten vor sich zu haben. Sie öffnet die Tür und betritt die Terrasse.

„Wow. So viele Pflanzen mit herrlichen Blüten“, sagt sie bewundernd. „Einige dieser Büsche und Bäumchen könnte ich gut in meiner kahlen Wohnung gebrauchen.“

„Wir können uns gern nach draußen setzen und die Nachmittagssonne genießen“, schlägt Lydia vor. „Der Sonnenuntergang ist auch fantastisch.“

Jutta lässt sich das nicht zweimal sagen. Sie kommt aus dem Staunen nicht heraus und bleibt am Geländer stehen, um die Aussicht über die Stadt bis zum Horizont zu genießen. Ungläubig schüttelt sie den Kopf und ist fasziniert von dem Panorama.

Lydia bringt eine Flasche Wein und fragt: „Möchtest du? Auf unser Wiedersehen müssen wir doch anstoßen.“

„Ja, gern“, antwortet Jutta und setzt sich an den Tisch. Lydia füllt zwei Gläser und stößt mit ihrer Freundin an.

„Ich freue mich so, dass ich dich getroffen habe“, sagt Jutta und fragt neugierig: „Was macht Christine eigentlich? Und weißt du das Neuste von Olli?“

„Na klar. Mit Christine bin ich oft zusammen. Sie macht auch Heimarbeit, sodass wir uns spontan treffen können. Olli ist nach dem Studium zurückgekommen. Er hat in die höhere Gesellschaft eingeheiratet und sich ausgerechnet Sybille von Schönbeck geangelt. Er kommt zu Hause nicht so oft weg, wie er gern möchte“, sagt Lydia bedeutungsvoll.

Jutta zieht ihre Augenbrauen nach oben. „Ach, die Sybille. Wie ist er denn zu der gekommen?“

„Kennst du sie?“

„Ja. Sie hat neben uns gewohnt, bis ihr Vater die große Erbschaft gemacht hat. Dann war unsere Wohngegend nicht mehr fein genug. Sie wurde mir ständig aufs Auge gedrückt, weil ich zwei Jahre älter und schon so vernünftig war“, meint Jutta schmunzelnd und verdreht die Augen.

„Das habe ich nicht gewusst“, sagt Lydia. „Olli weiß selbst nicht, welcher Teufel ihn geritten hat, und warum er sich zu der Hochzeit hat hinreißen lassen. Ihm bleibt aber nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, schon wegen seiner kleinen Söhne. Sein Schwiegervater Karl-Otto bestimmt voll über das junge Glück. Die Namen der Enkel soll er sich regelrecht erzwungen oder sogar erkauft haben. Richard und Bertram heißen doch nur alte Männer. Sybilles Vater nennt das stolz Familientradition, als ob das heute noch jemanden interessieren würde. Und außerdem durfte Sybille Ollis Nachnamen nicht annehmen, damit der Adelstitel "von Schönbeck" weitervererbt wird. Ich glaube eher, Olli hat Sybille nur geheiratet, weil Christine ihn nicht wollte. Er hat ja schon als Kind für sie geschwärmt.“

„Das weiß ich noch. Er hat ganz schön gelitten. Aber wir hatten davon alle unseren Nutzen. Christine musste nie lange betteln, damit er uns die Hausaufgaben abschreiben lässt. Wir hätten manches Mal alt ausgesehen“, erinnert sich Jutta. „Olli hatte aber auch sein Gutes von uns. Welcher pubertierende Junge kann mit drei Freundinnen gleichzeitig angeben? Und wenn ihm mal ein Mädchen auf die Nerven ging, waren wir ja auch zur Stelle und haben es mehr oder weniger vergrault.“

„Das hat uns allen Freude bereitet“, ergänzt Lydia. „Und vergiss nicht, wie oft wir ihn mit Essen versorgt haben, als er im Wachstum und ständig auf Nahrungssuche war. Seine Eltern wären arm geworden, wenn sie ihn hätten allein ernähren müssen. Weißt du noch, als er einmal einen halben Kuchen verdrückt hat? Ich frage mich heute noch, wo das alles bei ihm geblieben ist. Er hatte nie Probleme mit seiner Figur. Beneidenswert.“

Sie betrachten sich, und es wird ihnen erst jetzt richtig bewusst, dass sie sich zufällig getroffen haben und wirklich gegenübersitzen. Sie lächeln sich an, genießen die Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit und das unverhoffte Wiedersehen.

„Ich freue mich, dass du nun wieder hier wohnst. Bist du verheiratet? Hast du schon einen Job? Was machen deine Eltern? Die habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Nun erzähle doch endlich“, drängt Lydia ihre Freundin, von sich zu erzählen.

Jutta wird ernst und dreht ihr Glas in den Händen.

Sie lässt in Gedanken die letzten Jahre Revue passieren und sagt: „Mein Vater ist vor einem halben Jahr gestorben.“ „Was?“ Lydia ist sehr erstaunt. „Davon weiß ich gar nichts. Das tut mir leid. Wie kommt denn deine Mutter damit zurecht?“

„Sie ist ziemlich hilflos und kann sich nicht damit abfinden. Sie hat doch immer nur gemacht was mein Vater wollte. Ihr fehlt nun sozusagen das Kommando. Es ist sicher besser, dass ich in ihrer Nähe bin. Gleichzeitig nutze ich die Gelegenheit und beginne ein neues Leben. Meine Tochter ist noch bei ihrem Vater und wird erst das Schuljahr beenden. Danach zieht sie zu mir.“

„Wie alt ist sie?“, fragt Lydia.

„Vierzehn. Das wahrscheinlich blödeste Alter für die Scheidung der Eltern und einen Neuanfang in einer anderen Stadt.“

„Vielleicht hast du etwas Glück“, versucht Lydia sie aufzumuntern. „Christines Tochter Tilly ist auch so alt. Ich gebe dir nachher ihre Telefonnummer, damit du sie selbst über die Schule fragen kannst und alles was du sonst noch wissen möchtest. Dann ist der Anfang nicht mehr ganz so schwer. Du musst mit Christine auch gleich einen Termin für unsere Wiedersehensparty ausmachen. Tilly wird sich freuen, noch eine alte Freundin ihrer Mutter kennenzulernen. Sie ist mein Patenkind und ein ganz tolles Mädchen. Aber davon will ich dir jetzt nichts vorschwärmen. Erzähle erst einmal weiter.“

„So schön ist meine Geschichte nicht.“ Jutta und atmet tief durch, bevor sie anfängt zu berichten. „Während meiner Ausbildung lernte ich Rüdiger kennen. Du weißt ja bestimmt noch, dass ich bei Jungs nicht die besten Chancen oder überhaupt viel Auswahl hatte, schon allein wegen meiner Größe. Also war ich eigentlich froh, als ich endlich einen Freund hatte, der nicht zu mir aufschauen musste. Was weiß man mit zwanzig Jahren schon von Liebe?“ Sie zuckt mit den Schultern. „Seine Eltern haben ein Autohaus mit Werkstatt. Sie bauten uns ein Haus, und tolle Autos waren natürlich auch kein Problem. Der Anfang wurde uns so ganz schön erleichtert. Du musst aber wissen, dass Rüdiger seinen Eltern nie widerspricht, weil er sein Erbe nicht gefährden will. Und ich habe es nicht anders gelernt. Meine Eltern haben mir immer eingetrichtert, dass man Erwachsenen Respekt entgegenbringen muss, egal ob sie ihn verdient haben oder nicht. Also haben Rüdigers Eltern meine Ideen und Wünsche von Anfang an im Keim ersticken und uns ungehindert vorschreiben können, wie wir unser Leben nach ihren Vorstellungen am besten leben. Leicht war das auf Dauer nicht. Ihre ständigen Einmischungen nannten sie großzügige Unterstützung. Noch vor der Hochzeit wurde ich schwanger und bekam Jenny. Die Schwiegereltern interessieren sich nicht sehr für sie, weil sie ein Mädchen ist. Das würde die spätere Firmenübernahme erschweren. Ein Junge macht sich da besser.“

Jutta macht eine Pause und sieht traurig vor sich hin. Sie erinnert sich wieder an die vorwurfsvollen Blicke in der Klinik und wie sich ihre Freude über Jennys Geburt schlagartig getrübt hatte.

„Der einzige Kommentar meines Schwiegervaters lautete: `Da müsst ihr aber bald einen Jungen nachlegen.´ Dabei lachte er blöd und sagte zu seiner Frau: `Du hast dich damals nicht so dämlich angestellt und mit unserem Rüdiger gleich ins Schwarze getroffen und für den notwendigen Erben gesorgt.´“

„Toll, als wenn du daran schuld bist“, wirft Lydia fassungslos ein. „Was sind das denn für Ansichten? Aber von solchen Leuten kann man wahrscheinlich nichts anderes erwarten. Da sind Hopfen und Malz verloren.“

Jutta ist den Tränen nahe und schnieft, sodass Lydia ihr ein Päckchen Taschentücher über den Tisch schiebt.

„Danke“, sagt sie, putzt sich die Nase und spricht weiter. „Rüdiger war nie mein Traummann. Ich hatte nicht erwartet, dass er mich auf Händen trägt und dachte, mit etwas gutem Willen wird schon alles gut. Aber er wollte nur, dass ich den Haushalt schmeiße und fleißig mit ihm daran arbeite, einen Erben zu bekommen. Das war mit der Zeit ziemlich eintönig. Deshalb habe ich in einem Steuerbüro einen Halbtagsjob angenommen. Ich musste zu Hause immer mal raus und wollte normale Menschen um mich haben.“ Jutta nimmt ihr Glas, trinkt einen Schluck Wein und sieht vor sich hin. Lydia spürt, dass es ihr schwerfällt, über alles zu sprechen. „Meine Eltern waren nie für mich da. Meine Mutter kennt Jenny eigentlich gar nicht, weil wir uns höchstens dreimal im Jahr besucht haben. Ich habe immer gehofft, dass sie sich freut, etwas Zeit mit ihrer einzigen Enkelin verbringen zu können, aber nicht meine Mutter. Die behauptet einfach, dass aus Jenny sowieso mal nichts werden kann. Bei Rüdigers Erbanlagen wäre das überhaupt kein Wunder – ganz der Vater eben. Du machst dir keine Vorstellungen, wie schlimm Familienfeiern bei uns waren. Rüdigers primitive Verwandtschaft und meine überheblichen Eltern. Die Schwiegereltern und ihre feine Sippschaft trinken alle gern. Mit dem Trinkspruch: `Lieber einen mehr, als einen zu wenig´, prosten die sich ständig zu und leeren alle Flaschen, die sie finden. Einmal hatte ich mit Absicht nur wenig hochprozentige Getränke auf den Tisch gestellt, da haben die die Feier einfach in den Keller verlegt und hatten sogar noch Spaß dabei. Die Gemütlichkeit wird nur daran gemessen, wie viel Alkohol durch die Kehlen fließt.“ Die Erinnerung lässt Jutta erschauern. Sie reibt sich die Arme, als würde sie frieren und schüttelt den Kopf, als wenn sie so die unangenehmen Gedanken schneller los wird. „Ich hoffe so sehr, dass Jenny sich hier gut einlebt und wir beide zur Ruhe kommen. Ich möchte mit ihr neu anfangen, ohne die störenden Einflüsse dieser Menschen. Und meine Mutter wird hoffentlich irgendwann froh sein, dass wir hier wohnen. Vielleicht kann sie auch bald wieder arbeiten und wird etwas von ihrer Trauer abgelenkt.“

„Das tut mir alles sehr leid, aber leider kann man sich seine Familie nach wie vor nicht aussuchen.“

Mehr kann Lydia dazu nicht sagen, denn sie ist eigentlich sprachlos.

Jutta stimmt ihr mit einem kräftigen Nicken zu und fragt: „Was hast du die ganze Zeit über gemacht? Wie geht es deiner Familie? Und wieso bist du nicht Lehrerin geworden? Das will ich jetzt aber ganz genau wissen.“

Lydia überlegt kurz bevor sie antwortet. „Meine Eltern erwarteten, dass ich einen anständigen Beruf erlerne und studiere – natürlich Pädagogik. Das sollte mir wohl dabei helfen, es mit meinen eigenen Kindern einmal leichter zu haben, als sie es mit mir hatten. Schnell habe ich aber gemerkt, dass viel theoretisches Wissen auf diesem Gebiet noch lange keine gute Lehrerin ausmacht. Mit anderen Worten – die Kinder gingen mir gehörig auf die Nerven.“

Jutta versteht Lydia voll und ganz. Sie kann nachvollziehen, dass es nicht jedem gegeben ist, Lehrer zu sein. Ihr selbst reichen schon die Elterngespräche und Vorhaltungen über das Fehlverhalten ihrer Tochter.

„Zum Glück habe ich die Kurve noch rechtzeitig bekommen und das Studium abgebrochen“, erzählt Lydia weiter, „und ende nicht wie unsere Geschichtslehrerin, die niemand ernst nahm und alle nur das grüne Ungeheuer nannten, obwohl die eigentlich einen richtigen Namen hat. Mein größter Albtraum war, eine unfähige Pädagogin zu werden.“

„An Fräulein Meyer kann ich mich noch gut erinnern. Ich hatte manchmal ganz schön Mitleid mit ihr. Und was machst du stattdessen beruflich?“

„Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht und lange darüber nachgedacht, wo meine Interessen liegen. Es gibt doch nichts Schöneres, als dass man sein Hobby zum Beruf machen kann.“

„Da hast du Recht“, sagt Jutta.

„Ich musste mir doch für Olli immerzu Notlügen einfallen lassen, weil er zu spät zum Unterricht kam und selbst zu wenig Fantasie besaß. Mir fiel das leicht, denn ich war ganz gut im Erfinden von Ausreden, und es kamen mir die ausgefallensten Ideen.“

Jutta nickt und stimmt Lydia lächelnd zu.

„Das war wirklich unterhaltsam. Ich war jedes Mal so aufgeregt, wenn ich unpünktlich war, dass mir der wahre Grund kaum über die Lippen wollte.“

„Du hattest ja nichts zu lachen bei deinen Eltern. Es gibt wohl kaum etwas Schlimmeres für ein Kind, als dass gleich Mutter und Vater an der eigenen Schule Lehrer sind. Außerdem bist du doch nie zu spät gekommen, oder?“, fragt Lydia nachdenklich.

„Doch, einmal. Ich musste die halbe Nacht lernen, weil ich irgendetwas nicht wusste und schlief früh so fest, dass ich das Klingeln meines Weckers nicht gehört habe. Den Schreck, der in mich fuhr, als mir das Ausmaß des Verschlafens bewusst wurde, hatte ich ewig in den Gliedern.“

„Das klingt ja, als hättest du deswegen heute noch ein schlechtes Gewissen.“ Lydia lacht und erzählt weiter. „Olli nahm es mit der Pünktlichkeit nicht sehr genau, und ich musste mir ständig glaubhafte Notlügen für ihn ausdenken. Das war die Vorarbeit für meinen Beruf und ermöglicht mir heute, Romane zu schreiben. Und ich lebe ruhiger, denn ich muss mich nicht in die Erziehung von fremden Kindern einmischen.“

„Das ist ja toll. Würdest du mir mal einen ausleihen?“, fragt Jutta, die neugierig geworden ist.

„Na klar. Im Wohnzimmer stehen alle. Such dir einfach einen aus.“

„Das mache ich. Du bist bestimmt erfolgreich. Ich dagegen habe nur eine Ausbildung als Steuerberaterin. Das ist ziemlich langweilig. Und meine Ehe war .....“, Jutta denkt kurz nach, um die richtigen Worte zu finden, „ ..... eher unerfreulich.“

„Schade, dass wir uns aus den Augen verloren hatten und nichts von deinen Problemen wussten. Wir hätten dir alle geholfen, so wie früher“, sagt Lydia.

Jutta schüttelt energisch den Kopf.

„Ich hatte genug mit mir zu tun und damit, meinen Mann bei Laune zu halten und musste aufpassen, dass Jenny nicht total auf der Strecke bleibt. Nein, das glaube ich nicht, dass ihr mir hättet beistehen können. Die Entscheidung, dass ich mich endlich von Rüdiger trenne, konnte mir niemand abnehmen.“

Inzwischen ist es so spät geworden, dass sie den Sonnenuntergang genießen können. Lydia gießt noch einmal Wein nach.

„Du wohnst sehr schön hier und ruhig ist es auch“, sagt Jutta. „Sowie ich mit Einräumen fertig bin, musst du mich unbedingt besuchen kommen. Ich werde mich bemühen, etwas Gemütlichkeit in die Zimmer zu bekommen. Mit den wenigen Möbeln, die ich aus unserem Haus mitnehmen durfte, ist dabei zwar viel Ideenreichtum gefragt, aber nach und nach wird es sicher wohnlicher werden. Hauptsache Jenny fühlt sich wohl und findet schnell Anschluss. Was machen Christine und Olli eigentlich beruflich?“

„Christine hat ihr Studium auch abgebrochen, aber nur, weil sie schwanger wurde. Sie nutzt ihr Talent ebenfalls als Beruf und stellt die verschiedensten Sachen aus Wolle und Stoff für den kleinen Handarbeitsladen am Markt her. Da sie auch zu Hause arbeitet, können wir uns oft sehen. Sie hat zwei Kinder, den sechsjährigen Daniel, und von Tilly habe ich ja schon kurz erzählt.

Olli hat eine eigene Werbeagentur und deshalb nicht so viel Zeit. Sybille macht ihm oft die Hölle heiß, weil er sich zu wenig um sie und die Kinder kümmern würde und lässt ihm kaum Freiraum. Außerdem sind wir ihr nach wie vor ein Dorn im Auge.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Gegen uns kam ja kaum ein Mädchen an. Warum sollte es ihr jetzt besser gehen?“

Als Lydia die Terrassenbeleuchtung einschalten will, sagt Jutta: „Es ist schon spät. Ich mache mich jetzt lieber auf den Heimweg. Danke, dass du dir Zeit für mich genommen und mir zugehört hast.“

Sie steht auf und geht ins Wohnzimmer.

Als sie sich noch einmal umschaut, entdeckt sie ein altes Foto, das ihr bekannt vorkommt. Sie nimmt es in die Hand und betrachtet es genau.

„An diesen Nachmittag kann ich mich noch gut erinnern. Das war in dem Sommer, als die Hitze nur am See auszuhalten war. Wie alt waren wir da? Fünfzehn?“, fragt sie.

Lydia nickt und sagt: „Dieses Bild hilft mir beim Schreiben. Sieh dir doch mal genau Ollis Gesichtsausdruck an, wie er Christine regelrecht anhimmelt. Bevor ich Liebesszenen schreibe, schaue ich mir dieses Foto längere Zeit an. Danach fällt es mir leichter, mich in die Gefühlswelt der Liebenden zu versetzen.“ Sie wird etwas wehmütig. „Irgendwie weckt dieses Bild Sehnsucht in mir, und ich wünsche mir einen Mann, der auch so für mich empfindet.“

„Das verstehe ich gut“, antwortet Jutta. „Solche Männer scheint es nur selten zu geben. Die meisten wissen wahrscheinlich nicht, was wir Frauen wirklich von ihnen wollen. Dabei stellen wir doch gar nicht so hohe Ansprüche.“ Lydia schmunzelt vor sich hin, sodass Jutta ergänzt: „Na ja, ich jedenfalls nicht.“

Sie erinnert Lydia noch daran, dass sie ihr ein Buch mitgeben wollte. Lydia geht zum Regal, nimmt ihren ersten Roman heraus und reicht ihn ihr.

Jutta sieht sich den Titel an und grinst: „Da konntest du ja gleich unsere Schulerlebnisse verarbeiten.“

„So ungefähr. Mit einem Thema musste ich doch anfangen.“

„Na, ich bin gespannt. Du hast doch nicht etwa auch über mich geschrieben?“, fragt Jutta, denn ihr fällt ein, dass ihre Jugendsünden auch mit zu diesen Erinnerungen gehören.

Lydia zuckt mit den Schultern und sagt geheimnisvoll: „Wer weiß? Lass dich überraschen.“

„Hoffentlich bekommt meine Mutter das Buch niemals in die Hände“, sagt Jutta etwas beunruhigt. Sie runzelt ihre Stirn und fragt verwundert: „Warum schreibst du unter Pseudonym?“

Lydia schmunzelt. „Als ich mit dem Schreiben anfing, konnte ich noch nicht einschätzen, ob meine Mühen überhaupt Erfolg bringen und wollte mich nicht unter meinem richtigen Namen blamieren. Also blieb mir gar nichts anderes übrig. So kann ich alles abstreiten und behaupten, dass mir diese Autorin völlig unbekannt ist.“

„Eine gute Entscheidung. Du hast mir doch hoffentlich auch einen Decknamen gegeben, oder?“, fragt Jutta und zieht ihre Augenbrauen hoch.

„Natürlich. Sonst hätte ich dich vorher um dein Einverständnis gebeten.“

Jutta atmet erleichtert aus und umarmt Lydia zum Abschied.

„Es hat gut getan, mit dir zu reden. Meine Mutter hat nur Kommentare wie: `Ich habe es doch gleich gesagt, dass diese Beziehung nicht gutgehen kann. Aber du konntest ja nicht hören´, für mich übrig. Zum Glück hat sie von allem nur wenig mitbekommen, sonst würde sie mir jetzt stundenlange Vorträge über mein Versagen halten. Aber lassen wir das lieber“, winkt sie ab und sagt nur noch: „Mach´s gut, Lydia.“

„Ja, du auch. Bis bald und sprich mit Christine einen Termin für unser Wiedersehen ab.“

„Das mache ich gleich morgen.“

Alles wird gut ...

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