Читать книгу Alles wird gut ... - Heidi Dahlsen - Страница 9
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ОглавлениеAm Samstag fährt der Möbelwagen bereits am frühen Vormittag an Juttas Wohnhaus vor.
Mit lautem, langanhaltendem Hupen kündigt Rüdiger sein Kommen an.
Beim Blick aus dem Fenster denkt Jutta: „Für die paar Möbel hätte doch ein Lieferwagen gereicht. Typisch Rüdiger. Er muss wieder maßlos übertreiben.“
Sie geht mit Jenny nach unten.
Rüdiger begrüßt seine Tochter mit einer Umarmung und zu Jutta sagt er flüchtig: „Hallo.“
Die beiden Lehrlinge vom Autohaus, Sören und Holger, springen aus dem Fahrerhaus und nicken Jutta freundlich zu. Sie nehmen sich die ersten Teile, um sie hochzutragen. Jenny läuft vor und zeigt ihnen, wo alles hin soll.
Rüdiger schiebt die nächsten Kisten nach vorn.
Jutta ergreift gleich die Gelegenheit und erzählt ihm von Jennys Schulproblemen.
„Herr Holm meint, dass sie vielleicht nicht versetzt wird.“ Rüdiger sieht Jutta wütend an.
„Ach, das wundert dich wirklich? Hättest dich eben um deine Tochter kümmern müssen. Zeit genug hattest du ja. Überarbeiten musstest du dich bei mir nicht.“
Er zeigt auf die Ladefläche und sagt: „Ich habe dir alle Möbel mitgebracht, die ich nicht brauche. Nicht, dass du rumerzählst, ich hätte dich ohne etwas aus dem Haus gejagt. Das Schlafzimmer will ich auch nicht mehr. Besonders aufregende Erinnerungen hängen da sowieso nicht dran.“
Er schnappt sich Jennys Schreibtisch und lässt Jutta einfach stehen. Unterdessen sind die Jungs wieder nach unten gekommen, um die nächsten Teile in die Wohnung zu bringen.
Da Rüdiger nicht in der Nähe ist, fragt Holger: „Wie geht es Ihnen?“
„Ganz gut“, antwortet Jutta. „Das ist ja wie ein Wunder, dass ihr so viele Möbel mitbringt.“
Holger grinst und fragt: „Sie wissen nicht, warum der Chef Ihnen so viel überlässt, oder?“
„Nein. Ich bin schon etwas erstaunt.“
„Hat Jenny denn nichts erzählt?“, fragt Sören verdutzt.
„Nein.“
Holger sieht sich um und überzeugt sich, dass sein Chef wirklich nicht in der Nähe ist.
„Die Neue vom Junior-Chef ist doch gleich zwei Tage nach Ihrem Auszug eingezogen. Die hat vielleicht ein Theater gemacht. Das Mindeste wäre ein neues Schlafzimmer. Sie würde nicht in dem Bett schlafen, das von ihrer Vorgängerin noch warm ist. Die hat so laut gewettert, dass es bis zur Werkstatt zu hören war. Dem Senior-Chef war das ziemlich unangenehm. Er brüllte uns an, ob wir nicht genug zu tun hätten. Aber gehört ist gehört“, kichert er in sich hinein und freut sich, Jutta mit Neuigkeiten versorgen zu können.
Jutta ist geschockt und steht da, wie vor den Kopf gestoßen. Ihre Gedanken kreisen. Sie versucht, sich an Auffälligkeiten der letzten Monate in Rüdigers Verhalten zu erinnern.
„Rüdiger hat also eine Neue. Das kann doch nicht sein, oder? Wie lange geht das denn schon, wenn die so schnell eingezogen ist?“
Nun kann sie auch Jennys Reaktion verstehen.
Da Rüdiger gerade nach unten kommt, nehmen sich die Jungs weitere Möbelstücke und gehen, einen verschwörerischen Blick in Juttas Richtung hinterlassend, nach oben. Jutta staunt nicht schlecht, als sich so nach und nach ihre Wohnung füllt.
„Nur gut, dass ich den Botanischen Garten noch nicht anlegen konnte“, denkt sie und schüttelt den Kopf. „Die ganze Situation ist ziemlich makaber.“
Jenny bittet die Jungs, ihre Möbel gleich aufzubauen.
Rüdiger macht einen gehetzten Eindruck, denn er will in Juttas Nähe nur die allernötigste Zeit verbringen.
„Setz dich doch. Ich koche Kaffee. Dann können wir uns unterhalten“, sagt sie.
„Ich wüsste nicht, was es zwischen uns noch zu besprechen gibt“, antwortet Rüdiger barsch und lässt sich auf einen Stuhl fallen.
„Erst einmal danke für die vielen Möbel. Damit hilfst du uns sehr“, sagt Jutta. „Es wäre schön, wenn du Jenny in der Schule abmelden würdest. Ich melde sie dann hier an. Meine Mutter hat vielleicht ein Theater gemacht, dass sie sie nicht an ihrem Gymnasium haben will. Aber hier gibt es doch nur das eine. Soll Jenny etwa jeden Tag bis zur nächsten Stadt fahren?“
„Ich kann deine Mutter gut verstehen. Sie will sich mit ihrer einzigen Enkelin nicht blamieren“, stellt Rüdiger fest.
„Seit wann bringst du Verständnis für meine Mutter auf? Wie nanntest du sie immer – verklemmte, alte Schachtel? Aber das ist ja jetzt alles ganz anders. Ich würde vorschlagen, wenn Jenny wirklich nicht versetzt wird, dass sie zur Realschule wechselt. Dort hat sie es leichter. Wenn sie die zehnte Klasse gut abschließen sollte, kann sie danach immer noch das Abi machen, oder sie lernt einen Beruf. Mir hat es auch gut getan, nach dem Leistungsdruck, den meine Eltern auf mich ausgeübt haben, nicht zu studieren.“
„Also mir wäre es lieber, wenn sie sich durch das Gymnasium boxt. Da muss sie sich eben anstrengen. So schwer wird es schon nicht sein“, sagt er.
„Wie willst du das einschätzen? Nicht einer aus deiner Familie hat je ein Gymnasium von innen gesehen“, ruft sie ihm die eigenen Schwächen ins Gedächtnis.
„Dann mach doch was du willst. Hast du schon einen Job?“, lenkt er vom Thema ab. „Das wäre doch erst mal wichtiger. Ich kann dich nicht ewig unterstützen. Ich muss das Haus neu einrichten. Billig wird das sicher nicht.“
„Nein, habe ich nicht. Aber schon einige Bewerbungen abgeschickt. Gleich am Montag frage ich in den Firmen nach.“
„Na hoffentlich“, brummt er.
Da das Wichtigste gesagt ist, sitzen sie sich schweigend und nachdenklich gegenüber. Jutta betrachtet ihren Mann und kann nicht nachvollziehen, was sie an ihm früher begehrenswert gefunden hat. Sie findet die dicke Panzerkette, die er neuerdings um den Hals trägt, protzig und einfach lächerlich, und seine Haare sind gefärbt. Fehlt nur noch eine Dauerwelle oder ein Tattoo, stellt sie amüsiert fest. Sie empfindet absolut nichts mehr für ihn, fühlt sich in seiner Nähe unwohl und findet ihn sogar unsympathisch. Sie kann sich nicht vorstellen, wie sie hätte an seiner Seite weiterleben sollen. Das wäre absolut nicht möglich gewesen. Über den Entschluss, ihn zu verlassen, ist sie sehr erleichtert.
Rüdiger wird das Schweigen mit der Zeit unangenehm. Er räuspert sich, steht auf und geht in Jennys Zimmer.
„Los jetzt, Jungs. Wir haben noch die Rückfahrt vor uns.“
„Danke, dass ihr uns geholfen habt. Den Rest schaffen wir schon“, sagt Jutta zu ihnen.
„Ich komme noch mit runter“, sagt Jenny.
Jutta steht am Fenster und sieht, dass Jenny mit ihrem Vater lautstark diskutiert und bedauert sehr, dass sie nichts verstehen kann.
Nach einer Weile kommt Jenny hoch und sagt: „Ich soll dir von Papa Tschüss sagen.“
Sie geht in ihr Zimmer und schließt die Tür. Ein Zeichen für Jutta, vorerst nicht zu stören.
Am Montag ruft Rüdiger bereits am frühen Vormittag an.
„Hallo, Rüdiger. Warte, ich hole Jenny“, sagt Jutta schnell, weil sie keine Lust auf weitere Diskussionen mit ihm hat.
„Nein, musst du nicht. Ich will dir nur sagen, dass ich eben in der Schule war und Jenny abgemeldet habe. Du kannst sie nun bei euch anmelden. Herr Holm hat mir bestätigt, dass Jenny nicht versetzt wird. Da sie nicht bei mir geblieben ist, wird sie sich nicht mehr verbessern können, denn in der neuen Schule muss sie sich erst eingewöhnen und schafft sicher keine Leistungssteigerung mehr. Meine Eltern sind nicht begeistert, dass sie sitzenbleibt. Sie haben schon immer gewusst, dass bei Jenny nicht mehr drin ist. Aber das ist ja jetzt deine Sache.“
„Wie soll ich das verstehen?“, wirft Jutta ein.
„Das ist mir egal. Mach was du willst und such dir endlich einen Job. Wie oft muss ich dir das noch sagen?“
„Ja, ich bemühe mich. Ich hole jetzt Jenny ans Telefon.“
„Musst du nicht. Ich habe keine Zeit mehr“, sagt er und hat auch schon aufgelegt.
Jutta muss das Gehörte erst einmal verdauen. Anerkennenswert ist es ja, dass er sich um die Schule gekümmert hat. Aber da hatte er wohl mehr Angst, dass sie mit unbedachten Äußerungen seinen guten Ruf und den seiner Eltern in Verruf hätte bringen können. Das bleibt ihm ja nun erspart.
Jutta kann wieder einmal nur ihren Kopf schütteln.
Als Jenny ins Wohnzimmer kommt, fragt sie: „Wer war das am Telefon?“
„Papa. Er hatte leider keine Zeit, mit dir zu sprechen. Er meldet sich bald wieder.“
„Ha, ha. Das kann ich mir vorstellen, dass er nicht mit mir reden will. Ich glaube nicht, dass er so bald wieder hier anruft“, sagt Jenny und zieht ihre Stirn zusammen.
„Wie kommst du denn darauf?“ fragt Jutta und hofft, dass Jenny nun langsam anfängt, sich ihren Frust von der Seele zu reden.
„Nur so“, antwortet sie bloß.
Also bleibt Jutta nichts anderes übrig, als Jenny zu sagen: „Papa hat dich in der Schule abgemeldet. Herr Holm hat gesagt, dass wir dich hier sofort anmelden müssen. Du musst also so schnell wie möglich wieder in die Schule.“
„Nein! Ich gehe erst nach den Ferien in die Schule. Es ist mir auch egal in welche, nur nicht in Omas.“
„Aber das nächste Gymnasium ist in der Nachbarstadt. Da müsstest du jeden Tag mit der Bahn fahren. Außerdem hat Herr Holm gesagt, dass du wirklich nicht versetzt wirst.“
„Dann ist mir sowieso alles egal“, erwidert Jenny.
Sie dreht sich um und will gehen.
„Bleib doch bitte mal hier“, sagt Jutta. „Ich habe nachgedacht und nach anderen Lösungen gesucht.“
„Willst du mir vielleicht Privatlehrer besorgen, damit ich nicht in die doofe Schule muss, oder was?“, fragt Jenny wütend.
„Nein, das kann ich mir leider nicht leisten.“
„Da habe ich ja richtig Glück, denn dann kommt ein Internat auch nicht in Frage“, sagt sie höhnisch.
„Daran habe ich noch gar nicht gedacht“, meint Jutta etwas scherzhaft, obwohl ihr überhaupt nicht zum Scherzen zumute ist.
Sie möchte gern ein sachliches Gespräch mit Jenny führen. Ein bisschen graut ihr davor, dass sie ab sofort allein für sie verantwortlich sein muss. Jennys ständige Stimmungsschwankungen und Wutausbrüche machen ihr Sorgen.
„Hör mir doch erst einmal zu. Warum wirst du immer gleich wütend und läufst weg, wenn ich vernünftig mit dir reden will? Also, deine Leistungen am Gymnasium sind nicht gut.“
„Nicht gut, ist aber fein ausgedrückt.“ Jenny verzieht ihr Gesicht.
„Was würdest du davon halten, wenn wir dich in der Realschule anmelden? Dann hast du weniger Leistungsdruck und nach der zehnten Klasse kannst du immer noch am Gymnasium das Abi machen oder eben einen Beruf erlernen.“
„Opa sagt, dass auf die Realschule nur die Hörnis gehen, die nichts in der Rübe haben“, stellt Jenny fest.
Nun ist Juttas Diplomatie gefragt. „Waren Oma, Opa oder Papa auf dem Gymnasium?“
Sie zieht den Kopf ein, weil sie weiß, dass dies pädagogisch nicht ganz in Ordnung ist. Aber was Rüdigers feine Familie sich rausnimmt, da kann sie Jennys Gedanken auch in eine andere Richtung lenken.
An Jennys wechselndem Gesichtsausdruck kann sie die entsprechenden Gedankengänge ablesen. Sie muss innerlich grinsen. Äußerlich verzieht sie keine Miene.
„Du meinst, die waren auch alle nur bei den Hörnis?“ stellt Jenny logischerweise fest.
Nun grinsen beide, jedoch ohne sich anzusehen. Sonst wären sie in lautes Gelächter ausgebrochen und dass das unangebracht wäre, ist sogar Jenny irgendwie bewusst.
„Und warum machen die mir dann die ganze Zeit die Hölle heiß?“, fragt Jenny wieder ernst und nachdenklich.
„Weil Erwachsene oft so sind. Und Hörnis gehen nicht auf die Realschule, sondern Schüler, die etwas mehr Zeit zum Lernen brauchen, denen eben nicht alles zufällt. Was nützt es, wenn du dich jahrelang quälst und dann bekommst du keinen Studienplatz, weil das Zeugnis zu schlecht ist? Bemühe dich, damit du einen guten Abschluss auf der Realschule machst, dann hast du viele Möglichkeiten für eine Lehrstelle. Papa hat gesagt, wir sollen machen was wir wollen. Also, was willst du?“
Jenny grübelt. Ihr Kopf wackelt dabei hin und her.
„Ich würde schon lieber in der Schule mehr verstehen und nicht vor den Hausaufgaben sitzen, als wäre alles in einer anderen Sprache. Und außerdem kennt mich hier ja niemand. Die wissen nicht, dass ich hängengeblieben bin und lachen mich nicht aus.“
Jutta lässt ihrer Tochter Zeit, diesen Vorschlag zu überdenken.
„Und wenn Oma und Opa mit mir meckern. Was soll ich dann sagen?“, fragt Jenny.
Jutta überlegt angestrengt, denn sie will ihrer Tochter gern noch einen pädagogisch wertvollen Rat geben. „Dann fragst du sie nur, ob du ihre Zeugnisse mal sehen darfst.“
Jennys Gesicht hellt sich auf. Sie lacht das erste Mal seit Wochen sogar laut und Jutta stimmt mit ein. Dank Rüdigers großzügiger Möbelspende erschallt das Gelächter in angenehmer Zimmerlautstärke.
Was hätten sonst die Nachbarn gedacht?
Frisch getrennt, alleinerziehend mit Kind.
Was hat die schon zu lachen?