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Leipzig, April 2013

Es roch muffig, nach altem gegerbtem Leder. Die Bibliotheksführung war so abgelaufen, wie Karla es sich vorgestellt hatte: Langweilig und öde.

Der Bestand der alten Bücher war ihr erklärt worden. Pflichtschuldigst hatte Karla sich Notizen gemacht, obwohl sie ihr digitales Diktiergerät ebenfalls mitlaufen ließ. Das Notizen machen sah allerdings professioneller aus, als wäre sie interessiert, was sie in Wirklichkeit nicht war.

Nur mühsam konnte sie ein Gähnen unterdrücken. Dieser Auftrag wäre ideal für dieses Arschloch Arne gewesen. Er war ganz vernarrt in alte Bücher, beinahe so schlimm wie Isis. Die mochte solche Speckschwarten bald lieber als alle heutigen Fachbücher zusammen. Dabei konnte man die nicht einmal lesen, weil die in Frakturschrift verfasst waren. Allerdings war das noch ein wenig lesbarer als Dokumente, die in Sütterlin verfasst waren. Da musste sie gänzlich kapitulieren.

"Ja, das war's. Falls Sie noch Fragen haben, können Sie mir die jetzt gerne stellen."

Fragen! Herrje, dazu hätte sie dem Vortrag des geduldigen Herrn folgen müssen. Was sich aus den Fingern saugen? Wenn sie keine Fragen stellte, würde sich das negativ auf ihre weitere Zusammenarbeit auswirken.

Schnell überflog sie ihre Notizen, die kaum lesbar waren, um nicht etwas zu fragen, was der Bibliothekar ihr bereits erzählt hatte. Wenn sie bloß nicht so eine Sauklaue hätte.

"Wie viel Prozent des Bestandes sind im Augenblick gefährdet und müssen restauriert werden?", wollte Karla wissen.

Falls ihr das bereits gesagt worden war, würde sie nun wie der letzte Trottel dastehen.

"Der Anteil der hochgradig gefährdeten Bücher liegt bei etwa zwei Prozent. Die befinden sich nicht mehr hier in der Sammlung, sondern werden speziell eingelagert, um sie schnellstmöglich zu bearbeiten. Etwa 35 Prozent stehen unter Beobachtung. Am schlimmsten wütet der Tintenfraß, wie ich Ihnen bereits erläutert habe. Mit diesem Problem haben wir nicht allein zu kämpfen, sondern davon sind alle Bibliotheken verbunden, die einen alten Bücherbestand besitzen. Mit der Luftfeuchtigkeit müssen wir ebenfalls aufpassen, weil die Bücher früher einfach in einem Regal in irgendeinem Raum gelagert wurden. Man achtete damals nicht darauf, ob der Raum im Sommer nicht zu warm und im Winter nicht eiskalt war. Heute weiß man das, aber früher..."

Karlas Interviewpartner schlug die Hände zusammen und schielte unauffällig auf seine Uhr. Karla entging dieser Blick nicht.

"Falls Sie sonst noch Fragen haben?" Karla verneinte. Wenn der werte Herr es eilig hatte, würde sie ihn gewiss nicht aufhalten. "Gut, dann bringe ich Sie in unsere Restaurationswerkstatt. Wir haben gerade ein paar besonders schwere Fälle in Behandlung."

Als ob es Patienten wären und nicht Bücher, ging es Karla durch den Kopf und machte sich eine Notiz. Diese Bemerkung ließe sie in ihrem Artikel verwenden.

Die Anforderungen an den Artikel hatte Karla beinahe beisammen. Nur der Punkt für die Restaurierungsarbeiten musste noch bearbeiten werden.

Das war vielleicht der spannendste Teil an der ganzen Vor-Ort-Recherche. Bis jetzt hatte sie nur alte verstaubte Schinken zu Gesicht bekommen, die vor sich hinmoderten. Das war nicht wirklich interessant gewesen, aber da hatte sie durchmüssen. Während ihres Studiums hatte sie auch Kurse belegen müssen, die ihr nicht gefallen hatten. Man wurde nicht nach seinen Vorlieben gefragt, sondern musste Leistung bringen.

"Hinein in die gute Stube."

Karla empfing ein seltsamer Geruch, als sie den Raum betrat. Was ihr da in die Nase stieg, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Nach Kleber roch es jedenfalls nicht, wie sie im ersten Augenblick gedacht hatte.

"Hier befinden wir uns in der Buchwerkstatt. Aktuell werden von unseren Restauratoren drei Bücher bearbeitet. Unsere Chefrestauratorin wird Ihnen mehr darüber sagen können. Kommen Sie."

Folgsam wie ein Schaf trottete Karla ihrem Begleiter hinterher. Nur noch diesen Punkt musste sie abarbeiten, danach hatte sie endlich Feierabend und konnte sich auf den Weg nach Hause machen.

Wie schon die Führung durch die Bibliothek ließ sie den Vortrag über die Schwierigkeiten bei der Restaurierung von Büchern über sich ergehen. Interessant wurde es erst, als sie zu einem Objekt geführt wurde, das demnächst bearbeitet würde. Das Buch hatte die Größe eines DIN A4-Blattes und war etwa zehn Zentimeter dick.

Die Chefrestauratorin Frau Hellmann zog sich weiße Baumwollhandschuhe an und hob vorsichtig den Folianten hoch.

"Wie Sie hier sehen können, hat sich der Rücken vom Einband gelöst. Das passiert bei alten Büchern, wenn sie unsachgemäß geöffnet werden. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir sehr vorsichtig arbeiten müssen, da das Leder auch noch sehr brüchig ist. Zu guter letzt, muss das Werk auch noch entsäuert werden. Das stellt noch die geringste Schwierigkeit dar."

"Mit welchen Kosten ist zu rechnen?"

"Ein paar tausend Euro dürften es schon sein. So genau kann ich es nicht sagen, denn die Summe hängt davon ab, ob während des Restaurationsprozesses nicht noch weitere Schäden zutage treten. So ein Buch hat damals bei der Anschaffung sehr viel Geld gekostet, nun kostet es eine Stange Geld, um es von den Schäden der Zeit zu befreien, damit es möglichst wieder aussieht wie neu und sich nicht selbst zerstört."

Frau Hellmann legte das Buch zurück, als sie von einer Kollegin gerufen wurde. Karla blieb allein zurück. Unentschlossen starrte sie auf ihre Notizen und dann auf das Buch. Es juckte sie in den Fingern den alten Schinken einmal zu berühren. Es konnte doch nicht schaden, einmal über den Einband zu streichen. Es sollte ohnehin überholt werden, da konnte sie keinen wirklichen Schaden anrichten.

Schnell sah sie sich um. Niemand achtete auf die angehende Wissenschaftsjournalistin. Die Zunge vor lauter Konzentration an der Lippe, strich sie vorsichtig über den Einband, fühlte die Risse, die Unebenheiten des Leders. Wo sie es nun angefasst hatte und wusste, wie sich so ein altes Buch anfühlte, konnte sie es auch aufschlagen, um zu sehen, wie damals die Buchbinder gearbeitet hatten.

Wieder ging ihr Blick durch den Raum. doch noch immer achtete niemand auf sie, als würde sie gar nicht existieren. Diese Gelegenheit durfte sie keinesfalls ungenutzt verstreichen lassen.

Karla schlug die Rückseite des Buches auf. Auf das Leder war Papier geklebt worden, das sich an einer Ecke bereits löste. Ein kleines Teufelchen schien die Besucherin zu reiten, anders ließ sich ihr weiteres Vorgehen nicht erklären.

Nachdem sich Karla erneut davon überzeugt hatte, dass alle mit etwas außer mit ihr beschäftigt waren, zog sie am Papier und löste es langsam und vorsichtig vom Leder. Was darunter zum Vorschein kam, nahm ihr den Atem. Mehrere zusammengefaltete Zettel lagen in dem Raum zwischen Papier und Einband. Bevor die angehende Wissenschaftsjournalistin klar denken konnte, nahm sie die Papiere an sich, steckte sie zwischen ihren Schreibblock und schlug entschlossen das Buch zu. Unauffällig ging ihr Blick durch den Raum, niemand schien es bemerkt zu haben.

Frau Hellmann kam zurück, als Karlas Blick auf ein Werkzeug gefallen war, das sie an ein Skalpell erinnerte.

"Wir finden überall unser Handwerkszeug", erwiderte diese, als sie Karlas Blick g. Entschuldigen Sie noch einmal für die Unterbrechung."

"War ja nicht lange", gab Karla zurück.

Ihr Gesicht brannte und jeden Augenblick glaubte sie ihren Block öffnen zu müssen, weil sie beim Diebstahl ertappt worden war. Nichts geschah. Der angehenden Wissenschaftsjournalistin wurden noch einige Arbeitsgänge erklärt, dann war auch ihr Termin in der Buchwerkstatt beendet.

Karla wurde von ihrem Bibliotheksführer, dessen Namen sie sofort nach seiner Vorstellung wieder vergessen hatte, zum Ausgang geführt. Sein Name stand irgendwo in ihren Unterlagen, dass sie ihn nicht danach fragen musste, falls sie ihn in ihrem Artikel zitieren wollte.

"Ich hoffe, dass wir Ihnen helfen konnten, damit Sie Ihren Artikel schreiben können."

"Ich bin überzeugt, dass ich alles habe, um einen wundervollen Text zu verfassen", gab die angehende Wissenschaftsjournalistin sich betont fröhlich.

Widerwillig gab Karla ihrem Gegenüber die Hand. Zwar war sie nicht so empfindlich wie Isis, dennoch widerte dieser kalte feuchte Griff sie an, der ihre Hand umfasste.

"Grüßen Sie Ihre Bekannte Frau Just. So weit ich weiß, mag sie alte Dokumente."

"Wie?"

Karla versteifte sich, ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, das innere Zittern setzte wieder ein

"Oh, ist Ihnen nicht wohl?" Bestürzt sah der Bibliotheksangestellte sie an.

"Danke, alles Bestens. Vielleicht der Luftwechsel."

"Grüßen Sie Frau Just, wenn Sie diese sehen. Ist sie wieder einem Rätsel auf der Spur, das gelöst werden muss?"

"Eher einem Problem, allerdings privater Natur."

Karla konnte sich gerade noch verkneifen von Tausendschön zu sprechen. Wie sah das aus? Eine erwachsene Frau, die einem Elefanten hinterher trauerte. Außerdem ging das ihr Gegenüber nun wirklich nichts an.

"Dann auf Wiedersehen."

Hoffentlich nicht, ging es Karla durch den Kopf.

Irgendwie war ihr der namenlose Begleiter unheimlich geworden. Hatte er vielleicht mitbekommen, wie sie die Papiere aus dem Buch entfernt und eingesteckt hatte? Eigentlich unmöglich, hatte er sich nicht im Raum befunden.

"Tschüß!"

Karla machte, dass sie davon kam. Es war, als würden die Zettel ein Loch in ihre Tasche brennen.

Im Zeichen des Denkmals

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