Читать книгу Im Zeichen des Denkmals - Helen Dalibor - Страница 6
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ОглавлениеHamburg, März 2013
Da saß sie nun und wusste nicht, was sie tun sollte. Es würde ihr erster großer Artikel werden. Eigentlich sollte sie sich freuen, doch gelang es ihr nicht. Denn im Grunde genommen war sie nur der Ersatz, der es richten musste. Dennoch würde es ihre Bewährungsprobe sein. Wenn sie scheiterte, war es vorbei, dann war der Traum Wissenschaftsjournalistin ausgeträumt.
Nein, scheitern durfte sie keinesfalls. Dazu musste sie alles richtig machen, sich vorbereiten, Empfehlungsschreiben vorweisen, um schnellstens einen Termin zu bekommen. Denn der Artikel sollte ins nächste Heft. Das kam zwar erst in drei Monaten heraus, aber der Redaktionsschluss war bereits in zwei Monaten. Sie würde sich schon zu helfen wissen, wozu hatte man berühmte Freunde?
***
Das Laufwerk summte leise, las die Daten auf der SD-Karte aus und ein Programm übertrug die Bilder auf die Festplatte des Computers.
Ein soeben erstellter Ordner wurde angeklickt und danach erschienen viele kleine Bildchen auf dem Bildschirm. Alle zeigten ein und dasselbe Motiv: Einen Elefanten, der fröhlich in die Kamera sah. - Tausendschön.
Die Bilder mit der fröhlichen Dickhäuterin wurden nicht beachtet, sondern hinuntergescrollt bis einige wenige Dateien kamen, auf denen die Elefantin kaum anders aussah als auf den Fotos zuvor. Doch gerade diese erregten die Aufmerksamkeit der Betrachterin. Eines der Fotos erschien auf dem Bildschirm und füllte diesen aus. Nun ließ sich erkennen, dass die Elefantenkuh in sich gekehrt, traurig wirkte.
Dieses Bild und einige weitere waren aufgenommen worden, als die Dickhäuterin sich unbeobachtet fühlte.
Es zerriss der Betrachterin das Herz, ihre Elefantin so zu sehen.
"Ach, Socke, ich wünschte, dass ich dir helfen könnte. Leider habe nicht die Macht dazu, wenn auch das nötige Geld. Bloß deine Patin kann ich sein."
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre laut ausgesprochenen Gedanken.
"Stör ich?", fragte Karla zaghaft.
"Nein, komm rein", antwortete Isis und blinzelte aufgestiegene Tränen weg.
"Hast du dir wieder Fotos von Tausendschön angesehen?"
Karla war die gequälte, leidende Miene ihrer Freundin aufgefallen, die Isis nur zeigte, wenn sie an ihren Lieblingselefanten dachte oder sie sich Bilder von der Dickhäuterin ansah. Am Wochenende war Isis wieder in Belgien gewesen, was ihr Verhalten erklären würde. Zwar hatte der Zoo offiziell für die Besucher noch geschlossen, aber das galt nicht für Isis Just, Tausendschöns Patin.
"Mmh", murmelte Isis undeutlich und fügte barsch hinzu: "Was willst du?"
Erleichtert wagte sich Karla in den Raum vor. Wenn ihre Freundin diesen Ton an sich hatte, was die Welt wieder in Ordnung.
"Ich soll einen Artikel über alte Bücher schreiben", platzte sie heraus.
"Schön für dich, auch wenn mich wundert, dass sie gerade dir so was aufs Auge gedrückt haben. Du und dein Ebook-Reader seid kaum noch zu trennen." Misstrauisch beäugte Isis ihre Mitbewohnerin. Wer weiß, was sie mit alten Büchern meinte. Den Verdacht galt es erst einmal auszuräumen. "Willst du etwa über die Schriftrollen berichten oder über das Tagebuch des spanischen Priesters?"
"Nein, nein!", abwehrend hob Karla die Hände. "Den Ruhm kannst du gerne behalten, hast es schließlich gefunden. Ich wollte dich nur um etwas bitten. Du bist inzwischen so was wie eine Kapazität unter den Historikern, und da wollte ich dich fragen, ob du mir ein Empfehlungsschreiben ausstellen kannst." Nervös knetete die angehende Wissenschaftsjournalistin ihre Hände. Sie hatte ihre Bitte vorgetragen, was ihr nicht leicht gefallen war. Nun müsste ihr Gegenüber entscheiden.
Sprachlos sah Isis ihre Freundin an. Mit allem hatte sie gerechnet, nur damit nicht.
"Siehst du, ich soll mir alte Werke in der Leipziger Bibliothek ansehen, wie auch einen Blick in die Restaurierungswerkstatt werfen. Jedenfalls macht es sich besser, wenn ich so ein Empfehlungsschreiben vorweisen kann. Dann wirke ich wichtiger und werde auf einer unsichtbaren Warteliste nicht auf den vorletzten Platz gesetzt."
"Und wieso kommst du da zu mir?", wollte Isis wissen und warf nochmals einen misstrauischen Blick auf Karla. "Als studierte Ägyptologin und Archäologin habe ich mit mittelalterlichen Büchern nichts am Hut, auch wenn ich einige Seminare bei den Historikern belegt habe. Könnte dir dein Praktikumskollege nicht eher helfen? Der war doch Historiker, wenn ich mich recht entsinne."
"Das geht ja eben nicht. Der Artikel war eigentlich Arnes Auftrag, aber dieser Idiot hat es vorgezogen, eine Stelle an der Uni Thüringen anzunehmen."
"In Erfurt?"
Bei Karla musste man immer noch einmal nachfragen, weil sie öfters Namen, Städte und Flüsse durcheinander bekam.
"Nein, die Uni Thüringen ist irgendwo in Süddeutschland. Hab mich selbst gewundert, dass dort eine Universität nach einem weit entfernten Bundesland benannt ist." Der angehenden Wissenschaftsjournalistin fiel noch etwas ein, was Arne ihr stolz erzählt hatte. "Da soll auch der zurückgetretene Papst gelehrt haben."
Der letzte Hinweis bestätigte die Vermutung der Ägyptologin. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen schüttelte sie leicht den Kopf. Ihre Freundin war wirklich immer für eine Überraschung gut.
"Tübingen meinst du. Na, da würde ich auch alles stehen und liegen lassen, wenn ich von dort ein Stellenangebot bekommen würde. Der Ruf dieser Uni geht weit über Deutschlands Grenzen hinaus."
"Siehst du, genau das hat sich dieser Blödmann auch gesagt. Und jetzt hänge ich da mit diesem Artikel - ohne Empfehlungsschreiben, ohne alles."
"Wieso rufst du diesen Arne nicht an und bittest ihn um diesen Wisch, wenn er dir so wichtig ist."
"Hab ich doch!", jammerte Karla und verengte im nächsten Augenblick ihre Augen zu schmalen Schlitzen. "Aber das Arschloch sagt, er hätte keine Zeit."
"Ach", Isis tat überrascht, "ich dachte, der würde dir aus der Hand fressen. Oder wie war das noch einmal?" Die junge Ägyptologin fixierte ihre Freundin, deren Gesichtszüge sich verhärteten. "Hast du nicht vor einiger Zeit so von ihm geschwärmt, dass du ihm jede Aufgabe aufs Auge drücken könntest und er würde es widerspruchslos ausführen? Ich glaube, mich an solch ähnliche Worte zu erinnern. Vielleicht trügt mich auch mein Gedächtnis."
Verärgert winkte Karla ab.
"Hör auf! Arne hat sich nicht so entwickelt, wie ich dachte."
"Weil er nicht auf dich angesprungen ist, verstehe."
Karla war überzeugt, Männer bezirzen zu können. Meist stimmte es, aber im Fall ihres ehemaligen Kollegen anscheinend nicht. Etwas Privates anfangen wollte sie mit den meisten nicht. Dazu passten sie einfach zu wenig zu ihr. Kurz ließen sie sich ertragen, mehr auch nicht.
"Quatsch! Für was hältst du mich? Für einen männermordenden Vampir?"
"Jedenfalls passte dein Ex-Praktikantenkollege in dein Beuteschema. Ein wenig langsam im Denken, nimmt dir jede niedere Arbeit ab, dazu noch höflich und zuvorkommend. Also der ideale Mann."
"Zum langweilen", fauchte Karla. "Aber nimm du ihn dir. Falls es mit Oliver mal nicht mehr klappen sollte, kannst du auf diesen Blödmann zurückgreifen. Seinen Namen kannst du dir leicht merken: Gibt nicht so viele, die Arne Kramm heißen."
Wütend starrte die angehende Wissenschaftsjournalistin ihre Freundin an. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und wartete nur auf ein weiteres Wort, das sie reizen würde. Isis allerdings erkannte die Gefahr, die sie selbst heraufbeschworen hatte.
"Gut, vielleicht bin ich zu weit gegangen", ruderte sie zurück. "Falls dem so ist, tut es mir leid. Ich war nur verwundert, weil nach deinen vorherigen Schilderungen das Verhalten deines Ex-Kollegen einfach nicht zu ihm passen wollte."
"Vergiss es." Isis merkte oft gar nicht, wie sie ihr Gegenüber mit Worten reizte oder verletzte. Das war etwas, das man bei ihr übersehen musste, auch wenn es einem nicht leicht fiel. Aber Karla war nicht gekommen, um über Arne Kramm zu reden, sondern weil sie ein wichtiges Anliegen hatte. Darauf musste sie sich konzentrieren. "Schreibst du mir jetzt ein Empfehlungsschreiben?"
"Gib mir den Text vor und ich unterschreibe. Bleibt allerdings eine Ausnahme. Wieso eine Chemikerin bei einer historischen Zeitschrift landet, ist mir wirklich ein Rätsel, noch dazu, wo sie keine Ahnung von Geschichte hat."
"Da kann man sich reinlesen. Außerdem ist der ehemalige Grabungsleiter von Troja ebenfalls Chemiker."
"Schon gut, ist eben jeder Beruf für alles zu gebrauchen."
Kopfschüttelnd wandte die junge Ägyptologin sich wieder ihrem Computer zu. Sie hätte durchaus was anderes machen können, als in die Wissenschaft und Lehre zu gehen. Bloß hatte sie weder in die Familienfirma eintreten noch für irgendeine Zeitschrift Artikel schreiben oder in irgendeinem Museum versauern wollen. Sie brauchte das Spannende, das Abenteuer. Und dazu eignete sich nun einmal ihre Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Professor Theiding an der Freien Universität.
Karla wollte gerade das Zimmer verlassen, als sie sah, wie Isis wieder die Fotos mit ihrem Lieblingselefanten betrachtete. Ihre Körpersprache, die hängenden Schultern, sagten alles. Sie trauerte wieder.
Kurz überlegte Karla, ob sie ihrer Freundin eine Hand auf die Schulter legen und sie zu trösten versuchen sollte. Aber sie kannte Isis gut genug, um zu wissen, dass diese weder Mitleid noch Mitgefühl wollte. Sie machte immer alles unter sich aus. Aber wie lange würde ihr das noch gelingen? Man musste ein Auge auf die Ägyptologin haben, dass sie in ihrer Trauer nicht völlig versank.
"Nimm dir das mit Tausendschön nicht so zu Herzen. Sieh das Positive. Wenn du bei ihr bist, ist sie glücklich und wenn du gehst, freut sie sich darauf, dass du bald wiederkommst."
"Sie wird dort eingehen", erwiderte Isis leise, kaum hörbar. "Jeder, der Mala sehr gut kannte, erkennt sofort, dass sie nicht mehr die ist, die sie einmal war. Sie versucht es zu vertuschen, wie es ihre Art ist, wenn sie genügend Aufmerksamkeit bekommt, aber mich kann sie nicht täuschen. Sieh dir ihre Augen an." Karla folgte der Aufforderung ihrer Freundin. Zwar wusste sie nicht, was es bringen sollte, denn Elefanten waren ihr fremd. Dennoch betrachtete sie das Bild und konnte seltsamerweise tatsächlich etwas erkennen. Die Augen der Dickhäuterin wirkten nicht mehr so fröhlich. Man konnte ihr ansehen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. "Tausendschöns Augen haben ihren Glanz verloren. Wenn die alte Socke dort weiter bleibt, wird sie nie die Sechzig erreichen, dann ist sie in wenigen Jahren tot. Ich weiß es und das fürchte ich."
Isis' Stimme hatte zu zittern begonnen. Auch wenn Karla das Gesicht ihrer Freundin nicht sehen konnte, war sie davon überzeugt, dass diese kurz davor stand zu weinen. Nun legte sie doch eine Hand auf die Schulter der jungen Ägyptologin, die sich sogleich versteifte. Sie wollte einfach nicht getröstet werden.
"Dann hol sie nach Hause, wenn du wirklich davon überzeugt bist. Schließ dich mit anderen einflussreichen Leuten zusammen und begründe deine Meinung mit den richtigen Argumenten, die jeder versteht. Nur so wirst du Tausendschön zurückholen können."
"Klar, am besten schreibe ich alle prominenten Twitter-User an, dass die alte Socke ihre Unterstützung braucht. Was denkst du, wie viele würden mir helfen?"
Schon an den Worten der Ägyptologin erkannte Karla, dass ihr Vorschlag nicht ernst genommen wurde. Aber gab es eine andere Lösung? Nein, sonst hätte Isis schon irgendetwas unternommen.
"Dann mach halt was anderes. Musst darauf aufmerksam machen, dass es ihr dort schlecht geht. Irgendwann wird man dir Glauben schenken."
"Vielleicht, aber nun lass mich allein und schreib mir ein Empfehlungsschreiben."
Damit du weiter in aller Ruhe trauern kannst, ging es Karla durch den Kopf, als sie ihre Freundin allein ließ.
Damals, als Isis die Neuigkeit erfahren hatte, dass die Dickhäuterin nach Belgien umgezogen war, die junge Ägyptologin benutzte nur das Wort abschieben, war sie in einen derartigen Weinkrampf verfallen, dass Mona und Karla fürchteten, sie würde daran ersticken. Isis hatte in ihre Bettdecke gebissen, am ganzen Körper gezittert und sich so allein und hilflos gefühlt. Niemand hatte es vermocht, sie zu trösten. Niemand hatte ihr den Schmerz und das Leid nehmen können.
Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte die Ägyptologin so geweint. Weder beim Tod ihres Bruder, bei der Scheidung ihrer Eltern noch beim Tod ihres Großvaters.
Die Tränen waren gekommen und wieder versiegt. Doch als Mala Tausendschön gegangen worden war, hatte sie nicht mehr aufhören können. Ihr Herz war gebrochen. Das liebste Wesen auf Erden, das ihr näher stand als jeder Mensch, hatte sie verlassen. Seitdem konnte Isis nachvollziehen, was in ihrem Urgroßonkel Pascal vorgegangen war, wie er sich gefühlt hatte, als Bertha ihn für immer verließ, um in den USA ihr weiteres Leben als Zirkuselefant zu verbringen.
Die Ägyptologin war lange über den Punkt hinaus, wo man trauerte. Die einen brauchten länger für die Verarbeitung als der Durchschnitt. Sie gehörte zu denen, die lange Zeit dafür brauchten.
Das Leben musste weitergehen; mit oder ohne Mala Tausendschön. Karla musste schließlich auch weiter arbeiten, obwohl ihr Schlattenschammes nicht mehr anwesend war. - Welch ein Vergleich!