Читать книгу Im Zeichen des Denkmals - Helen Dalibor - Страница 7
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ОглавлениеMoskau, 15. September 1812
Was taten sie hier? Warum waren sie überhaupt hier? Freiwillig war es nicht geschehen. Wer hatte schon Lust auf ein Leben als Soldat? Als kleiner Junge gab es nichts Schöneres als Krieg und einen tapferen Soldaten zu spielen, der alle Bedrängten aus ihrer misslichen Lage befreite und wegen großer Tapferkeit geehrt wurde. Aber wenn man tatsächlich ein Leben als Soldat führte, wurde man schnell eines Besseren belehrt. Die Illusionen, die man noch als Kind gehabt hatte, waren mit einem Atemzug verschwunden.
Es gab nichts Heroisches. Man versuchte den nächsten Tag zu erleben und nicht in irgendeiner Schlacht oder bei einer Streiterei umzukommen. Es gab keine Stadt, die vor Eindringlingen geschützt und verteidigt werden musste. Sie selbst waren die Eindringlinge. Sie töteten und zerstörten. Vor ihnen musste man sich in Acht nehmen, wenn man sein Leben nicht frühzeitig beenden wollte.
Die Zeit war lange vorbei, dass er als kleiner Junge Soldat gespielt hatte. Es kam ihm so vor, als sei es in einem anderen Leben gewesen. Wie hatte er es damals nur freiwillig spielen können? Jedem Jungen sollte er verbieten, Soldat zu spielen oder sich zu wünschen, es einmal werden zu wollen, wenn er groß war. Sie alle wussten nicht wie entbehrungsreich das Leben ist, wenn man lebendes Futter für den Feind war. Sie wussten nichts davon, wie man stank, weil man tagelang in seinen Kleidern ausharren musste und vor Dreck starrte, bevor man sich endlich wieder einmal waschen konnte. Genauso wenig ahnten sie, wie man hungerte, fror und die anderen verfluchte. Nie war man allein, immer war jemand um einen. Einen Namen hatte man nicht, nur einen Rang. Man hatte zu gehorchen, Befehle auszuführen, ob man wollte oder nicht. Was war daran heldenhaft? Man versuchte bei einer Schlacht zu überleben, verlor irgendwann das Gefühl der Scham dafür einen Menschen töten zu müssen. Man kämpfte ums nackte Überleben, da konnte man es sich nicht leisten, vorher sein Gewissen zu befragen, ob es recht sei, was man tat. Entweder tötete man oder man war es selbst, der auf dem Feld zurückblieb und ein Ziel der Plünderer und Krähen wurde.
Das alles hatte er nie gewollt und dennoch war er jetzt hier. Nach einem monatelangen Marsch, den Feind immer in Sichtweite, so als trieben sie diesen vor sich her, waren sie endlich dort angekommen, wo dieser Despot hingewollt hatte. Sie hatten die Stadt erreicht, die zu seinem größten Triumph werden sollte. Nur bisher ließ dieser noch auf sich warten. Zum ersten Mal war etwas nicht so eingetreten, wie er es sich erhofft hatte.
Anstatt das der Korse, dessen Muttersprache nicht einmal Französisch war, seine Niederlage eingestand, harrte er hier aus, ließ wertvolle Zeit verstreichen, die sie längst noch tiefer ins Land hätten marschieren können.
Heute Morgen war er unter den Klängen der Marseillaise in der Stadt eingetroffen und hatte mit seiner Leibgarde den Kreml bezogen. Dort wartete er auf eine Botschaft des Zaren - bisher vergeblich.
Er glaubte nicht daran, dass Napoleon noch eine Nachricht geschickt würde. Bereits gestern Abend hätte ein Bote erscheinen müssen, als sie selbst vor den Toren der Stadt gestanden hatten und warteten, dass der Nachzug der russischen Armee endlich aus Moskau verschwand.
Der Korse war gescheitert, er wusste es nur noch nicht.
Dabei hatte er schon wie der Sieger ausgesehen. Nachdem er die russische Armee immer tiefer ins Landesinnere zurückgedrängt hatte, hatten sich die Russen endlich der Schlacht gestellt. Bei Borodino kam es zu den blutigsten Kämpfen, die Napoleon je erlebt hatte. Besonders die deutschen Regimenter hatten hohe Verluste erlitten, vor allem die Kavallerie wurde bis auf einen kleinen Teil völlig vernichtet, sodass überlebende Reitersoldaten eine Kavallerie zu Fuß bilden mussten, weil es zu wenig Pferde gab. Man stelle sich das mal vor! Eine Kavallerie ohne Pferde! Unter diesen Korsen schien alles möglich zu sein.
Obwohl Napoleon klar gesiegt hatte, verkündete der Feldmarschall Kutusow einen russischen Sieg. Der musste sich auch gedacht haben, wer schon nachprüfen würde, was sich wirklich in der Pampa zugetragen habe?
Mit großen Erwartungen waren sie weiter gen Moskau vorgerückt. Aufgrund der Verkündung des Sieges von Borodino hatte man in Moskau keine Vorkehrungen getroffen, um die Stadt zu verlassen. Man fühlte sich sicher.
Doch als Nachricht kam, dass Napoleon sich der Stadt näherte, flohen die ersten Einwohner und brachten sich in Sicherheit. Sie wurden noch als Verräter Feiglinge beschimpft, weil man zu dem Zeitpunkt noch annahm, dass die siegreiche russische Armee Moskau vor dem Antichristen, wie die russisch-orthodoxe Kirche Napoleon bezeichnete, zu verteidigen.
Moskau wurde aufgegeben. Dies geschah so spät, dass am nächsten Tag die französische Vorhut bereits in die Stadt einrücken wollte, während Moskau noch nicht vollständig geräumt war. Nach mehreren Verhandlungen, die Murat nicht persönlich führte, wurde entschieden, dass die französische Vorhut erst zwei Stunden, nachdem die russische Nachhut die Stadt verlassen hatte, in der Stadt einmarschieren würde.
Die russische Nachhut hatte sich noch nicht einmal in Moskau befunden, sondern war erst in die Stadt eingezogen. Am Horizont tauchte bereits die französische Kavallerie auf, was zu weiteren Verhandlungen führte. In der Zeit hatten sich beide Seiten tatenlos gegenüber gestanden.
Er hatte beobachten können, wie es bereits zu dem Zeitpunkt zu vereinzelten Bränden gekommen war. Heute Morgen hatte man diese unter Kontrolle gehabt. Wenn der Kaiser der Franzosen in Moskau einzog, durfte es keine Makel geben.
Gestern Abend hatten sie endlich in Moskau einmarschieren dürfen. Unter all den Soldaten hatten sein Bruder und er sich befunden. Sie kamen aus Sachsen und hatten bei Borodino mehr Glück gehabt als viele ihrer Kameraden. Im Gegensatz zu denen waren sie mit heiler Haut davongekommen und hatten nicht einmal einen Kratzer davongetragen.
Nun waren sie endlich in der Stadt, doch Moskau bot einen jämmerlichen Anblick. Fast wirkte die Stadt wie ausgestorben. Die meisten Einwohner waren geflohen, hatten ein paar Bedienstete zurückgelassen, die auf die Häuser aufpassen sollten. Eine nutzlose Aufgabe, wie er fand. Denn früher oder später würde es zu Plünderungen kommen, obwohl es ihnen verboten war. Seine Kameraden würden schon irgendwelche Gründe finden, um einer Strafe zu entgehen. Und sie hatten eine Möglichkeit gefunden - das Feuer.
Bis jetzt hatte er nicht geglaubt, dass sie tatsächlich friedlich in Moskau einziehen würden. Sie hatten den gegnerischen Truppen direkt ins Gesicht sehen können, so nah waren sie ihnen gewesen. Schmähworte waren gefallen, auf beiden Seiten, aber kein einziger Schuss.
Er verstand immer noch nicht, warum Moskau nicht viel eher geräumt worden war. Es schien, als habe niemand damit gerechnet, dass Napoleon auf die Stadt des Zaren zuhalte. Die Russen hatten die Schlacht von Borodino unter erheblichen Verlusten verloren. Wie konnten sie annehmen, der Korse würde sich damit zufriedengeben? Napoleon würde erst von Russland ablassen, wenn er es sich einverleibt hatte, wie er es mit großen Teilen Europas getan hatte. Ob Zar Alexander I. da mitspielen würde und der Korse sich an dem großen Stück nicht verschluckte?
Die russische Arme war fort, aber ihre Verletzten hatten sie da gelassen. Wer den Rückzug behinderte, wurde da gelassen, um das eigene Leben nicht zu retten. So war es in jeder Armee und selbst die einfachen Menschen oder die Tiere hielten sich daran. Wer sie aufhielt und dadurch ihr eigenes Leben gefährdete, wurde einfach zurückgelassen, ohne Rücksicht auf Verluste.
Er wich vor einen Feuer zurück, das mitten auf der Straße loderte. Obwohl alle gestrigen Brände gelöscht sein sollten, brannte es immer noch an einigen Stellen in der Stadt. Entweder waren nicht alle gelöscht worden oder seine sogenannten Kameraden hatten neue Feuer entfacht. Diesem ungehobelten Haufen konnte man alles zutrauen.
Sie sollten sich hier nicht allzu lange aufhalten. Am besten wäre der Rückzug. Der groß angekündigte russische Winter würde bald vor der Tür stehen. Aber dieses Ungeheuer schien überhaupt nichts mehr wahrzunehmen. Harrte einfach nur aus und wartete darauf, dass der Zar sich bequemte, ihn sprechen zu wollen. Da könnte er bis zum St. Nimmerleinstag warten, aber Alexander würde nie kommen. Warum gab er nicht einfach zu, dass er zu viel gewollt hatte und gescheitert war? Eine Niederlage einzugestehen, kam für den Bezwinger Europas natürlich nicht in Betracht. Es würde Schwäche bedeuten und das konnte er sich nicht leisten.
So wie er keine Schwäche zeigte, verlangte er es auch von seinen Soldaten, selbst wenn diese überhaupt nicht gewillt waren für ihn zu kämpfen. Was hatte er mit diesem Ungeheuer zu tun?
Er hatte nicht einmal für ihn kämpfen wollen, aber hatte das Napoleon oder irgendjemand anderen interessiert? Wer im richtigen Alter war, wurde rekrutiert, ob er nun wollte oder nicht. Jeder hatte in der Grande Armée zu kämpfen, denn diese brauchte ständig Nachschub, um ihre Verluste aufzufüllen. Frankreich gab das nicht alles her, irgendwann wären dort die Ressourcen erschöpft gewesen, deshalb bediente man sich der jungen Männer in den Dörfern, Orten, Städten und Ländern, die erobert worden waren. Gefragt wurde niemand, sondern einfach in eine Uniform gesteckt. Wer sich wehrte, gegen diese Ungerechtigkeit aufbegehrte, der musste mit strenger Bestrafung rechnen. Sobald man irgendwie erfasst war, konnte man nichts mehr tun, war einer unter vielen und konnte nur hoffen, dass man die nächste Stunde, den nächsten Tag oder die nächste Woche überlebte.
Jetzt waren sie hier in Moskau, hatten den Marsch durch Russland überlebt, um sich anschließend zu Tode zu langweilen. Einige konnten es nicht lassen, gingen in die Stadt und gingen plündernd durch die Häuser. Davon hatte er sich immer ferngehalten, denn was brachte es, andere Menschen auszurauben? Sie hatten ihm genauso wenig getan wie er ihnen, also sollten sie unbehelligt bleiben und weiter ihren Tätigkeiten nachgehen. Was sollte er mit den ganzen Bildern oder sperrigen Gegenständen, die seine Zwangskameraden von ihren Touren mitbrachten? Das alles musste auf dem Rückweg transportiert werden. Dafür gab es kaum genügend Transportmittel und wenn der Winter anbrach, würden sie es überhaupt nicht mehr transportieren können. Er hatte gehört, dass der russische Winter die harten Wege aufweichen und zu einer schlammigen Masse werden ließ. Hoffentlich würde sich dieses Ungeheuer rechtzeitig zum Rückzug entscheiden, damit sie diesem Wetter entgingen. Aber je mehr Zeit verstrich und je näher der Herbst kam, desto mehr war er davon überzeugt, dass sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen würden.
Er ging auch in die Stadt, aber nicht um zu plündern, sondern um sich die Zeit zu vertreiben. Dabei hatte er auch ein junges Mädchen gerettet, das von einem dieser widerlichen Franzosen geschändet werden sollte. Er hatte nicht lange nachgedacht, sondern sich auf den älteren und viel kräftigeren gestürzt. Nur dank seiner Schnelligkeit war es ihm gelungen, den anderen zu besiegen. Dieser war fluchend verschwunden, mit dem Wissen, dass er sich nicht über ihn beschweren konnte, weil auf Übergriffe auf die noch vorhandene Bevölkerung schwere Strafen standen. Die Moskauer sollten sie nicht als Feinde sehen, sondern als Freunde. Das war schwer, denn nicht alle hielten sich an die Regeln, eigentlich niemand. Jeder tat das, was er für richtig hielt. Einige wurden bestraft, aber die meisten kamen ungeschoren davon. Insgeheim war es wahrscheinlich auch so gewollt.
Das junge Mädchen war gleich geflohen, nachdem sie von ihrem Angreifer befreit war. Er hatte sich nicht einmal für das Verhalten seines so genannten Kameraden entschuldigen können.
Den Vorfall längst vergessen, streifte er einen Tag später wieder durch Moskau. Leider begegnete er dem Franzosen, der ihn sofort wieder erkannte. Das wäre alles kein Problem für ihn gewesen, wenn dieser, wie beim letzten Mal, allein gewesen wäre. Leider hatte er vier Kameraden dabei und alle fünf hatten dem Alkohol ordentlich zugesprochen. Wo sie den auch immer gefunden haben mochten. Sollten sie von einem ihrer Vorgesetzten betrunken angetroffen werden, würde das eine Strafe nach sich ziehen. Aber das schien die fünf nicht zu stören.
"Dich kenne ich doch", sagte der Franzose in seiner Muttersprache.
Er hatte keine Probleme ihn zu verstehen. Sie waren lange genug von Frankreich besetzt, dass die Sprache wie eine zweite Haut auf ihn übergegangen war. Er war damit aufgewachsen, hatte es in der Schule lernen müssen.
Der betrunkene Franzose ließ nicht locker, obwohl er so tat, als würde er ihn nicht kennen und achtlos an ihm vorüberging.
"Verdammt! Jetzt bleib endlich stehen! Du bist doch der, dem ich es zu verdanken habe, dass ich nicht zum Zuge gekommen bin. Hattest es wohl selbst auf die kleine Hure abgesehen und wolltest nicht teilen. Na, warte Bürschchen, dir werde ich schon zeigen, was du davon hast."
Er nahm die Worte nur noch verschwommen wahr, in seinen Ohren begann es zu rauschen. Was nun kommen würde, konnte er sich denken. Der Franzose und seine versoffenen Kumpane würden versuchen, ihn zu verprügeln. Dazu mussten sie ihn allerdings erst einmal erwischen.
Ohne darüber nachzudenken, was er tat und wohin er laufen sollte, begann er zu rennen. Die Franzosen fluchten laut und er hörte schwere Schritte hinter sich. Sie hatten die Verfolgung aufgenommen. Er bog um die nächste Ecke, lief die Straße hinunter, um dann rechts abzubiegen. Noch immer hörte er die Franzosen hinter sich, wie sie ihm Schmähworte zuriefen und ihm drohten. Davon ließ er sich nicht beirren, sondern rannte weiter, bog immer bei der nächsten Möglichkeit ab. Irgendwann musste er sie doch abgehängt haben. Schließlich kam er in ein Gebiet der Stadt, wo er noch nicht gewesen war und sich nicht auskannte. Er bog auf eine Straße ein, lief ein paar Meter, bevor er stoppte und seinen Fehler erkannte. Er war in einer Sackgasse gelandet. Gerade als er sich umdrehte, sah er seine Verfolger. Natürlich hatte er sie nicht abhängen können. Es wäre zu schön gewesen, wenn es ihm gelungen wäre. Verzweifelt sah er sich nach einer Möglichkeit um, wo er sich verstecken konnte. Aber es war zu spät, sie hatten ihn entdeckt. Lachend näherten sie sich ihm, während er langsam rückwärts ging. Irgendwann würde er die Mauer im Rücken haben, dann hätten sie ihn. Natürlich konnte er versuchen, gegen sie zu kämpfen. Aber fünf gegen einen war nahezu unmöglich. Sie würden ihn windelweich prügeln. Wenn er Glück hatte, waren seine Knochen am Ende nicht alle gebrochen. Warum hatte er nur nicht besser aufgepasst und war einfach zurück ins Lager gelaufen? Dort hätten sie ihm nichts antun können. Er hätte zu seinem Bruder laufen sollen. Der hätte gewusst, was zu tun war, um diesen Abschaum von sich fernzuhalten. Stattdessen war er immer tiefer in die Stadt hineingelaufen und war schließlich in dieser Sackgasse gelandet. Er hatte es nicht besser verdient. Nur hier sein Leben aushauchen? Er hatte nicht In Schlachten gekämpft, diesen elenden Marsch überlebt, eine verheerende Schlacht mit vielen tausend Toten geschlagen, um letztendlich in einem Kampf zwischen Kameraden zu sterben. So hatte er sich seinen Tod nicht vorgestellt.
Eigentlich war er viel zu jung, um sich überhaupt Gedanken übers Sterben zu machen, aber wer Napoleon als Soldat dienen musste, der machte sich zwangsläufig mit dem Gedanken vertraut, sterben zu müssen.
"Na, jetzt haben wir dich. Du wirst eine Lektion erteilt bekommen, die du nie wieder vergessen wirst", sagte einer der Freunde des Franzosen, der mit ihm eine Rechnung offen hatte.
Starr vor Schreck sah er, wie ein anderer ein Messer aus seiner Hose zog. Nun machte er sich keine Illusionen mehr darüber, was geschehen würde. Er würde hier sterben, wenn nicht ein Wunder geschah.
Im Stillen betete er, während seine Gegner immer näher kamen. Er selbst konnte nicht mehr zurückweichen, die Mauer hinderte ihn daran.
"Pst!", hörte er leise eine Stimme.
Seine Augen wanderten umher, aber er konnte nichts entdecken.
Wieder dieses Geräusch, aber jetzt erkannte er, woher es gekommen war. Links von ihm war eine Luke vor dem Haus angebracht, die ein kleines Stück geöffnet war. Dort hinter verbarg sich jemand, der ihm anscheinend helfen wollte. Ohne weiter darüber nachzudenken, wer sich hinter der Luke verbergen mochte, stürzte er dort hin, öffnete sie und verschwand in dem Loch. Er landete auf festgestampfter Erde, hörte das Grölen der fünf Franzosen leiser werden, als die Luke über ihm geschlossen wurde. Dunkelheit umfing ihn. Er sah nichts als Schwärze.
"Komm mit!", forderte ihn eine energische Stimme auf, die einer Frau gehörte. "Wir müssen weiter, sie werden gleich hier drin sein, dann müssen wir den Gang verschlossen haben."
Er spürte, wie eine warme Hand mit Schwielen an den Fingern nach ihm fasste. Als sie seinen Arm hatte, lief sie los und zog ihn mit sich. Anscheinend kannte sie sich hier unten aus, denn sie hatte keine Laterne dabei und lief dennoch sicher in der Dunkelheit, ohne einmal die Geschwindigkeit zu verringern.
Ein schwacher Lichtschein tauchte am Ende des Tunnels auf, als sie im Gang um eine Ecke gebogen waren. Sie näherten sich dem Licht. Als sie es erreicht hatten, waren sie in einem anderen Raum angekommen. Die Fackel brannte so hell, dass ihm die Augen schmerzten. Mit dem Arm schirmte er den hellen Glanz der Fackel ab. Danach ließ sich das Licht ertragen und seine Augen gewöhnten sich langsam an die Helligkeit.
Staunend sah er zu, wie die Frau, nein, es war ein Mädchen... Das junge Mädchen, das er vor dem Franzosen gerettet hatte. Wie hatte sie ihn gefunden? Woher wusste sie, dass er in Schwierigkeiten war? Wie konnte sie ihn vor seinen Verfolgern retten?
Sie schloss die Tür, die den Gang mit diesem Raum verband. Anschließend wuchtete sie drei schwere Holzfässer vor die Tür. Es schien sie keinerlei Anstrengung zu kosten.
"Hilf mir!", forderte sie ihn auf und deutete auf weitere Fässer in der anderen Ecke des Raumes. "Wir müssen sie alle dicht zusammenstellen, dann können sie die Tür nicht aufbrechen."
Noch während sie ihm erklärte, warum er das tun sollte, machte er sich mit seinem ersten Fass auf den Weg. Wie leicht das bei ihr ausgesehen hatte. Ihm machte schon dieses Probleme, dabei war es gerade mal sein erstes.
"Schneller!", rief sie und er versuchte ihren Befehl zu befolgen. Stolpernd brachte er das Holzfass auf seine richtige Position.
Während sie zügig ihre Arbeit verrichteten, polterte etwas gegen die Tür. Er schreckte auf, doch sie forderte ihn mit stummen Gesten auf, dass er weitermachen sollte.
Er hörte, wie sich jemand gegen die Tür warf, aber die Holzfässer hielten der Wucht der Masse aus. Stumm machten sie mit ihrer Arbeit weiter bis alle Fässer so vor der Tür aufgereiht waren, dass diese nur noch durch eine Axt geöffnet werden konnte.
Komm weiter", sagte das russische Mädchen und zog ihn mit sich. Sie hatte die Fackel aus der Halterung genommen und leuchtete ihnen den Weg.
Es ging wieder durch einen Gang, der genauso lang wie der erste schien. Dieses Mal rannten sie nicht, sondern gingen schnellen Schrittes, sodass er die Möglichkeit hatte, den Gang genauer in Augenschein zu nehmen. Es roch feucht, wie es ihm vorhin schon aufgefallen war. Die Gänge waren aus Feldsteinen gemauert, der Boden nur gestampft. Waren das Kellergänge, die von Häusern als Lagerräume genutzt wurden? Aber wieso waren sie alle miteinander verbunden? War das damals beim Bau beabsichtigt worden? Welchem Zweck es auch immer dienen sollte. Jetzt rettete ihm diese Konstruktion das Leben.
"Hier rauf", sagte das Mädchen und deutete auf die Treppe. Sie war breit, wirkte aber steil. Wie man dort Dinge hinuntertragen sollte, ohne dass man sich verletzte, blieb ihm verborgen.
Langsam folgte er ihr nach oben. Sie kamen in einem kleinen Vorraum an, der düster und schmucklos war. Aber wo es einen Keller gab, musste ein größeres Haus drüberstehen. Wo war er hier? Fragend sah er sich um, konnte aber nichts entdecken, was Rückschlüsse auf die Besitzer schließen ließ.
"Hier sind wir sicher", sagte das Mädchen und führte ihn aus dem Raum in eine große Küche. Töpfe und Teller lagen verstreut herum, dass man den Eindruck gewinnen konnte, hier würde niemand mehr arbeiten. Doch der Herd bullerte und ein Topf stand auf einer Platte. Trotz des ganzen Chaos ging alles seinen gewohnten Gang.
"Wir sind nicht geplündert worden", stellte sie klar, als sie seinen fragenden Blick sah. "Das haben wir gemacht, falls Franzosen bei uns eindringen. Wenn sie sehen, dass bereits alles geplündert wurde, werden sie sicherlich von diesem Haus ablassen. Bisher hat es funktioniert. Nur auf der Straße sollte man sich tagsüber nicht aufhalten."
"Nicht alle sind so wie dieser Kerl", erwiderte er. "Viele besitzen noch ein Gewissen, während die anderen durch die Schlachten bereits abgestumpft sind, dass sie nur noch an ihren eigenen Vorteil denken. Es tut mir leid, dass du es am eigenen Leib erleben musstest."
"Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es war mein Fehler", sagte das Mädchen schnell. "Ich habe um das Risiko gewusst, dem ich mich aussetze, wenn ich tagsüber auf die Straße gehe. Aber ich musste nach einer Bekannten sehen. Sie war krank und niemand konnte sich um sie kümmern. Ich habe losgemusst."
Tränen schimmerten in ihren Augen, doch sie riss sich zusammen, weinte nicht.
"Schon gut, ist nicht schlimm", sagte er beruhigend und zog sie zaghaft an sich.
Im ersten Augenblick verkrampfte sie sich, doch dann entspannte sie sich und ließ ihn gewähren, dass er sie an sich gezogen hatte und ihr über den Rücken strich. Bevor er sich daran gewöhnen konnte, sie in den Armen zu halten, löste sie sich wieder von ihm. Sie wirkte wieder gefasst.
"Ich habe mich nicht bei dir bedankt. Du hast selbstlos gehandelt, obwohl der grobe Kerl viel stärker war als du. Er hätte dir etwas antun können."
"Er mag größer und kräftiger sein, aber er ist dumm. Ich hätte ihn nicht besiegen können, wenn er nicht so sehr von sich überzeugt gewesen wäre."
"Aber er war gefährlich, deshalb habe ich dich weiter beobachtet, nachdem ich dir entwischt war. Ich wusste, dass er sich bei dir rächen würde, wenn sich ihm die Gelegenheit böte."
"Allein hätte er gegen mich nie etwas unternommen, außerdem war er genauso betrunken wie seine widerlichen Kameraden."
"Das hat ihnen die Angst und den Skrupel genommen. Sie hätten dich getötet."
"Ich weiß", sagte er nur und war überrascht, wie leicht ihm die Worte über die Lippen kamen, obwohl er eher schockiert als gleichgültig hätte reagieren müssen. "Woher kannst du so gut deutsch?", wollte er wissen.
"Mein Großvater war ein bedeutender Gelehrter und hat sich in St. Petersburg mit seiner Familie angesiedelt. Es gab noch andere deutsche Familien, die alle hauptsächlich in St. Petersburg zu finden sind. Meine Eltern haben ihr Glück hier in Moskau gemacht. Das ist ihr Haus, wo wir sind. Ich bin nicht mit ihnen gegangen, als sie geflüchtet sind, sondern habe mich versteckt. Das ist mein Zuhause und das lasse ich mir von niemandem nehmen."
Ihre letzten Worte klangen beinahe trotzig.
"Dann danke ich dir dafür, dass du mich vor den anderen gerettet hast."
"Ich würde es immer wieder tun, selbst wenn es die andere Szene nicht gegeben hätte. Du hast ein gutes Herz, bist nicht wie all die anderen, die sich nur selbst bereichern wollen, die in jedem Fremden einen Feind sehen, die denken, dass sie sich einfach nehmen können, was sie haben wollen. Du hast noch ein Gewissen. Bewahre es dir."
"Ich habe nie in Napoleons Armee dienen wollen, aber sie haben mich geholt, bevor ich mich rechtzeitig aus dem Staub machen konnte. Ich hasse dieses Leben, muss gegen Menschen kämpfen, die mir nichts getan haben, denen ich nichts getan habe und dennoch versuchen wir uns gegenseitig umzubringen. Was ist das für eine Welt, wo ich gegen meine eigenen Freunde kämpfen muss, weil sie in einer anderen Armee dienen? Ich habe das alles nicht gewollt."
"Und dennoch bist du hier", sagte das Mädchen. "Das muss einen höheren Sinn haben."
"Was will Gott mir damit sagen? Dass Napoleon am Ende ist? Der Zar wird nicht kommen und mit ihm verhandeln. Wir stehen auf verlorenem Posten. Doch anstand umzukehren, harrt dieses Ungeheuer aus und sieht nicht ein, dass alles vergebens war. Lange können wir nicht mehr bleiben. Was gibt es hier denn? Nein, er muss endlich einsehen, dass er verloren hat und die Armee zurück muss."
Er hatte sich in Rage geredet, die Hände zu Fäusten geballt. Sein Gesicht war wutverzerrt. Er hatte genug davon ein Spielball des Franzosenkaisers zu sein, dem das Leben seiner Soldaten egal war. Hauptsache seiner Armee ging der Nachschub an jungen Männern nicht aus, dass er weiterhin an seiner Eroberungspolitik festhalten konnte.
Das Mädchen war vor ihm zurückgewichen. Ihr machte sein Gesichtsausdruck Angst, auch wenn diese Wut nicht ihr gegolten hatte. Als er sich dessen gewahr wurde, beruhigte er sich.
"Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Nur wenn ich daran denke, dass ich jemandem dienen muss, der den Ernst der Lage verkennt, werde ich wütend. Napoleon ist nicht bei Sinnen. Er muss doch erkannt haben, dass er hier nichts mehr gewinnen kann. Warum bläst er nicht endlich zum Rückzug?"
"Du verdammst ihn, weil er nicht endlich einsieht, dass er nichts mehr ausrichten kann. Aber denk doch mal nach: Wenn er unverrichteter Dinge aus Russland verschwindet, ohne dass er dem Zaren klar gemacht hat, wer der starke Mann in Europa ist, kann er sich bei seinen Verbündeten nicht mehr sehen lassen. Man wird ihn auslachen. Diese Niederlage wird ihm auf ewig nachhängen."
"Du verteidigst ihn auch noch?"
Er rückte von ihr ab. Wie konnte sie so etwas tun?
"Nein! Nein, das tue ich nicht. Ich versuche dir nur zu erklären, warum du mit der Armee hier noch festhängst und nicht längst auf dem Weg nach Hause bist. Viel Zeit habt ihr nicht mehr. Der Winter rückt näher."
Das wusste er bereits und dennoch erschreckte es ihn aufs Neue, weil er es dieses Mal aus dem Mund von jemand anderem hörte.
"Du weißt es, ich sehe es dir an. Aber du kannst dir nicht einmal vorstellen, was der Winter anrichten wird. Anfangs werden die Wege kaum passierbar sein. Ich sehe schon, wie deine Kameraden ihr Raubgut zurücklassen müssen, weil die Karren sich im Dreck festfahren. Da haben sie sich überall bereichert, wo es ihnen möglich war, und dann können sie sich nicht einmal mit in die Heimat nehmen. Wirklich schade. Zu Fuß wird es ein anstrengender Marsch werden, aber du bist kräftig, damit dürfte es dir keine Probleme bereiten."
Er sah durch ein Fenster und bemerkte, dass es draußen zu dämmern begonnen hatte. Wie spät war es? Er musste zurück ins Lager.
"Ich muss gehen", sagte er und wandte sich zu dem Raum, wo er die Haustür vermutete.
"Warte, ich werde nachsehen, ob die Straße frei ist. Zwar werden sich deine netten Kameraden sicherlich nicht hierher verirrt haben auf der Suche nach dir, aber wir sollten kein Risiko eingehen. Ich habe dich nicht vor ihnen gerettet, damit du nun vor meiner Haustür in ihre Finger gerätst."
Sie machte ihm ein Zeichen, dass er warten solle, durchquerte den Raum bis sie zur Haustür kam, öffnete diese einen Spalt breit und blickte nach draußen. Es war niemand zu sehen. Eine geradezu trügerische Ruhe herrschte. Davon ließ sie sich nicht täuschen und sah die Straße auf und ab, beobachtete jede Ecke aufmerksam, ob sich dahinter nicht jemand verbergen konnte. Als sie überzeugt war, dass niemand sich in der Nähe des Hauses aufhielt oder sich irgendwo versteckte, schloss sie die Tür wieder und holte ihn.
Ohne ein Wort des Abschieds schob sie ihn durch die Tür.
"Können wir uns wiedersehen?", wollte er noch von ihr wissen.
"Ich werde weiter ein Auge auf dich haben", erwiderte sie nur.
Er spürte einen leichten Hauch der Enttäuschung, dass sie so ausweichend geantwortet hatte. Über ihre weitere Gesellschaft würde er sich freuen. Neben seinem Bruder war sie der einzige Mensch in dieser Stadt, mit dem er vernünftig reden konnte.
Langsam ging er die Straße hinunter, sah sich einmal kurz um, damit er sich ihr Haus merkte, und ging zurück ins Lager, wo er von seinem Bruder bereits ungeduldig erwartet wurde.