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Moskau, 18. September 1812

Eine riesige Rauchwolke hing über der Stadt, der Gestank von verbranntem Holz hing in der Luft und in der Kleidung der Überlebenden. Jeder Atemzug tat weh, löste einen rauen Husten aus.

Doch nicht nur Rauch und Flammen sorgten für eine gespenstische Szene, sondern auch das Schreien der vergewaltigten Frauen, die den Soldaten der Grande Armée in die Hände gefallen waren. Es herrschte ein Inferno ungeahnten Ausmaßes, als wäre die Hölle auf Erden erschienen.

Seit mehr als drei Tagen brannte Moskau ununterbrochen. Anfangs hatten sie noch versucht, die einzelnen Brandherde zu löschen. Mit primitiven Hilfsmitteln hatten sie versucht, die Flammen zu löschen. Sämtliche Feuerspritzen waren von den Russen zerstört worden, sodass man nur mit Decken oder Eimern voll Wasser löschen konnte. Es war ein aussichtsloser Kampf, den sie führten. War ein Feuer im Keim erstickt worden, brach an anderer Stelle ein neues aus. Resigniert hatten sie schließlich aufgeben müssen und den Flammen ihren Weg gelassen. Wer wusste schon, wozu dieser Brand noch gut sein würde?

Als das Feuer sich unaufhaltsam ausbreitete, den Aufenthalt in der Stadt unerträglich und lebensgefährlich machte, hatten viele Soldaten der Grande Armée fluchtartig die Stadt verlassen. Einzig Napoleon schien die Lage zu verkennen und wollte in der Stadt ausharren. Wahrscheinlich hoffte er immer noch, dass der Zar höchstpersönlich kommen und ihm auf Knien ein Friedensangebot machen würde. Allerdings gab es keinen Zweifel daran, dass er niemals käme solange der französische Kaiser sich noch in Russland aufhielt. Zar Alexander I. würde nicht kommen. Nicht heute, nicht morgen oder an irgendeinem anderen Tag.

Napoleons engste Vertraute hatten ihn schließlich überzeugen können, den Palast zu verlassen, da in der Nähe der Kreml-Mauern ein Stadtviertel in Flammen stand. Der Kaiser der Franzosen entfernte sich nicht weit, zog einfach in einen anderen standesgemäßen Palast um.

Die zweite Demütigung, die Napoléon innerhalb weniger Tage erleben musste.

Mit großen Erwartungen war die Armee in Moskau eingefallen und fand die Stadt leer vor. Bis auf wenige Bedienstete und diejenigen, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten zu fliehen, war niemand mehr in der Stadt.

Der Zar war feige geflohen. Und Moskau brannte. Welch ein Empfang!

Wo war sein Bruder? Gestern um die Mittagsstunde hatte er Thomas das letzte Mal gesehen. Angeblich habe er sich erkundigen wollen, was es zu essen geben würde. Doch er war dort nie angekommen, wie er in Erfahrung hatte bringen können. War er auf dem Weg dorthin verschwunden? Hatte Thomas ihn angelogen, hatte er ganz woanders hingewollt und hatte dies nur als Vorwand benutzt? Himmel! Hatte er sich etwa ins brennende Moskau aufgemacht? Was wollte er dort? Zum Plündern hatte er sich bestimmt nicht aufgemacht.

Napoleon mochte das Plündern verboten haben, doch seitdem die Stadt brannte, hielt sich niemand mehr an das Verbot. Man müsse soviel wie möglich vor den Flammen retten, hieß es.

Die Ungewissheit nagte an Heinrich Kalditz. Letzte Nacht hatte er einen fürchterlichen Traum gehabt. Sein Bruder war in einem Erdloch gefangen und konnte sich nicht befreien. Auf einmal stürzte die eine Wand ein und begrub Thomas' Oberkörper unter sich.

An dieser Stelle war Heinrich Kalditz aus dem Schlaf hochgeschreckt. Seitdem fürchtete er, seinem Bruder könne etwas Schlimmes widerfahren sein.

In seinem tiefsten Inneren wusste er, dass irgendetwas passiert war. Doch er hoffte, dass er sich täusche und Thomas es gelungen war, sich vor dem Feuer in Sicherheit zu bringen. Vielleicht hielt er sich in einem der Viertel auf, die bisher vor den Flammen verschont geblieben waren und harrte dort aus.

Was hatte er gestern losgehen müssen? Die Feuer waren nicht unter Kontrolle, was die anderen Soldaten nicht zu stören schien. Sie fürchteten in ihrer Gier nur die Kameraden, die ihnen wertvolle Güter streitig machen konnten. Das Feuer war für sie die willkommene Ausrede gewesen, um endlich mit den Plünderungen beginnen zu können. Dabei war es nicht geblieben. Wie überall wurden die Frauen geschändet. Hatten die Kerle nichts anderes im Kopf? Wieso gingen sie dafür nicht zu einer der Huren, die den Tross begleiteten? Wer länger in der Armee war, verrohte. Es wurde ihm immer wieder vor Augen geführt.

Stürme am gestrigen Tag hatten die Brände angefacht, dass sie vollends außer Kontrolle gerieten. Irgendwo in dieser Hölle befand sich Thomas und er war dazu verdammt, im Lager auszuharren und warten zu müssen bis der Großteil der Flammen endlich erlosch.

Verzweiflung machte sich in Heinrich Kalditz breit. Je länger die Stadt brannte, desto weniger Hoffnung hatte er, seinen Bruder noch lebend zu finden.

Die Feuer fanden nach und nach keine neue Nahrung mehr bis eines nach dem anderen verlöschte. Am 18. September ließ sich Moskau wieder gefahrlos betreten. Ein leichter Regen ging über der Stadt nieder und erstickte die allerletzten Flammen.

Soldaten liefen durch die Stadt, weiter auf der Suche nach wertvollen Gegenständen, die sie mit nach Hause nehmen könnten. Vieles hatten die russischen Soldaten bereits vor Einzug der Grande Armée geplündert, wozu sie von den Moskauer Kaufleuten aufgefordert worden waren. Einige hatten sich so lange Zeit gelassen, dass sie sich noch in der Stadt befunden hatten, als die Franzosen in die Stadt einmarschierten. Im Gegensatz zu den Verletzten hatten sie es geschafft, die Stadt zu verlassen.

Der Geruch von verbranntem Holz hing in der Luft. Die Augen brannten.

Auf der Suche wertvollen Schätzen verirrten sich einige französische Soldaten ins Krankenlager der Russen und in das ihrer Kameraden. Was sie dort erblickten, würden sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen.

Der Anblick von Toten nach einer Schlacht war schon furchtbar, doch was sie hier sahen, übertraf alles: Keiner ihrer Kameraden hatte das Inferno überlebt. Hatte das Feuer sie nicht entstellt, lagen sie mit in Todesangst erstarrten Gesichtern auf ihren Lagern, neben den Betten oder zusammen gekrümmt auf dem Boden. Die Toten auf dem Boden hatten blutige Nägel, blutige Finger. Sie mussten sich in ihrer Todesangst über den Boden geschleift haben, um den tödlichen Flammen zu entkommen.

Niemand hatte versucht, die Kranken zu retten. Es war sogar darauf angelegt worden, dass sie jämmerlich umkamen. Irgendjemand hatte das Lazarett verschlossen!

Heinrich Kalditz, der immer noch auf der Suche nach seinem Bruder war, hatte es ebenfalls hierher verschlagen. Er glaubte nicht, dass er Thomas hier finden würde. Umso erschütterter war er, als er ein bekanntes Gesicht erblickte. Er stürzte auf den Leichnam zu, barg den Kopf in seinen Händen und wiegte ihn wie ein kleines Kind.

"Thomas!", rief er und schüttelte seinen toten Bruder.

"Il est mort, mon ami", sagte jemand anderes und legte dem, unter all den Toten, trauernden Soldaten mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Er war nicht der erste, der einen Freund verloren hatte und würde nicht der letzte sein. Dennoch ging es jedem noch so abgebrühten und abgestumpften Soldaten bis ins Herz, wenn ihre Kameraden einen Freund unter den vielen Toten erblickten.

"Non!", schrie der Angesprochene und schüttelte die Hand ab.

Der französische Soldat zuckte hilflos mit den Schultern und wandte sich ab. Hier gab es nichts mehr zu tun.

Dem trauernden Soldaten stiegen Tränen in die Augen, dass er das bleiche Gesicht seines Bruders und Kameraden nur noch verschwommen sah. Er hielt den Toten in den Armen und wiegte ihn wie ein kleines Kind.

"Was hast du hier nur zu suchen gehabt? Du warst doch gar nicht verletzt. Was soll ich denn unserer Mutter sagen? Ich sollte doch auf dich aufpassen!"

Tränen quollen aus den Augen des Soldaten. Er barg seinen Kopf an Thomas' Schulter und weinte lautlos.

Gegen ihren Willen waren sie in Napoleons Armee eingezogen worden. Thomas, sein jüngerer Bruder, hatte anfangs noch begeistert mitgemacht und sich unter all den Soldaten wie ein Großer gefühlt. Endlich war er nicht mehr nur der kleine Bruder, der von der Mutter verhätschelt und verzärtelt wurde. Endlich durfte er ein Mann sein. Nach und nach hatte Thomas erkannt, dass sie als besiegte und verbündete Untertanen eines Königreiches in der Rangfolge ganz unten standen. Den französischen Soldaten wurden erhebliche Privilegien gestattet, während sie selbst froh sein konnten, überhaupt einen vernünftigen Schlafplatz zu bekommen. Sie zählten einfach nicht, waren nur da, um die Armee zu verstärken und zu siegen. Denn ein Napoléon verlor nicht, ein Napoleon gewann!

Irgendwann hatten sie erkannt, dass dem Korsen Menschenleben völlig egal waren, solange er genug Nachschub an Soldaten hatte. Und je mehr Gebiete er eroberte, desto mehr junge Männer standen ihm zur Verfügung, die er einfach in die Schlacht schicken und verheizen konnte.

Nur mit großem Glück hatten sie die letzten beiden Jahre überstanden. Doch nun hatte es seinen Bruder getroffen. Thomas war tot!

"Was hast du hier gewollt, Thomas?", fragte Heinrich Kalditz schluchzend. "Du warst kerngesund, hast nicht einmal einen Kratzer gehabt. Was also solltest du hier?"

Der Soldat hatte mit immer lauterer Stimme gesprochen bis er die letzten Worte geschrien hatte.

Thomas gab keine Antwort. Sah seinen Bruder nur mit leblosen Augen an.

"Gräm dich nicht, Heinrich", glaubte der trauernde Soldat aus Thomas' Mund zu hören.

Heinrich schüttelte sich und starrte auf den Leichnam seines Bruders.

Er wurde verrückt! Ein Toter konnte nicht mehr sprechen. Diese Fähigkeit hatte er mit seinem letzten Atemzug verloren.

Verwirrt und höchst verunsichert schloss er seinem Bruder die Augen. Als er ihm die Hände vor der Brust falten wollte, bemerkte er, dass Thomas etwas in der Innenseite seiner Uniform hatte.

Hastig öffnete Heinrich die Jacke und fand ein zusammengefaltetes Blatt Papier.

Ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen, verstaute er es in seiner Uniform. Später würde er sich darum kümmern. Vielleicht würde es erklären, warum sein Bruder sich trotz des Feuers in die Stadt aufgemacht hatte.

Von draußen drang das Geschrei seiner Kameraden und Leidensgenossen, die sich schnell wieder erholt hatten und wieder plündernd durch die Stadt liefen. Die letzten kostbaren Dinge mussten gerettet werden.

Heinrich stand auf und warf sich seinen Bruder über die Schulter. Er würde dafür sorgen, dass Thomas angemessen beerdigt wurde. Und dann würde er sich diesem verdammten Blatt Papier widmen.

Im Zeichen des Denkmals

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