Читать книгу Im Zeichen des Denkmals - Helen Dalibor - Страница 4
Prolog
ОглавлениеMoskau, 1583
Wo befand er sich? Hatte er sich in den Sümpfen verlaufen? Wie war er hierher gekommen?
Verzweifelt sah er sich um, versuchte einen Anhaltspunkt zu finden, wo er sich befand. Es war dunkel. Stockdunkel. Er sah die Hand vor Augen nicht. Eben waren die anderen noch da gewesen, jetzt war er völlig auf sich allein gestellt. Wo hatte er sie verloren? Wie waren sie ihm entwischt?
Er versuchte nach ihnen zu rufen, doch seinen Mund verließ kein einziger Ton. Als habe er verlernt zu sprechen. Sein Mund... Er konnte die Lippen nicht voneinander lösen, so oft er es versuchte, sie blieben aufeinander haften, bewegten sich nicht. Was war geschehen, dass er seinen Mund nicht mehr öffnen konnte? Langsam führte er eine Hand an seine Lippen, um das Geheimnis ihrer Unbeweglichkeit zu ergründen. Voller Schrecken senkte er den Arm. Das war unmöglich! Wer konnte so etwas Schreckliches tun, ohne dass er davon etwas gemerkt hatte? Jemand hatte seine Lippen zugenäht. Kein einziges Sandkörnchen konnte noch hindurch. Es war so stramm zugenäht, das nirgendwo etwas eindringen oder entweichen konnte. Er würde verhungern, elendig verhungern und verdursten, weil jemand Gefallen daran gefunden hatte, ihm die Lippen zuzunähen. Wer war so irre, dass er sich so etwas leisten würde? Den einen oder anderen Feind hatte auch er, aber von denen wäre niemand so verrückt, um sich in dieser Art an ihm zu rächen. Das machte alles keinen Sinn.
Wollte jemand an ihm testen, wie lange ein Mensch ohne Essen und Trinken überlebte? Nur warum konnte er sich frei bewegen und war in einem waldähnlichen Gelände, wo er jederzeit auf einen anderen Menschen treffen konnte? Ihn überkam ein Zittern, das von seinen Händen ausging und schließlich seinen ganzen Körper erfasste. Er hatte keine Ahnung, wer ihm das angetan hatte und warum. Eben war er noch mit seinen Kameraden unterwegs gewesen und nun irrte er allein durch eine ihm unbekannte Landschaft. Nicht einmal sehen, wohin er trat, konnte er, weil es so dunkel geworden war. Wenn er nun über eine Baumwurzel stolperte und stürzte? Bewusstlos am Boden liegend, wäre er eine leichte Beute für wilde Tiere. Oder er trat auf die Tatze eines dösenden Bären. Diese Begegnung würde er genauso wenig überleben.
Vorsichtig lief er weiter. Auf einmal begann der Boden unter seinen Füßen zu schmatzen und nur mit Mühe gelang es ihm, seine Stiefel aus dem Morast zu befreien. Jeder Schritt fiel ihm schwerer und irgendwann gelang es ihm gar nicht mehr, seine Füße anzuheben. Er versuchte es mit den Händen, doch er glitt immer tiefer in den Morast. Mit einem Mal spürte er, wie Wasser in seine Stiefel drang. Nun wurde ihm mit aller Deutlichkeit bewusst, wohin er hineingeraten war. Er war mitten in ein Sumpfgebiet gelaufen. Wieso war ihm das nicht früher aufgefallen? Das Haften seiner Stiefel auf dem weichen Untergrund hätte ihm sagen müssen, wo er sich befand.
Er sank immer tiefer. Inzwischen war er bis zu den Knien im Sumpf.
Panik erfasste ihn. Der morastige Boden würde ihn verschlingen. Nichts mehr würde von ihm übrig bleiben, sondern er würde verschwunden Sein, als habe er nie existiert.
Er begann zu schreien. Seine Stimme hallte ungehört in den Wald. Niemand kam, um ihn zu retten. Er war verloren!
Verzweifelt versuchte er sich zu bewegen, um sich doch noch befreien zu können. Anstelle dessen wurde er nur noch schneller in die Tiefe gezogen. Bis zum Hals ging stand ihm der Sumpf und er wusste, dass es keine Rettung mehr für ihn geben würde. Er sparte sich das Schreien, das sowieso niemand hörte und ergab sich seinem Schicksal.
Nur warum hatte es gerade ihn dazu erwählt, so einen grausamen Tod sterben zu müssen? Hätte er nicht in einer Schlacht oder einem Duell sterben können? Gift hätte auch einen schnelleren Tod bedeutet als in einem Sumpf zu versinken. Jämmerlich ersticken würde er. Dabei wollte er noch nicht sterben. Er wollte leben!
Das brackige Wasser hatte seinen Mund erreicht. Er legte seinen Kopf in den Nacken, sah über sich nur Dunkelheit. Kein Stern stand am Himmel. Schwärze wohin er blickte.
Die unsichtbaren Hände griffen nach ihm, zogen seinen Körper tiefer und tiefer hinab. Sein Kopf wurde von der Masse verschlungen. Er hielt die Luft an, doch irgendwann ging es nicht mehr und er öffnete den Mund. Schlamm, Erde oder was immer es war, drang in seine Kehle, in seinen Hals, in seine Lunge. Er wollte husten, wollte atmen, alles gleichzeitig, doch da war keine Luft. Da war gar nichts mehr. Voller Panik öffnete er den Mund zu einem Schrei, noch mehr faule Erde drang in seinen Mund, ließ ihn würgen. Er wollte schreien, nur schreien...
Mit einem Ruck wachte er auf.
Sein Herz pochte heftig, sein Atem ging schnell. Gott sei Dank, es war nur ein Traum gewesen.
Hatte er geschrien? War er von seinem eigenen Schrei wach geworden? Wo war er überhaupt? Alles war schwarz um ihn herum. Lag er überhaupt in seinem eigenen Bett? Vorsichtig tastete er mit den Händen um sich, spürte nichts als feuchten, kalten Boden.
Angst umschloss sein Herz mit festem Griff. War das alles gar kein Traum gewesen und er war tatsächlich in dem Wald gewesen und im Sumpf untergegangen? War er nun im Himmel oder in der Hölle gelandet? Befand sich unter dem Sumpf ein unterirdisches Tunnelsystem? War er gerettet und gleichzeitig gefangen?
Er fuhr herum, als er leises Stöhnen hörte. Was war das? War er nicht der einzige, der im Sumpf untergegangen war? Waren dort noch andere gewesen?
"Wo bin ich?", hörte er eine Stimme sagen.
Das war Nikolai. Mit einem Schlag erinnerte er sich, was geschehen war. Sie hatten zu vier einige sehr schwere Kisten tragen müssen. Ihnen war nicht gesagt worden, was sich darin befand und warum sie gerade hierhin transportiert werden mussten. Sie hatten den Befehl ausgeführt, wie immer ohne zu fragen. Sie hatten zu gehorchen, sonst würde es ihnen schlecht ergehen. Seitdem Grosny nach Moskau zurückgekehrt war, hatte sich sein Geisteszustand erheblich verschlechtert. Er wandelte durch den Palast, als sei er ein Geist. Der Tod seines Sohnes hatte ihn schwer mitgenommen. Wie konnte man sich auch noch im Spiegel betrachten, wenn man mit der Schuld leben musste, den eigenen Sohn auf dem Gewissen zu haben? Grosny war früher schon unberechenbar gewesen, aber seit einiger Zeit war es ganz schlimm mit ihm. Er schien den Verstand verloren zu haben, nicht erst seit dem Tod seines Sohnes, sondern schon vorher. Aber nun wurde er immer wunderlicher. Sah überall Verschwörer, die seinen Tod wünschten, die sein Vermögen an sich raffen wollten. Niemandem traute er mehr, besonders nicht, seitdem er den Tag seines Todes erfahren hatte. Man hatte es ihm vorenthalten wollen, aber am Ende war es herausgekommen und es hatte Tote gegeben. Tote pflasterten Grosnys Weg. Seitdem er allein herrschte, hatte er sich unerbittlich gegeben, eine eigene Terrormiliz hatte für Angst und Schrecken unter der Bevölkerung gesorgt.
Es hatte sich gebessert bis er seinen Sohn getötet hatte. Seitdem war er nur noch ein Schatten seiner selbst, verfiel zusehends.
Die stärksten unter seinen Wachen hatte er ausgesucht, damit diese Kisten transportiert werden konnte. Was hatte er sich geehrt gefühlt, sich unter Grosnys Auserwählten zu befinden. Inzwischen fragte er sich, ob es tatsächlich eine Ehre gewesen war, diesen Auftrag auszuführen.
"Mein Kopf", hörte er Nikolai stöhnen. "Das war doch nur ein halber Becher, davon kann es mir nicht so schlecht gehen."
Es schien, er wolle noch mehr sagen, doch die Schmerzen überwältigten ihn. Sein Kopf tat höllisch weh und das Atmen fiel ihm schwer.
So langsam wurden die Erinnerungen klarer. Sie hatten die Kisten an diesen unwirklichen Ort getragen. Unheimlich hatte das alles gewirkt, doch man hatte nichts gesagt. Zum Dank für ihre Dienste und um sich von den Strapazen zu erholen, hatte man ihnen etwas zu trinken angeboten. Wann bekam man schon Wein angeboten, noch dazu vom Herrscher persönlich? Das Angebot hatten sie alle nicht abschlagen können. Wie es aussah, war es ein Fehler gewesen. In dem Wein musste irgendetwas gewesen sein, dass sie bewusstlos hatte werden lassen. Deshalb hatte er diesen schrecklichen Alptraum gehabt, er würde jämmerlich im Sumpf versinken. Aber wieso hatte man ihnen einen Schlaftrunk gereicht? Was hatten sie verbrochen? Sie hatten nur diese Kisten geschleppt. Die Kisten...
Was war in den verdammten Kisten? Er rappelte sich auf, konnte in der Dunkelheit, aber nicht viel mehr ausmachen als schwarze Punkte, die vor seinen Augen tanzten. Irgendwo hatten sie doch eine Laterne gehabt, wenn er die finden und anmachen könnte.
Tastend stolperte er durch die Dunkelheit. Immer wieder drang Nikolais Stöhnen an sein Ohr. Offensichtlich ging es ihm wieder schlechter. Was war bloß in dem Wein gewesen?
Mit dem Fuß stieß er gegen etwas Weiches. Langsam bückte er sich und ertastete Stoff. Mit einer bösen Vorahnung fuhren seine Finger weiter über den Stoff, glitten über einen Gürtel mit Metallschlaufe. Hoffentlich war es nicht das, was er vermutete. Nun spürte er kalte Haut unter den Fingern, so kalt, dass er sich schütteln musste. Das war ein Hals, dann folgte das Gesicht. Ein Bart, Mund, Nase, Augen, Haare.
"Nein!", schrie er verzweifelt auf. Wieder berührte er das Gesicht und obwohl er wusste, dass Konstantin tot war, konnte und wollte er es nicht glauben.
Ein Gurgeln riss ihn aus seinen Gedanken. Es war Nikolai.
"Sterbe...", hörte er ihn sagen. "Hilf, - Alexe..."
Es kam nichts mehr. Das Röcheln war erstorben. Für ihn bestand kein Zweifel, dass Nikolai genauso tot war wie Konstantin. Da er von Pawel nichts hörte, war dieser wahrscheinlich genauso tot wie die anderen beiden. Nur er war noch am Leben.
Wie lange noch?, ging es ihm durch den Kopf. Jeder Atemzug schmerzte ihn, als hätte er etwas Scharfkantiges verschluckt, das nun in seinen Eingeweiden herumschnitt.
Es musste doch einen Weg aus diesem Raum geben. Sie waren hineingegangen, dann musste man auch hinausgehen können.
Langsam, auf allen Vieren, kroch er über den Boden, stieß immer wieder an die Kisten, die sie transportiert hatten. Schließlich erreichte er eine Wand. Welche es war, konnte er nicht sagen. In der Dunkelheit hatte er jede Orientierung verloren. Vorsichtig tastete er sie ab, ging Meter um Meter vorwärts, doch so sehr er suchte, fand er nicht. Da waren nichts als Steine. Halt, an einer Stelle hatte er nasse Finger bekommen. Drang von oben her Wasser in den Raum. Er stand auf, seine Fingerspitzen ertasteten wieder feuchte Stellen. Aber nicht die ganzen Steine waren feucht, sondern nur vereinzelte Stellen. Mehrmals strich er über eine Stelle bis er sicher war, woran es lag. Das war Putz. Da hatte jemand Steine aufgeschichtet und diese verputzt.
Schweiß brach ihm aus, als er erkannte, was geschehen war. Man hatte ihnen Wein zu trinken gegeben, das mit Gift versetzt gewesen war. Nur bei ihm hatte es nicht richtig gewirkt, sodass er nicht tot war. Anschließend hatte man sie einfach eingemauert. Alles wegen dieser verdammten Kisten! Er konnte es nicht fassen. Diese Kisten bedeuteten seinen Tod.
Angst überkam ihn, dass er jämmerlich verhungern und verdursten, eines qualvollen Todes sterben würde. Seine Kameraden hatten ein besseres Los gezogen als er. Sie waren tot und mussten nicht jämmerlich dahinvegetieren.
Er wollte nicht sterben, wollte leben! Verzweifelt versuchte er die Steine aus der Wand zu drücken. So sehr er sich dagegen stemmte, kein einziger Ziegel bewegte sich von der Stelle. Dafür bemerkte er, wie ihm immer wieder die Augen zufielen und er gegen eine bleierne Müdigkeit ankämpfen musste. Es fiel ihm schwer, weiter Luft zu holen. Als wäre alle Luft in diesem Raum verbraucht und kaum noch etwas da. Die Kopfschmerzen machten sich wieder bemerkbar. Es pochte so heftig gegen seinen Schädel, als würde jemand mit dem Hammer darauf einschlagen. Er krümmte sich zusammen, wollte sich nicht dem Schmerz ergeben. Noch einmal stemmte er sich gegen die hochgezogene Wand, aber seine Kraft reichte nicht mehr aus. Schwerfällig sackte er zusammen. Sein Körper schrie nach Luft.
Er musste hier raus, war sein letzter Gedanke, bevor er das Bewusstsein verlor und langsam in ein anderes Leben hinüberdämmerte. Hatte sein Traum sich am Ende als Wirklichkeit erwiesen. Nur war er in keinem Sumpf in die Tiefe gezogen worden, sondern in einen Raum eingemauert worden. Es hatte kein Entkommen für ihn gegeben.