Читать книгу Im Zeichen des Denkmals - Helen Dalibor - Страница 5
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ОглавлениеLeipzig, März 2013
Er sah sich noch einmal die Signatur auf seinem Notizzettel an, obwohl er sie bereits auswendig konnte. Dort war das Regal. Gleich würde er das Buch in Händen halten. Seine Finger zitterten vor Aufregung, als er mit ihnen die Signaturen durchging. Er stockte. Da war kein Buch mit der entsprechenden Nummer. Hatte er es übersehen? Noch einmal ging er Buch für Buch durch und konnte es nicht finden. Es war nicht da.
Das konnte, das durfte nicht sein. Wo war das Buch nur? War es falsch eingestellt worden? Rasch ging er die anderen Regalreihen durch, wurde auch dort nicht fündig. Wo mochte sich das Buch nur befinden? Durch das Rascheln von Seiten wurde er auf den anderen Besucher aufmerksam, den er nur kurz beim Eintreten registriert hatte. Er fuhr herum und sah auf dessen Tisch verschiedene Bücher liegen. Eines davon war möglicherweise das, was er suchte. Ob er hingehen und fragen sollte? Nein, das konnte er nicht riskieren. Er musste unerkannt bleiben. Aber was konnte er tun?
Nachdem er längere Zeit über das Problem nachgedacht hatte, kam er zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab. Er würde warten müssen bis die Bibliothek schloss. Danach würde er sich das Buch ansehen können. Für ihn bedeutete es kein größeres Problem, nach Ende der Besuchszeiten in den Bibliotheksräumen umherzustreifen. Als Angestellter war es ihm möglich. Nur wie erklärte er den Kollegen, dass er noch weit nach Arbeitsschluss da war? Natürlich könnte er warten bis er für die Nachmittags- und Abendstunden eingeteilt war, aber laut seinem Arbeitsplan war das erst nächste Woche und so lange konnte er nicht warten. Er musste heute noch an dieses Buch kommen, um es aus dem Verkehr zu ziehen, falls es tatsächlich das beinhaltete, was er vermutete.
Es war nicht leicht gewesen, den ganzen Buchbestand seines Vorfahren zu rekonstruieren. Glücklicherweise waren in irgendeiner alten Kiste Rechnungen aufgetaucht, die den Verkauf der Bücher belegten. Danach war es erheblich leichter geworden, sie aufzufinden. Bisher waren sie in zwei Büchern fündig geworden. Leider hatten sie dort nicht gefunden, was sie vermutet hatten, sodass sie die Suche auf die restlichen Bücher ausdehnen mussten. Als Angestellter der Universitätsbibliothek war es Dirk Lesser ein Leichtes, die Kataloge zu durchsuchen. Einige Bestände seines Vorfahren waren tatsächlich hier in der Bibliothek gelandet. Die ersten Exemplare hatten sich allesamt als Nieten erwiesen, doch bei dem jetzigen Buch hoffte er mehr Glück zu haben. Und dann schien es irgendjemand anderes für irgendeine Arbeit zu benutzen. Das konnte einfach nicht sein. So nah stand er vor seinem Ziel und dann so etwas. Dem würde er heute Abend nach Ende der Öffnungszeiten schon einen Riegel vorschieben. Das Buch bliebe so lange in seinem Besitz bis er sicher sein konnte, dass es etwas enthielt, was er suchte. Er würde es in die Restaurationswerkstatt bringen. Dort war es erst einmal sicher vor dem Zugriff von Fremden.
Bis zum Abend blieben ihm noch ein paar Stunden. Widmete er sich eben seinen fortlaufenden Arbeiten, falls er es schaffte, sich darauf zu konzentrieren. Das Buch würde ihm nicht weglaufen, aber er hätte bereits jetzt zu gerne gewusst, ob es tatsächlich enthielt, was er suchte.
Während er ging, warf er dem Besucher, der eifrig ein Werk durchblätterte, einen bösen Blick zu. Nur weil dieser Idiot es genommen hatte, konnte er es nicht einfach an sich nehmen. Er ballte die Hände zu Fäusten, als er merkte, wie die Wut ihn überkam. Jetzt nur nicht durchdrehen. Das Buch würde am Abend seines sein. Es gelang ihm, sich zu beruhigen. Er musste endlich lernen sich zu beherrschen und sich in Geduld üben. Das war etwas, was er einfach nicht besaß. Er wollte alles und zwar sofort. Verzögerungen kosteten ihn nur Nerven.
Nach Feierabend hatte er die Bibliothek für einige Stunden verlassen und war kurz vor Ende der Öffnungszeiten zurückgekehrt. Vollkommen unbehelligt war er in den Raum mit den alten Folianten zurückgekehrt. Ein leiser Zweifel überkam ihn kurz, als er die Regalreihe betrat, ob das Buch tatsächlich an seinem vorgeschriebenen Platz sein würde. Mit Erleichterung stellte er fest, dass es da war, wo es sein sollte.
Vorsichtig zog Dirk Lesser es aus dem Regal, kontrollierte noch einmal den Titel. Es handelte sich um die Bibel, die einmal der Familie seines Vorfahren gehört und die dieser veräußert hatte. Er schlug das Buch auf, betrachtete den Einband, tastete mit den Fingern das geleimte Papier ab. Er konnte auf dem vorderen Einband nichts Ungewöhnliches entdecken. Vielleicht hatte er beim hinteren mehr Glück.
Er legte das Buch auf dem Regal ab und öffnete es von hinten. Hier brauchte er nicht einmal mit den Fingern entlangfahren, da er das Ergebnis bereits mit bloßem Auge erkennen konnte. Für einen Laien sah es aus, als wäre beim verleimen des Bandes mit dem Umschlag unsauber gearbeitet und Luft beim Verkleben eingeschlossen worden. Doch bei diesem Luftwiderstand handelte es sich um dünne Papiere, die zwischen Umschlag und Einband versteckt worden waren.
Er konnte einfach nicht anders und begann vorsichtig das Papier vom Umschlag zu lösen. Weit kam er nicht, denn die Arbeit war damals sorgfältig ausgeführt worden. Wenn er das Papier nicht einreißen wollte, musste er sich in Geduld üben und warten bis er an anderer Stelle die Möglichkeit hatte, das Papier professionell ohne Schaden zu lösen.
Das Buch würde er in die Restaurationswerkstatt bringen, damit diese es entsäuern konnten. Der Zustand des Buches war nicht schlimm, auch wenn die Seiten leicht gewellt waren. Aber mit der Begründung, dass es entsäuert werden müsste, konnte er es problemlos aus dem Bestand nehmen, ohne dass es weiter auffiel. Glücklicherweise kannte er eine der Restauratorinnen. Wenn er ihr den Hinweis gab, dass der Einband sich löste und er wissen wollte, wie man so etwas vorsichtig vollständig löste, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten, würde sie ihm die Frage sicherlich beantworten. Was sollte sie hinter dieser harmlosen Frage auch vermuten?
Er würde das Buch mitnehmen und in seinem Büro einschließen, damit er es morgen früh gleich wegbringen konnte. Wahrscheinlich würde es noch einige Tage dauern bis er dann an die Papiere gelangte, aber so lange mussten die anderen sich eben gedulden. Er zerstörte keinen alten Folianten, nur weil sie ein Geheimnis bargen. Wenn es gar nicht anders ginge, würde er nicht so zimperlich sein. Aber so gab es noch andere Möglichkeiten, die er nutzen würde. Glücklicherweise wusste niemand außer ihm und seinen Gesinnungsgenossen von diesen Tagebuchseiten, die ihnen den Weg zu etwas Wertvollem ebnen würden. Deshalb konnte er so langsam arbeiten, wie er wollte. Denn es gab keine Konkurrenz, die ihm etwas streitig machen würde.