Читать книгу Im Zeichen des Denkmals - Helen Dalibor - Страница 19
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ОглавлениеHeidelberg, Bibliothekslesesaal der Ruprechts-Karl-Universität
Auf dem Tisch stapelten sich die Bücher, die sich mit der Völkerschlacht beschäftigten. Das sich im Oktober zum 200. Mal jährende Ereignis der Völkerschlacht bei Leipzig hatte zu einer wahren Flut von Neuerscheinungen oder Neuauflagen geführt, die sich mit der Völkerschlacht und den Befreiungskriegen beschäftigten. Selbst auf alte Handschriften war sie gestoßen, die von Soldaten verfasst worden waren, die entweder aufseiten der Grande Armée teilgenommen hatten oder auf der Seite Preußens.
Aller Wahrscheinlichkeit nach dürften die Berichte der preußischen oder der deutschen Soldaten, die in der russischen Armee oder Freiwilligenkorps dienten, einen eventuellen Hinweis auf den Tagebuchschreiber Heinrich Kalditz bringen. Durchgesehen hatte sie diese Exemplare noch nicht, da diese erst für sie herausgesucht werden mussten und diese nur in einem speziellen davor vorgesehenen Raum bearbeitet werden durften. Das Alter der Handschriften machte diese Vorgehensweise notwendig.
Karla lief bereits ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie nur daran dachte mit Baumwollhandschuhen an den Händen arbeiten zu müssen. Wenigstens hatte sie sich in einem Ein-Euro-Shop solche Handschuhe besorgen können. Wahrscheinlich würde sie diese ein einziges Mal verwenden und dann nie wieder benutzen.
Würde sie es überhaupt schaffen, mit diesen Handschuhen, eine Seite umzublättern? Nahm man dafür vielleicht eine Pinzette zur Hilfe?
So lange sie vorsichtig war und alle Regeln beachtete, würde sicherlich nichts geschehen.
Wie Mr Bean würde sie sich gewiss nicht anstellen und nachher ein ruiniertes Buch zurücklassen.
Das stellte auch die Frage, ob Klebstoff überhaupt in der Nähe mehrerer hundert Jahre alter Bücher gestattet war. Was brauchte sie Klebstoff oder Tesa?
Das Schlimmste an den ganzen Tagebüchern war doch das Schriftbild. Würde sie überhaupt die Möglichkeit haben, irgendetwas davon zu entziffern? Dem Ziel so nahe zu sein und dann zu versagen, davor graute ihr am meisten.
Momentan würde sie sich mit dem zufrieden geben, was sie hatte. Für ihren Artikel über die Völkerschlacht boten die Werke einen guten Einstieg. Die ersten Notizen hatte sie bereits in ihren Laptop eingegeben.
Zuvor hatte sie grob strukturiert, wie der Artikel laufen sollte. Erst würde sie mit dem großen Lärm beginnen, der abrupt endete, nachdem er über mehrere Tage erklungen war. Dann würde sie mit dem Ablauf der Völkerschlacht beginnen und damit enden, dass Napoleon den einzigen Rettungsweg, die Elsterbrücke zu früh sprengen ließ. So hatte er ungehindert fliehen können, während ihm das Schicksal seiner Soldaten völlig gleichgültig gewesen war - wie schon beim Russlandfeldzug.
Aus den Tagebuchberichten würde sie das eine oder andere einfließen lassen. Das alles musste nun herausgeschrieben und in eine zeitliche Reihenfolge gebracht werden. Die meiste Arbeit würde allerdings der Auftrag ihrer Freundin Isis kosten. Im Gegensatz zu Mona musste sie keine Arbeitsgeräte zweckentfremden, sondern konnte es mit ihrer Arbeit verbinden. Dennoch störte es sie, obwohl sie die Tagebuchseiten gefunden hatte. Die Lawine hatte sie ins Rollen gebracht. Isis hatte den nächsten Schritt getan und herausgefunden, wie der Tagebuchschreiber hieß. Nun war sie wieder an der Reihe. Dabei war das Aufspüren von Geheimnissen das Metier ihrer Freundin. Sie war bloß durch Zufall da hineingeraten.
Karla seufzte.
Von einem nicht allzu weit entfernten Regal beobachtete ein junger Mann die angehende Wissenschaftsjournalistin. Er hatte ein Buch aufgeschlagen und tat so, als würde er etwas darin suchen. Dabei beobachtete er sie aus den Augenwinkeln. Karla war so beschäftigt mit ihrer Aufgabe, dass sie ihn bislang nicht bemerkt hatte. So sollte es, wenn möglich, auch weiterhin bleiben.
Er musste sich einen Plan zurechtlegen, der ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte.
Auf ihrem Tisch lagen reichlich Bücher über die Befreiungskriege. Ob sie mit ihrer Arbeit zusammenhingen oder sie etwas über die Holzkarren finden wollte, wusste er nicht. Bislang handelte es sich ausschließlich um Gesamtübersichten. Tagebücher und Berichte schienen bis auf ein Werk nicht dabei zu sein. Aber warum sollte dort gerade etwas über Heinrich Kalditz oder die Holzkarren drinstehen?
Nun musste nur noch ein Plan her, wie er unverfänglich mit ihr ins Gespräch kam.
Karla blätterte ein Buch über die Völkerschlacht durch, das diese anhand von Augenzeugenberichten schilderte.
Den ersten Tag hatte sie bereits geschafft und noch nichts Passendes für ihren Artikel gefunden. Von irgendwelchen seltsamen Aufträgen war auch nicht die Rede, geschweige von Dingen, die nicht da sein sollten.
Erwartete sie zuviel? Es handelte sich nur um eine Auswahl von Tagebucheinträgen. Zwar waren gewiss die Interessantesten ausgewählt worden. Aber musste das Berichte einschließen, die sich mit dem beschäftigten, nach dem sie suchte? Gab es überhaupt solche Erwähnungen? Antworten darauf würde sie finden, wenn sie das Buch weiter durchsah. Nur hatte sie dazu überhaupt keine Lust mehr.
Ihr Kopf schwirrte, die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen.
Sie brauchte eine Pause von der ganzen Recherche, sonst würde sie bereits heute Abend alles stehen und liegen lassen und aufgeben.
Aus der Ferne beobachtete Markus, wie Karla sich von ihrem Platz erhob. Kurz reckte und streckte sie sich und strebte dem Ausgang zu.
Jetzt oder nie, er musste handeln! Diese Chance würde sich ihm nicht so schnell wieder bieten.
Zielstrebig folgte Markus der Wissenschaftsjournalistin und blieb abrupt stehen, als er sah, wie Karla den Toiletten zustrebte.
Unschlüssig ging er noch ein paar Schritte und bog anschließend in einen Seitengang ein, wo er in einen anderen Saal kam.
Was machte er jetzt? Warten bis seine Zielperson die Toilettenräume verlassen hatte und sie anrempeln? Nein, das war wie aus einem schlechten Film. So würde er nie ein Gespräch in Gange kriegen.
Verdammt, was machte er bloß? Er brauchte dringend eine Idee. Seine Schwestern hätten bestimmt was auf Lager, wie er erfolgreich zum Ziel kommen würde. Aber die waren nicht hier, sondern in alle Winde verstreut. Er war der einzige, der es nicht geschafft hatte aus Papas Einflussbereich zu entfliehen. Das musste er nun ausbaden. Wie er es hasste.
Markus war so in seine Gedanken vertieft, dass er nicht bemerkt hatte, wie er den Weg wieder zurückgegangen war. Erst als er vor dem aufgetürmten Arbeitsplatz der angehenden Wissenschaftsjournalistin zum Stehen gekommen war, nahm er seine Umgebung wieder wahr.
Vor ihm lagen verschiedene Bücher, die teils aufgeschlagen oder mit Papierstreifen markiert waren. Der größte Teil bestand aus Sachbüchern, aber es waren auch Tatsachenberichte dabei.
Diese erregten besonders seine Aufmerksamkeit, denn im Gegensatz zu den Sachbüchern waren sie extra gestapelt worden und vor ihnen lag ein unbeschriebener karierter Schreibblock. Eine gelbe Haftnotiz klebte auf dem jungfräulichen ersten Blatt. Mit Mühe konnte Markus die auf dem Kopf stehende Notiz lesen.
Suche nach Bewachung von Karren, Abkommandierung eines Trupps, um etwas (Karren oder ähnliches) in Sicherheit zu bringen, las er.
Das war eine nützliche Information, die sein Vater sicherlich gerne hätte. Denn anhand der Notiz ließ sich ausmachen, welche Tagebuchseiten die Wissenschaftsjournalistin gefunden hatte. Es musste sich um Seiten handeln, die sich mit der Völkerschlacht befassten. Also hatte sie nichts gefunden, was verriet, welchen Fund Heinrich Kalditz in Moskau gemacht hatte.
Die Euphorie über die Erkenntnis war schnell verflogen, als Markus der Gedanke kam, dass auch Seiten aus der Zeit als Soldat Napoleons dabei sein könnten. Denn ihre eigenen Berichte aus der damaligen Zeit waren nicht vollständig. So wussten sie beispielsweise nur, dass ein wertvoller Fund gemacht, der als Schatz bezeichnet worden war. Sie besaßen die Aufzeichnungen, wo der Schatz sich befunden hatte. Nur um welche Gegenstände es sich genau handelte, wussten sie nicht. Möglicherweise wussten die Wissenschaftsjournalistin und die Archäologin, um was es sich bei dem Schatz handelte. Aber würden sie das auf eine Haftnotiz schreiben?
"Komm, streng dich an!", schallt er sich.
Niemand wäre so dumm, so etwas direkt aufzuschreiben. Genauso wenig wurde damals den Soldaten gesagt, was sie zu bewachen hatten. Selbst wenn alle zur Verschwiegenheit verpflichtet worden wären, irgendjemand hätte geredet und sei es in seinem Tagebuch, wenn er schreiben konnte, oder es wäre auf dem Totenbett oder einer Beichte gewesen. Nein, niemand außer Heinrich Kalditz hatte gewusst, was es zu bewachen galt. Er war in der Position gewesen, den Befehl zu erteilen. Es gab nicht einmal ein Gerücht, dass ein Schatz als Lockmittel für Napoleon gedient hatte, um ihn zu einer Entscheidungsschlacht zu zwingen. Was immer...
"Hey, was machen Sie da?", wurde Markus jäh aus seinen Gedanken gerissen.
Ertappt drehte er sich um und starrte einer zornigen Karla ins Gesicht. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und machte nicht den Eindruck, dass sie leicht zu besänftigen wäre.
Verdammt, was machte er jetzt nur? Er brauchte eine plausible Erklärung - sofort!
Ungeduldig tippte Karla mit ihrem Fuß auf den Boden. Wenn sie nicht sofort irgendeinen Ton hörte, würde sie diesen begriffsstutzigen Trottel zu einem Bibliotheksangestellten schleppen und ihn des versuchten Diebstahls bezichtigen. Ihr Laptop mochte seine besten Jahre hinter sich haben, die Leertaste hakte. Aber technisch war das Gerät noch tadellos in Schuss. Darauf ließen sich problemlos die neuesten Lara Croft-Abenteuer spielen.
"Ich warte", sagte sie zwischen zusammengepressten Zähnen.
"Ich auch", sagte Markus, einer plötzlichen Eingebung folgend, "und zwar auf dieses Buch." Er tippte auf das oberste Buch aus Karlas abgesondertem Stapel.
"Da ich gerade nicht da war, dachten Sie, die Gelegenheit wäre günstig, es mir einfach wegzunehmen. So läuft das nicht. Ich arbeite an einem wichtigen Artikel und brauche dieses Werk dafür."
"Vielleicht sollten wir das woanders besprechen", sagte Markus, dem es sichtlich unangenehm war, dass er von sämtlichen Besuchern des Lesesaals mit vernichtenden Blicken gemustert wurde, weil er die Ruhe störte.
"Na gut", lenkte Karla ein, "gehen wir ins Treppenhaus."
Ihre Laune hatte sich auf dem Weg dorthin keinen Deut gebessert, auch wenn Markus das gehofft hatte.
Was dachte dieser Kerl sich eigentlich? Dass er ihr einfach ein Buch wegnehmen konnte, bloß weil er es angeblich brauchte? Wenigstens fragen hätte er können, auch wenn er es dann ebenfalls nicht bekommen hätte. Einmal während ihres Studiums hatte sie den Fehler begangen, einer Kommilitonin, die sie nicht einmal vom Sehen kannte, ein Buch kurz zu leihen, weil sie es gerade nicht brauchte. Nur hatte sie das Werk nie wieder gesehen, sondern musste eine passende Gelegenheit abwarten bis eines der drei Exemplare wieder im Regal gestanden hatte. Dieser Vorfall hatte sie mehr als eine Woche gekostet, an der sie nicht an ihrer Hausarbeit hatte weiter schreiben können. Seit dem Ereignis war sie vorsichtig, wenn sie etwas verleihen sollte, woran sie später arbeiten wollte. Aber heutzutage wurde nicht mehr gefragt, sondern einfach genommen.
Dem Heini würde sie was husten!
"Sie können das Buch haben, wenn ich es durchgearbeitet habe. Solange bleibt es in meinem Besitz."
"Spätestens heute Abend, wenn die Bibliothek schließt, werden Sie es zurückstellen müssen. Dann werde ich es mir morgen nehmen."
"Falsch gedacht, denn ich habe mir sämtliche Werke, die sie dort auf meinem Platz sehen, für eine Woche reservieren lassen. Bis Donnerstag nächster Woche werden Sie sich gedulden müssen."
Karla konnte nicht anders und schenkte ihrem Gegenüber einen triumphierenden Blick. Zu ihrer Überraschung machte er überhaupt keinen niedergeschlagenen Eindruck.
"Aber ich brauche das Buch", setzte er an. Seine Stimme klang falsch, seine zerknirschte Miene wirkte aufgesetzt, gespielt. Karla registrierte es und wurde in ihrer Ablehnung bestätigt.
"Arbeiten Sie in der Zwischenzeit an etwas anderem. So wichtig wird das Buch nicht sein."
"Mein Abgabetermin hängt mir im Nacken", versuchte Markus noch einmal an Karlas guten Willen zu appellieren. Er stieß bei ihr auf Granit.
"Fangen Sie das nächste Mal einfach früher an und nicht erst in letzter Sekunde. Dann läuft alles auch viel stressfreier ab."
Wenn sie wollte, konnte sie genauso boshaft sein wie Isis.
Leid tat ihr der Kerl nun wirklich nicht. Hätte sich selbst das Werk reservieren können. Das war nicht ihr Problem, wie er nun fertig wurde. Sie musste auch vorankommen.
"Sie arbeiten doch momentan nicht daran."
"Woher wissen Sie das?", fragte sie scharf.
"In dem Buch steckt kein einziger Papierstreifen. Ich setze mich an den Nebentisch, um mit dem Buch arbeiten zu können, falls sie Angst haben, ich könnte damit abhauen."
Gegen ihren Willen musste Karla lachen.
Nun gut, wenn er direkt neben ihr saß, hatte sie immer ein Auge auf ihn. Er aber auch auf sie und das behagte ihr nicht. Ihn ging nichts an, wonach sie neben ihrem Artikel noch forschte.
"Setzen Sie sich vor mich, da habe ich Sie besser im Blick. Aber sie kriegen das Buch nur heute und keinen weiteren Tag länger."
"Schon in Ordnung. Vielen Dank."
Markus konnte seine Erleichterung kaum verbergen, dass er mit der Zielperson in Kontakt getreten war, ohne sich zu verraten. Jetzt musste er sie nur noch in ein unverfängliches Gespräch verwickeln, um sie aushorchen zu können. Das würde der heikelste Moment des Plans sein. Alles weitere, was sein Vater und dessen Kompagnons sich ausgedacht hatten, mochte ein schöner Plan sein, aber er konnte das nicht durchführen. Er würde sich so plump aufführen, dass der gesamte Plan auffliegen würde. Was er bisher geschafft hatte, war nicht schlecht. Wenn er das Vertrauen der Wissenschaftsjournalistin gewinnen könnte, war das gut, aber mehr wollte er ihr nicht antun, denn er fand sie nicht unsympathisch.
"Wollen Sie vielleicht auch einen Kaffee trinken?", fragte er unverfänglich.
"Kaffee? Danke nein", sagte Karla und fügte dann hinzu, als sie die Enttäuschung im Gesicht ihres Gegenübers erkannte, "aber zu einer Paprika-Tomatensuppe sage ich nicht nein. Es gibt keine bessere als hier. Die müssen Sie unbedingt probieren."
"Dann eine Suppe", sagte Markus erleichtert und lachte über seine Befürchtung, er könne bei der Wissenschaftsjournalistin abgeblitzt sein.
Das Bistro war um diese Zeit gut gefüllt, aber Karla und ihr Begleiter fanden noch einen ruhigen Platz in einer Ecke, der von den anderen Gästen übersehen worden sein schien.
"Die Suppe ist wirklich delikat", sagte Markus, als er von seiner Paprika-Tomatensuppe probiert hatte.
Karlas Mund verwandelte sich in ein Grinsen, kaum dass seine Worte verklungen waren.
"Habe ich was Falsches gesagt?", fragte er irritiert.
"Nein, nein", sagte Karla lachend, "Sie erinnern mich in Ihrer Wortwahl nur an einer Freundin. Die drückt sich manchmal auch so altmodisch aus."
"Möglicherweise haben die alten Bücher abgefärbt, die ich seit Jahren lese. Zur damaligen Zeit drückte man sich gewählter aus als heutzutage."
"Oh ja", sagte Karla zwischen zwei Löffeln Suppe, "das erinnert mich an die über zweihundert Jahre alten Shakespeare-Übersetzungen, wo aus dem Wort jetzt ein iszt wurde. Damals machte es uns einen Heidenspaß, die Stücke wegen der sonderbaren Schreibweise zu verulken."
"Die einheitliche Rechtschreibung kam erst sehr viel später auf, nachdem Konrad Duden sein Rechtschreiblexikon veröffentlichte. Zuvor konnte jeder schreiben, wie ihm der Schnabel gewachsen war."
"Hätte einem in der Schule manches Diktat erspart. Aber worüber forschen Sie eigentlich?"
Markus fuhr der Schreck in die Glieder und er erstarrte für einen Moment, konnte sich aber wieder fassen. Ein unauffälliger Blick zu Karla sagte ihm, dass sie nichts von seinem Schrecken mitbekommen hatte.
Was sollte er ihr nur sagen? Einen so schönen Plan hatte er ausgeklügelt, der bisher völlig anders verlaufen war, als er sich gedacht hatte. In seinem ganzen Plan war aber nie aufgetaucht, warum er sich in der Bibliothek befand und wonach er forschte. Er hatte nicht wirklich geglaubt, dass es wichtig sei. Nun merkte er, dass er sich geirrt hatte.
Er brauchte schnellstens ein Thema, das mit dem Buch vereinbar war, dass er deshalb so dringend brauchte. Irgendwie musste er sich Zeit verschaffen.
"Wollen wir nicht lieber du sagen? In unserer Generation ist der förmliche Umgang nicht so weit verbreitet."
"Da kennen Sie meine Freundin schlecht. Die würde sogar ihren Regenschirm siezen, wenn der sprechen könnte. Deshalb geht sie auch nie zu Ikea. Aber wenigstens interessiert sie sich nicht für Stummfilme wie meine andere Freundin. Seitdem sie die französischen Stummfilme und Europas ersten männlichen Filmstar entdeckt hat, redet sie von nichts anderem mehr. Sogar sein Grab in Paris will sie besuchen."
Karla wusste nicht, warum sie all diese Dinge einem ihr völlig unbekannten Menschen erzählte. Davon hatte sie nicht einmal Arne Kramm etwas gesagt und mit dem hatte sie über mehrere Monate hinweg zusammengearbeitet.
"Ich bin Karla", sagte sie schnell und lächelte unverbindlich.
Hoffentlich ging ihrem Gegenüber ihr Geplapper nicht auf die Nerven. Sonst war sie nicht so.
"Markus - freut mich."
"Und woran schreibst du, dass du sogar versucht hast, dir das Buch in einem günstigen Moment zu klauen?"
"Ich wollte es nicht entwenden!", wies Markus empört von sich. Wenigstens das stimmte an der ganzen Geschichte. "Ich wollte bloß sehen, ob ich bei dir das Buch finden würde."
"Dann wolltest du mich bequatschen, dir das Buch auszuleihen."
"Versuchen kann man's immer."
"Bloß der Erfolg hängt vom Gegenüber ab. Tja, das sagt mir aber immer noch nicht, wofür du das Buch so dringend brauchst."
Auf eine Antwort wartend, legte Karla ihren Suppenlöffel beiseite und lehnte sich zurück. Gespannt sah sie Markus an.
Verdammt, sie ließ sich einfach nicht davon abbringen. Wenn er sich noch länger um eine Antwort drückte, würde sie misstrauisch werden. Er musste alles auf eine Karte setzen. Entweder gewann er oder seine Mühen wären vergeblich gewesen. Sein Vater würde ihn vor all den anderen fertig machen, wenn er mit Nichts zurückkäme. Wenn er ehrlich war, machte es ihm momentan weniger Angst, als die Aufmerksamkeit der Wissenschaftsjournalistin zu verlieren.
"Ich werte Tagebuchaufzeichnungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus, um den Alltag der einfachen Leute nachvollziehen zu können. Besonderes Augenmerk lege ich auf die Schlachten, die Napoleon auf deutschem Boden geführt hat und welche Auswirkungen diese für die Zivilbevölkerung hatten."
"Auch die Völkerschlacht?"
Karla konnte nicht sagen, warum, aber auf einmal misstraute sie Markus. War er von denen vorgeschickt worden, die hinter den Tagebuchseiten her waren? Der Mann im Zug war kaum älter als sie gewesen. Warum sollte nicht auch ihr Gegenüber zu denen gehören? Isis hatte ihr gesagt, dass sie wachsam bleiben müsse. Ihre Verfolger konnten überall sein. Warum sollte dieser junge Mann nicht zu ihnen gehören? Er wirkte zwar alles andere als clever und wie ein berechnender Krimineller, aber konnte sie sich nicht auch täuschen? Nicht hinter jeder Fassade lauerte das Böse, auch wenn Isis das behauptete. Dennoch sollte sie vorsichtig bleiben, nun, wo ihr Misstrauen geweckt war.
"Die ganz besonders", erwiderte Markus und merkte bereits als er die Worte aussprach, dass er das Falsche gesagt hatte.
Karlas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Kurz musterte sie ihr Gegenüber, dann stand sie abrupt auf.
"Es war nett, dich kennen gelernt zu haben. Nun muss ich weiter arbeiten. Du hast mich schon zu lange aufgehalten."
"Aber..." Sprachlos sah Markus ihr hinterher bis er sich besann und Karla folgte.
Mit seinen unbedachten Worten hatte er alles zunichte gemacht. Sein Vater würde toben und die anderen ihn mit mitleidigen Blicken bedenken. Er konnte so was einfach nicht. Besaß nicht die Abgebrühtheit andere zu belügen ohne mit der Wimper zu zucken oder sich plausible Erklärungen auszudenken, die ihm jeder abnahm. Dazu war er einfach nicht geschaffen. Aber dieses eine Mal nur wollte er nicht versagen. Es war ihm egal, ob sein Vater auf ihn stolz war, Hauptsache, es würde ihm die Gelegenheit bieten, nicht mehr gezwungen zu sein an den Treffen teilzunehmen. Ihn interessierte kein Schatz, bei dem man nicht einmal wusste, um was es sich handelte.
Nun scheitern, wo er schon so weit vorangekommen war? So leicht würde er sich dieses Mal nicht unterkriegen lassen. Außerdem war Karla ganz sympathisch gewesen.
"Hey, Karla! Warte!", rief er hinter ihr her und stürzte los. Wie nur sollte er ihren Verdacht zerstreuen, der durchaus berechtigt war?
Schnell hatte er sie eingeholt und verstellte ihr nun auf der Treppe den Weg.
"Lass mich durch!", zischte die Wissenschaftsjournalistin. "Lass mich durch oder ich schreie."
"Hör mich erst einmal an, bevor du mich verurteilst."
Markus wusste selbst nicht, woher er den ganzen Mut nahm, sich nicht einschüchtern zu lassen. "Ich weiß zwar nicht, was ich Falsches gesagt habe. Aber wenn ich dich irgendwie unbewusst beleidigt habe, tut es mir leid."
Markus war schlau genug nicht sein genanntes Thema zu verteidigen, das Karlas Misstrauen nur verstärkt hätte.
Karlas Gesichtszüge entspannten sich. Vielleicht hatte sie tatsächlich überreagiert und Markus grundlos verdächtigt. Viele Publikationen waren zum 200. Jahrestag der Völkerschlacht erschienen. Warum sollte es außergewöhnlich sein, wenn sich jemand mit dem Alltag des einfachen Volkes unter Napoleons Herrschaft beschäftigte? Isis hatte sie mit all ihren Warnungen völlig paranoid gemacht. Markus wirkte nun wirklich nicht wie jemand, der auf sie angesetzt worden war. Dafür stellte er sich viel zu plump an. Sie kannte die Männer und konnte zwischen einer plumpen Anmache und wirklichem Interesse unterscheiden. Ganz im Gegensatz zu Mona, die schon auf mehr Typen reingefallen war, als man an einer Hand aufzählen konnte.
"Du interessierst dich also für Tagebücher und Berichte von Menschen, die die Schlacht hautnah miterlebt haben?"
Seine Aufmerksamkeit war geschärft. Jetzt hieß es aufpassen, was er sagte.
"Nur die Zivilbevölkerung. Pfarrer, Lehrer, einfach quer durch die Schichten der Gesellschaft, die des Schreibens mächtig waren. Das Schlachtgeschehen selbst interessiert mich nicht, auch wenn ich diese Berichte natürlich auch durchsehe. Allerdings finde ich diese nur wichtig, wenn die Soldaten in Städten oder Dörfern untergebracht waren und wie der Umgang der Zivilbevölkerung war."
Er hoffte, die richtige Erklärung gefunden zu haben, die Karlas Bedenken zerstreuen würde.
Schweigend musterte die Wissenschaftsjournalistin Markus.
Sollte sie ihm glauben? Konnte sie ihm glauben? In ihrem Hinterkopf schrillte noch immer die Alarmglocke und die warnenden Worte ihrer Freundin Isis hallten ihr den Ohren wieder. Doch wurden sie beständig leiser und verhallten. Isis sah überall Gespenster, aber Markus gehörte garantiert nicht zu denen, die hinter ihr und den Tagebuchseiten her waren. Ein gesundes Misstrauen war von nutzen, aber man durfte es damit keinesfalls übertreiben.
"Also gut, ich arbeite das Buch gleich durch und wenn ich damit fertig bin, kannst du es haben. Einverstanden?"
Karla hatte ihm nicht gesagt, ob sie heute noch mit den Tagebuchausschnitten fertig werden könnte. Es konnte genauso gut morgen oder übermorgen mit dieser unverbindlichen Aussage gemeint sein. Dennoch wusste sie, dass sie ihn nicht so lange warten lassen würde.