Читать книгу Im Zeichen des Denkmals - Helen Dalibor - Страница 14
10
ОглавлениеBerlin, Alexanderplatz
Den Gang zur Polizei hatten sie sich sparen können. Ein Bettler besah sich voller Stolz den Fund, den er kurz zuvor gemacht hatte. Im Tausch gegen ein wenig Bargeld war er bereit gewesen, die Tasche und das Tablet herauszugeben.
Daraufhin hatte Isis beschlossen, dass Karla nicht mehr nach Hamburg fahren, sondern bei ihr in Olivers Wohnung übernachten sollte.
Bevor sie sich auf den Weg machten, bat die Ägyptologin ihre Freundin, den gesamten Inhalt von Rucksack und Tasche auszupacken und auf dem Tisch des Fastfood-Restaurants auszubreiten. Anfangs verstand Karla nicht, was Isis vorhatte und fühlte sich von ihr schikaniert. Doch Isis konnte ihr glaubhaft versichern, dass es nicht grundlos geschah, sondern sie einen ganz bestimmten Sinn und Zweck verfolgte. Der erschloss sich Karla zwar nicht, aber wenn ihre Freundin wusste, was der Grund für diese Aktion war, reichte ihr das.
Nachdem sie Karlas Tasche wieder gefunden hatten, hatte sich Isis den Weg über bis zum Schnellrestaurant gefragt, wie es ihrem Verfolger möglich gewesen war, ihnen zu folgen, ohne direkt an ihren Füßen zu kleben.
Laut Karla war der angebliche Geschäftsmann bereits am Bahnhof Südkreuz ausgestiegen, hatte sich allerdings anschließend im selben S-Bahn-Waggon wie sie befunden und war erneut aufgetaucht, als sie sich vom Museum aus auf den Weg zum Alexanderplatz gemacht hatten.
Er war nicht mit ihnen aus der S-Bahn gestiegen, niemand hatte sie bis zum Museum verfolgt. Die Archäologin hatte sich immer wieder vergewissert, dass niemand hinter ihnen gewesen war. Wie konnte es also sein, dass derselbe junge Mann erneut ihre Spur aufgenommen hatte, obwohl er sie mehrmals aus den Augen verlor? Es gab nur eine Möglichkeit, er hatte irgendwo in Karlas Sachen einen GPS-Sender versteckt. Die Dinger zeigten zwar nicht millimetergenau an, wo sich jemand befand, aber es reichte aus, den ungefähren Standort zu kennen. Wie man gesehen hatte, hatte es funktioniert.
Die Anwesenheit einer zweiten Person schloss Isis definitiv aus. So unauffällig hatte sich niemand bewegen können, dass er ihr völlig entgangen wäre. Spätestens kurz vor der Museumsinsel, wo sie durch die gezimmerten Gänge hatten durch müssen, war niemand hinter ihnen gewesen, der seit geraumer Zeit an ihrem Hacken klebte.
Karla hatte den Tisch mit ihren Habseligkeiten belegt. Das meiste waren Taschentuchpackungen, die ihr bei einem Schnupfen nützlich werden würden. Was sie jetzt damit wollte, konnte Isis nur raten. Gemeinsam untersuchten sie jeden Gegenstand gründlich, wurden allerdings nicht fündig. Sollte die Ägyptologin sich mit ihrer Vermutung geirrt haben?
"Ich hab' dir gesagt, dass es Schwachsinn ist. Einen Sender in meine Sachen zu packen, hätte ich merken müssen", sagte die angehende Wissenschaftsjournalistin, während sie die Dinge auf dem Tisch zurück in ihren Rucksack und ihre Tasche stopfte. Schweigend sah Isis ihr zu.
Karla hatte recht. Es war eine Schnapsidee gewesen, mehr nicht. Dennoch war sie nicht von ihrer Vermutung abzubringen. Der Unbekannte musste sie irgendwie gefunden haben. Wenn es keine zweite Person gab und er ihnen unmöglich gefolgt war, was blieb anderes als ein Sender, der das alles erklärte? Solche GPS-Sender waren inzwischen so klein, dass sie einem gar nicht auffielen. Sie passten in jede Tasche, jede noch so kleine Ausbuchtung.
Isis hielt inne. In ihrem Kopf formte sich ein Gedanke. Das sie nicht gleich darauf gekommen war. Manchmal war sie blind für die kleinen Dinge.
"Gibst du mir mal den Schultergurt mit der Handytasche?"
Karla zog die Achseln hoch, gab ihrer Freundin aber ohne weiteres den Rucksack.
Was will sie denn damit?, ging es ihr durch den Kopf. Falls Isis die Handytasche haben wollte, überließ sie ihr die gern. Damit hatte sie nie etwas anfangen können, bewahrte höchstens Taschentücher darin auf. Eigentlich hatte sie dieses unnötige Accessoire längst entfernen wollen. Es wurde Zeit, dass sie es endlich tat.
"Du kannst die Handytasche haben, ich brauche so was nicht."
Doch Isis hörte ihrer Freundin gar nicht zu. Die Ägyptologin wühlte in der Tasche, zog mit spitzen Fingern angewidert ein benutztes Taschentuch heraus, das sie Karla zuwarf. Dann versenkten sich ihre Finger erneut in der Tasche und stießen auf einen kleinen Gegenstand. Auf Isis' Zügen bildete sich ein Lächeln ab.
"Na, wer sagt's denn? Da haben wir den Übeltäter."
Triumphierend zog sie einen kleinen schwarzen Knopf aus der Handytasche und legte ihn auf den Tisch.
"Das Ding da hat dem Scheißtypen gezeigt, wo wir sind?"
Ungläubig starrte Karla auf das gerade daumennagelgroße Etwas. Nicht zu fassen, wie schnell die Technik voranschritt. Vor wenigen Jahren war so ein Sender noch so groß wie eine Tafel Schokolade und mindestens vierfach so hoch gewesen. Nun passte so ein Ding in jede Kleidertasche. Nicht mehr lange und die gesamte Technik würde auf einen Streifen Papier passen, ähnlich den RFID-Etiketten. Dieses Wunderwerk der Technik war kaum dicker als die dünnste Pappe und ließ sich überall befestigen. Die angehende Wissenschaftsjournalistin überlief ein kalter Schauer, wenn sie sich vorstellte, wie leicht es sein würde, jemanden zu überwachen. Ihrem früheren Nachbarn, der sich für den letzten Überlebenden der Stasi hielt, wäre es die Erfüllung aller Wünsche und Träume. Endlich würde er sämtliche Wege seiner direkten Nachbarn herausfinden und Buch darüber führen können. Falls er wegen des wiederholten Straftatbestandes der Paragraphen 185, 186 und 187 des Strafgesetzbuches noch nicht aus dem Gefängnis raus war, bespitzelte er gewiss seine Mitgefangenen. Ja, fünf Jahre konnten lang sein und waren manchmal relativ kurz. Bestimmt war er bereits draußen, eben weil er das Spionieren so gut beherrschte. Der konnte sich immer gut durch alles durchmogeln, auch wenn er manchmal doch mit dem Gesetz in Konflikt geraten war.
Karla hatte überhaupt nicht bemerkt, wie der Sender in ihren Rucksack gekommen war. Er hatte die ganze Fahrt über von Leipzig nach Berlin auf dem Sitz neben ihr gelegen. In der Zeit war der junge Mann nicht von seinem Sitz aufgestanden. Selbst wenn er versucht hätte, etwas in der kleinen Tasche zu verstecken, wäre es ihr aufgefallen. Wenn sie während der Fahrt über geschlafen hätte, wäre es nachzuvollziehen gewesen, aber sie war wach gewesen, hatte gearbeitet. Wann hatte sich ihm die Möglichkeit geboten zuzuschlagen?
Es fiel Karla wie Schuppen von den Augen, als ihr einfiel, dass sie für fast zehn Minuten den Rucksack unbeaufsichtigt auf ihrem Sitz hatte liegenlassen. In diesem Zeitraum hatte sie mit Isis telefoniert und der junge Mann hatte zuvor versucht, sie zu belauschen. Hatte sie wenigstens geglaubt. Wahrscheinlich hatte er versucht, sie einzuschüchtern und darauf spekuliert, dass sie den Waggon wechseln würde und er somit problemlos an ihren Rucksack gehen konnte, ohne dass sie es bemerkte. Es war ihm in der Tat gelungen, sie zu überlisten. In der angehenden Wissenschaftsjournalistin baute sich Wut auf. Sie war so vorsichtig gewesen und dann hatte sie dieser Kerl einfach überlistet. Kalt und berechnend hatte er ihre Ängste ausgenutzt und den GPS-Sender in ihrer Handytasche versteckt.
Na warte, dass sollte das Arschloch büßen!
Karla schnappte sich, ohne zu überlegen, den Sender und warf ihn auf den Boden.
"Jetzt kannst du lange warten, mich zu finden", zischte sie.
Sie hob ihren Fuß an und wollte ihn auf den Gegenstand niedersausen lassen, um ihn in seine Einzelteile zu zerschmettern.
"Warte", rief Isis hilflos. In letzter Sekunde gelang es ihr, den Sender mit ihrem eigenen Fuß anzutippen, dass er einen halben Meter über den Boden schlitterte. Hoffentlich kam jetzt niemand vorbei und trat auf das Teil, dann wäre ihre Rettungsaktion vergebens gewesen.
Den Spionagegegenstand hatte sie vor der Zerstörung gerettet, ihren Fuß allerdings nicht rechtzeitig zurückziehen können. Mit voller Wucht traf sie Karlas Schuhsohle. Glücklicherweise trug diese heute Schuhe mit recht dünnen Sohlen. Höllisch weh tat es dennoch.
Schmerz schoss von ihrem Fuß das Bein hoch. Ihre Freundin hatte längst die Schmerzensstelle wieder freigegeben, da überkam Isis ein unangenehm warmer und kalter Schauer, der langsam nachließ und vollständig verschwunden war, als ihr Spann und ihre Zehen nicht mehr wehtaten. Sie japste nach Luft und musste an sich halten, um nicht laut aufzuschreien.
Herrje, tat das höllisch weh! Hoffentlich war nichts gebrochen. Nicht weiter an den Schmerz denken, war das Beste, was sie tun konnte.
Karla hatte in die schmerzgeweiteten Augen ihrer Freundin geblickt und fragte sich, woher diese die Disziplin nahm, nicht laut zu schreien. Isis überraschte sie immer wieder.
"Den Sender können wir noch gut gebrauchen", begann die Archäologin, nachdem sie den Sender vom Boden aufgehoben hatte. "Hättest du ihn in deiner unbedachten Wut zerstört, wüsste der Unbekannte sofort, dass wir sein kleines Helferlein gefunden haben. Wir müssen ihn oder sie, falls es mehrere sein sollten, weiterhin im Glauben lassen, wir hätten den Sender nicht gefunden."
"Wie willst du das anstellen" fragte Karla neugierig.
"Lass mich nur machen", erwiderte Isis. Auf ihren Lippen bildete sich ein Grinsen, das schnell wieder verschwand, als sie aufstand und das Gewicht auf ihren malträtierten Fuß setzen wollte. Dieses Mal konnte sie nicht verhindern, dass ihren Mund ein schmerzendes Stöhnen verließ.
Es war furchtbar einfach gewesen, ihren Verfolger in die Irre zu führen. In der Straßenbahn hatte die Ägyptologin den Sender in eine Ecke gelegt, wo er nicht weiter auffallen würde. Während der Gegenstand nun bis zur Endstation Potsdam fuhr, danach wieder zurück Richtung Wartenberg und so lange hin und her fahren würde bis jemand darauf kam, dass der Sender abgelegt worden war oder die S-Bahn ins Depot fuhr, stiegen Karla und sie bereits an der nächsten Station wieder aus, nahmen eine Straßenbahn in die entgegen gesetzte Richtung und fuhren erst einmal umher, um sicher zu gehen, dass ihnen niemand folgte. Erst dann war Isis tatsächlich überzeugt, dass ihnen niemand folgte, weshalb sie den Weg nehmen konnten, der sie in Oliver Waarens Wohnung brachte.
Dort befanden sie sich gegenwärtig und hatten dessen Wohnzimmer in Beschlag genommen. Vor ihnen ausgebreitet lagen die beschriebenen Seiten des unbekannten Soldaten, der unter Napoleons Kommando in Russland gewesen war.
Isis trug Baumwollhandschuhe, ebenso Karla, der sie aufgenötigt worden waren, weil diese sich uneinsichtig gezeigt hatte, warum sie welche tragen sollte.
"Wir arbeiten an einem Original, da trägt man Handschuhe. Was hat man dir in der Restaurationswerkstatt eigentlich erzählt? Also entweder, ich sehe Handschuhe an deinen Händen oder ich werte die Seiten allein aus", hatte die Archäologin ihren Standpunkt klar gemacht.
So war der angehenden Wissenschaftsjournalistin nichts anderes übrig geblieben, als dem Befehl ihrer Freundin zu folgen und sich in ihr Schicksal zu fügen. Sie schwitzte in den Handschuhen und konnte sich nicht kratzen, wenn es sie irgendwo juckte. Ihr gesamter Körper schien auf einmal unter einer Hautirritation zu leiden, die es nötig machte, sich überall zu kratzen. Es half wenig, dass dieser Zustand bald vorübergehen würde, wie Isis ihr versichert hatte.
"Der Soldat heißt Heinrich Kalditz und wurde gemeinsam mit seinem Bruder Thomas für Napoleons Grande Armée zwangsverpflichtet. Kein ungewöhnliches Schicksal zur damaligen Zeit. Wer jung und männlich war und in Napoleons Machtbereich lebte, musste als Kanonenfutter herhalten. Am Ende ging der Kaiser der Franzosen an seinem eigenen Machthunger und seiner Überheblichkeit zugrunde."
"Aber es war nicht alles schlecht", protestierte Karla. "Er hat uns von der Vielvölkerei befreit."
Isis schmunzelte über den Versprecher ihrer Freundin.
"Kleinstaaterei, richtig. Mensch, Karla, ich hätte nicht gedacht, dass du das noch weißt."
"Du unterschätzt mich halt", erwiderte ihre Freundin mit stolzgeschwellter Brust. "Ich muss einen Artikel zur Völkerschlacht schreiben. Da informiere ich mich auch über die Vorgeschichte."
"Trotzdem, dein enormer Wissenszuwachs freut mich. Vielleicht wirst du eines Tages sogar in einem Beruf arbeiten, der hauptsächlich mit geschichtlichen Themen zu tun hat."
"Ich bin Diplom-Chemikerin, das geht gar nicht."
"Der letzte Grabungsleiter des Troja-Projektes war ebenfalls Chemiker. Lass dich durch dein Studium nicht einengen." Skeptisch wurde die Archäologin von ihrer Freundin beäugt. "Sieh dich an! Du arbeitest für eine wissenschaftliche Zeitschrift, die sich mit Geschichte und Archäologie beschäftigt. Natürlich könntest du auch ins Klatschpresse-Fach wechseln, jetzt, wo du bewiesen hast, dass du schreiben kannst. Aber da du dir keine Namen merken kannst... Nee, die wüssten gar nicht, wen du mit der Brandenburger aus Berlin gemeint habe könntest."
"Amerika, wenn schon. Und du bist darauf gekommen. Nun gut", Karla winkte ab, "lass uns weitermachen."
"Das Tagebuch scheint bereits früher zu beginnen, allerdings fehlen hierzu die Seiten. Du hast nicht zufälligerweise was übersehen bei deiner Fundsicherung?"
Isis sah ihre Freundin mit Unschuldsblick an. Karla verstand die Anspielung auf den Diebstahl sofort. Anstatt mit einer zurechtgelegten Erwiderung, fing sie zu lachen an. Das Gesicht der Archäologin sah zu komisch aus.
"Ich sollte dich erwürgen", brachte sie zwischen einigen Kieksern hervor.
"Mach nur, dann wirst du nie erfahren, was ich gerade gelesen habe."
"Ich kann auch lesen."
"Aber nicht das hier, ist auf Latein verfasst."
"Und was steht dann da?", fragte Karla, nun vollkommen ernst. Latein konnte sie tatsächlich nicht.
"Es wird Unglück bringen. Wer es besitzt wird alles verlieren: Macht, Gesundheit, Leben."
Isis verzog keine Miene, während sie die Worte aussprach, sodass ihre Freundin nicht sagen konnte, ob es sich nur um einen Spaß handelte oder nicht. Versuchte Isis tatsächlich zu scherzen? Karla versuchte im Gesicht der Archäologin zu lesen. Offensichtlich hatte sie tatsächlich solche Worte auf einer der Seiten gefunden, die sie nun in Händen hielt.
"Ist das ein Fluch?" Gebannt starrte Karla auf das beschriebene Blatt und konnte doch nichts erkennen.
"Nein, mehr eine Feststellung." Isis las sich noch einmal den Absatz zuvor und den danach durch. Dort fand sich nichts, was gemeint sein könnte. "Hier fehlen auch wieder ein paar Seiten, scheint mir. Wie es aussieht, ist wohl etwas gefunden worden, dass auf dieser Karte verzeichnet ist." Die Archäologin deutete auf eine abgegriffene Karte, die aus Straßen zu bestehen schien. Namen waren in die einzelnen Vierecke geschrieben worden. Möglicherweise handelte es sich um Gebäude. Isis blieb es ein Rätsel, weil es sich um kyrillische Buchstaben handelte und sie diese genauso wenig wie arabisch oder griechisch lesen konnte.
Karla betrachtete die Karte. Im Gegensatz zu ihrer Freundin konnte sie lesen, was dort stand.
"Zeigt irgendeine Stadt oder ein Dorf. Hier ist ein Krankenhaus und hier ein Palast. Warte, da steht doch der Name der Stadt: Moskwa - Moskau."
"Du kannst russisch lesen?", fragte die Archäologin verwundert. Das war ihr bisher entgangen.
"Meine Freundin in der Grundschule war Russin. Nicht alle Polen haben was gegen Russen oder umgekehrt."
"Gut, dann zeigt die Karte nicht nur eine Stadt, sondern die Hauptstadt des russischen Reiches, die Napoléon eroberte und doch nicht in Händen hielt. Hier ist ein Gebäude umkreist. Der Kreis markiert den Punkt. Schön zu wissen und eigentlich völlig unwahrscheinlich, dass es so einfach ist auf die Lösung zu stoßen."
"Ich glaube, Mona würde jetzt von Indiana Jones anfangen."
"Mit dem ich absolut nichts zu tun habe, außer das wir beide immer in die unmöglichsten Abenteuer hineingezogen werden und sonst was finden. Gut." Isis legte die Karte zurück aufs Sofa. "Mit Hilfe der Karte scheint irgendetwas entdeckt worden zu sein, das Unglück bringt."
"Ein Schatz" stieß Karla hervor.
"Möglicherweise auch das, warten wir es ab. Vielleicht steht noch mehr in den Blättern, auch was mit dem Fund geschehen ist."
"Napoleon hat sich's unter den Nagel gerissen. So wird's geschehen sein."
"Oder auch nicht. Moskau hat gebrannt, die Soldaten plünderten, was ihnen in die Hände fiel. Auf dem Rückzug mussten sie vieles zurücklassen. Die Straßen waren voller Schlamm, die Wagen blieben mit dem Raubgut einfach stecken. Möglich, dass so der Schatz einfach auf der Strecke liegen blieb. Lassen wir uns überraschen, was Heinrich Kalditz schreibt."
Isis nahm das nächste Blatt zur Hand.
"Ach, Napoléon hat den Fund für sich beansprucht. Das wundert mich jetzt nicht wirklich, selbst du hast es vermutet. Folglich verließ dieser Moskau, nahm allerdings nicht den Weg nach Paris, sondern nach Sachsen. Da muss sich jemand arg verfahren haben. Sachsen."
"Von wo ich gerade komme. Welch ein Zufall."
"Oder Fügung des Schicksals, ganz wie du willst." Isis überflog den Rest der Seite. "Der Kaiser der Franzosen wollte seinen Schatz zurückhaben, damit er trotz Niederlage über Alexander triumphieren konnte. Allerdings wusste er nicht, wie der Soldat hieß, der ihm die wertvollen Kisten abspenstig gemacht hatte. Unser Tagebuchschreiber amüsiert sich darüber köstlich."
"Allerdings schien Napoléon gewusst zu haben, dass der Fund sich in Leipzig befinden musste."
Karla reichte der Archäologin ein anderes Blatt.
"Er hat seine Truppen formiert. Zwar nennt der menschenfressende Franzose den Verrat am Frieden als Grund, doch er will seinen Schatz zurück. Ein Schatz, der tausenden von Menschen das Leben kostete. Jahrhunderte ruhte er in der Erde bis Thomas auf ihn stieß. Meinem Bruder kostete er das Leben und dieser französischen Bestie wird er den Untergang bereiten. Er hat von seinen Spähern Kenntnis erhalten, wo er das Gesuchte finden wird. Wir sind vorbereitet - alle: Preußen, Russen, Sachsen, Österreicher. Unsere Reiche stehen fest wie ein Volk zusammen. Gemeinsam werden wir ihn besiegen. Wenn der Franzosenkaiser im Staub liegt, wirst du, Thomas, gerächt sein!"
Die Worte der Ägyptologin verhallten. Schweigen breitete sich im Raum aus.
Scharf sog Karla die Luft ein. Es ging um einen Schatz, dass war nun sicher. Napoleon hatte den Fund haben wollen, weshalb er nach Leipzig gekommen war und dort auf erbitterten Widerstand traf. Das Kriegsglück war ihm nicht hold gewesen, er verlor die Schlacht gegen die vereinigten Truppen seiner ehemaligen Zwangsverbündeten. Es war der Anfang vom Ende von Napoleons Karriere als Feldherr gewesen.
"Napoléon ist in eine Falle getappt" stellte die angehende Wissenschaftsjournalistin fest.
"Wahrscheinlich, allerdings suchte er die Entscheidungsschlacht. Warum er auch immer nach Leipzig gekommen ist, Tatsache bleibt, dass er gegen den Zusammenschluss aus Preußen, Russen und Österreichern verlor. Sachsen war mit Napoleon verbündet, da können nur einzelne Verbände, die sich freiwillig gemeldet haben, gegen den Franzosenkaiser gekämpft haben. Obwohl Bonaparte entkommen konnte, fand er sich ein Jahr später auf Elba wieder."
"Wo es ihn nicht lange hielt", warf Karla ein.
"Für hundert Tage kehrte der Kaiser der Franzosen zurück und versagte erneut, dieses Mal bei Waterloo oder besser Belle-Alliance. Nun ging es nach St. Helena, vollkommen abgeschnitten von der Außenwelt und damit der ideale Ort für jemanden, der nie mehr die Geschicke Europas Durcheinander bringen sollte."
"Den Schatz hat er sehr wahrscheinlich nie wieder gesehen."
"Nein, das wird er wohl nicht. Dafür dürfte dieser Schatz als Lockmittel gedient haben, um eine Entscheidung herbeizubringen. Leipzig war der Anfang vom Ende."
"Meinst du?", wollte Karla wissen und merkte selbst, wie ungenau ihre Frage geklungen hatte. Hastig fügte sie hinzu: "Die haben ihn bewusst des Schatzes wegen in eine Falle gelockt." Isis nickte. "Aber was ist an diesem ominösen russischen Fund so besonders gewesen?"
"Tja, das wüsste ich auch gern. Nur leider verrät es mir das Tagebuch nicht, weil die betreffenden Seiten fehlen. Interessant ist allerdings, dass Jahrzehnte später noch etwas von unserem sächsischen Soldaten hinzugefügt wurde: Nun liegt er dort, wo er hingehört. Ein kleiner Franzose wollte ihn, doch wir Kameraden bewachen ihn. Jetzt sind es andere, die über ihn wachen. Sie mögen es, so Gott will, noch in mehreren hundert Jahren tun."
"Klingt ganz nach einem verschlüsselten Hinweis, wo man suchen soll."
"Ob man allerdings mit dem Fund glücklich werden wird, bleibt fraglich. Er hat noch keinem Glück gebracht: Dem einen brachte er den Wahnsinn, dem nächsten den Tod und dem folgenden gelang nichts mehr. Möge er auf immer verschwunden bleiben, vom Erdboden verschluckt. Das waren die letzten Worte des Tagebuchs."
"Ein Warnhinweis, dass niemand nach dem Schatz suchen soll. Das wird immer mysteriöser."
Karla klang ganz begeistert und klatschte vor Übermut in ihre Hände. Solche Geschichten gefielen ihr, solange sie nicht selbst darin verwickelt war.
"Ob wirklich ein Fluch auf diesem Schatz liegt, muss noch erst herausgefunden werden. Dazu müsste man ihn allerdings erst einmal finden."
"Willst du etwa danach suchen?" Unbehagen breitete sich in der angehenden Journalistin aus. Von einem Schatz zu lesen oder ihn zu suchen, waren zwei verschiedene Dinge.
Gewiss waren die Seiten nicht umsonst versteckt worden. So etwas wurde nicht grundlos gemacht. Der Schatz samt Fluch sollte für immer unentdeckt bleiben.
"Neugierig bin ich schon, was es damit auf sich hat. Zudem wüsste ich gern, wo die fehlenden Tagebuchseiten abgeblieben sind. Diejenigen, die über den Russenschatz berichten."
"Vielleicht stecken die noch in der Vorderseite des Einbandes", schlug Karla vor.
"Das glaube ich nicht. Das Buch sollte erst restauriert werden, folglich wird zuvor eine grobe Bestandsaufnahme erfolgt sein. Nein, vielmehr glaube ich, dass die betreffenden Seiten in einem anderen Folianten waren und bereits gefunden wurden. Warum sonst sollte man hinter dir her sein, wenn man keine Kenntnis darüber hätte?"
Isis nahm noch einmal die Blätter einzeln, nacheinander, zur Hand und betrachtete sie genauer.
Tatsächlich fiel ihr etwas auf. Vorsichtig strich sie über die Längsseite.
"Reich mir bitte die Lupe." Fordernd hielt die Ägyptologin ihre Hand auf. Als nichts geschah, sah sie kurz auf. Ihr Blick war voller Vorwürfe. "Unter dem Fernseher."
"Ist wieder typisch. Ich muss springend, während du forderst." Grummelnd erhob sich die angehende Wissenschaftsjournalistin und holte vom Fernseher das Gewünschte.
"Ich bin die Expertin. Danke."
Die Finger der Ägyptologin schlossen sich um den Lupengriff. Sie schaltete die Lampe ein und betrachtete die Längsseiten genau. Nachdem sie gedreht und gewendet worden waren, war Isis zufrieden.
"Ich hab's mir gedacht. Die Seiten sind aus einem Buch herausgerissen worden."
"So wie das, in dem sie versteckt waren?"
"Nein, stell dir lieber etwas Ähnliches wie das Notizbuch von Indiana Jones' Vater vor. Etwas in der Art müsste es gewesen sein."
"Da gibt es nur ein kleines Problem", erwiderte Karla. "Ich habe leider keine Ahnung, was du meinst, denn im Gegensatz zu Mona habe ich noch keinen der Filme ganz gesehen. Ich weiß nicht einmal, welchen der fünf Teile du meinst."
"Vier sind es, aber egal. Dann eben eine ganz normale Schreibkladde, aber nur die Hälfte davon."
"Ah, ich verstehe. Falls dieses Buch noch existieren sollte, glaubst du, dass es die anderen haben."
"Möglich, vielleicht haben sie auch nur die Seiten, die hier fehlen. Ich weiß es nicht und will es auch gar nicht so genau wissen. Dennoch sollten wir auf der Hut sein."
Isis legte die Blätter zusammen, steckte sie zurück in eine Klarsichthülle und streifte sich die Handschuhe ab. Klara tat es ihr gleich und betrachtete ihre Hände, die nass geschwitzt waren.
"Ich hasse Handschuhe, auch wenn Baumwolle nicht so schlimm ist wie diese blöden Gummidinger, die ich bei einigen Experimenten tragen musste. Da kommt man erst kaum rein und dann nicht wieder raus."
"Tja, man schwitzt sich die Hände tot und hat noch Puder an den Fingern hängen, weil dieser eigentlich die Flüssigkeit aufsaugen soll. Heutzutage werden sie meist ohne Puder angeboten, aber die sind auch nicht besser. Dafür sind sie sehr zu empfehlen, wenn man in der Obst- und Gemüseabteilung ist. Man kann alles anfassen und fasst es doch nicht an."
Stirnrunzelnd sah Karla ihre Freundin an. Was war mir dieser eigentlich los? Solchen Blödsinn hatte sie das letzte Mal erzählt, als sie ihnen Oliver verheimlichen wollte. Am besten kommentierte man es nicht und ließ Isis reden.
Der Vortrag der Ägyptologin wurde durch das Klingeln ihres Handys unterbrochen.
"Ja?", fragte sie ungehalten, ohne auf den Anrufer zu achten.
"Isis?", kam es flüsternd zurück, dass die Ägyptologin Schwierigkeiten hatte etwas zu verstehen.
"Mona, was ist denn? Um diese Uhrzeit? Schläfst du nicht?"
"Dein Alarmsystem hat stillen Alarm ausgelöst. Irgendjemand versucht ins Haus zu kommen."
Isis begann innerlich zu zittern, obwohl sie keinen Grund dazu hatte. Nicht sie war es, die etwas zu befürchten hatte, sondern Mona.
"Hast du sie auf den Videokameras sehen können?"
"Zwei dunkle Gestalten mit Kapuze überm Kopf. Ich kann ihre Gesichter nicht sehen."
"Gut, leite den Alarm an die Polizei weiter. Falls diese faulen Sesselpuper nicht in zehn Minuten da sind, schalte den Außenalarm ein. Falls sie dennoch ins Haus kommen sollten, was ich nicht glaube, schließ dich ein und versuch es noch einmal telefonisch bei den faulen Säcken. Möglich, dass sie dann kommen, außer sie senden einen freien Wagen aus Wilhelmsburg oder Bergedorf."
"Mach ihr noch Mut", warf Karla ein, der nicht gefiel, wie Isis redete. Ihre Freundin hatte so eine Art, einem alles schwarz zu reden.
"Der Alarm ist gesendet. Ich werde sie weiter beobachten. Offensichtlich suchen sie eine geeignete Stelle, um einzusteigen. Die vielen Töpfe und Rankgitter scheinen ihnen nicht zu gefallen."
Mona klang ob dieser Tatsache beinahe belustigt.
"Pass auf dich auf. Ich werde morgen kommen."
Isis beendete das Gespräch. Auch wenn sie recht salopp über die Polizei gesprochen hatte, ging es ihr nahe, dass jemand versuchte, in ihr Heim einzudringen. Das war ihr Schutz, ihr Reich, ihre eigenen vier Wände, eben ihr Zuhause. Falls das jemand entweihen sollte, würde sie dort drin nie mehr glücklich werden. Bei ihr einzubrechen hatten nicht einmal die Hüter des wahren Horus versucht.
"Mona macht das schon", gab sie sich zuversichtlicher als sie war.
"Was habe ich nur getan?", wiederholte Karla fassungslos und schlug sich die Hände vors Gesicht.
Tröstend legte ihr Isis eine Hand auf die Schulter.
"Du kannst nichts dafür."
"Doch!", warf die angehende Wissenschaftsjournalistin trotzig ein. "Hätte ich diese Seiten nicht gefunden und mitgenommen, wäre alles in bester Ordnung. Niemand hätte mich verfolgt oder würde versuchen, bei dir einzubrechen."
"Woher hättest du wissen sollen, dass irgendwelche Unbekannten hinter dir her sein würden, um in den Besitz der Blätter zu gelangen? Nein, dich trifft keine Schuld." Dass Karla die Seiten gar nicht erst hätte mitnehmen müssen und ihnen damit jede Menge Scherereien erspart hätte, ließ Isis unerwähnt. Man musste nicht unnötig Salz in die Wunde streuen. Es war schmerzhaft genug, dass Karla sich Selbstvorwürfe machte.
"Was machen wir jetzt?", wollte die angehende Wissenschaftsjournalistin wissen, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.
"Gar nichts“, erwiderte die Archäologin. Wir gehen schlafen und morgen beschäftige ich mich weiter mit dem Text. Die Seiten haben mich neugierig gemacht. Wir sollten etwas mehr über den Tagebuchschreiber herausfinden."
"Aber mein Verfolger und diese Typen an deinem Haus", wandte Karla ein.
"Die werden uns erst in Ruhe lassen, wenn sie die Seiten haben. Was deinen Verfolger betrifft, dürften wir nichts zu befürchten haben, wenn er sich weiterhin so plump anstellt. Dennoch sollten wir morgen nach Hause zurückkehren. Zwar kennen die Olivers Adresse nicht, aber ich will nicht riskieren, dass die hier auch aufkreuzen. Ich wollte ohnehin nach Hamburg zurück. Mein Seminar für diese Woche ist gelaufen und der Rest lässt sich per Mail erledigen. Freu dich auf eine schöne Autofahrt auf der ehemaligen Transitstrecke, quer durch das Gebiet der früheren DDR."