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Moskau, 16. September 1812

In der Stadt wütete das Feuer. Wer es entfacht hatte, wusste niemand. Vielleicht war es einer der verbliebenen Anwohner gewesen, vielleicht einer seiner Kameraden. Als es vorgestern zu brennen begonnen hatte, war es ihnen noch gelungen, die Flammen zu löschen. Doch das Feuer war wieder aufgeflammt und wütete schlimmer als zuvor. Die halbe Innenstadt brannte und er fürchtete, dass Irina etwas zustoßen könnte. Zwar lag ihr Haus in einem Viertel außerhalb des Zentrums, aber ob es von den Flammen verschont würde, stand in den Sternen.

Seine Kameraden ließen sich durch die Flammen nicht stören, sondern gingen munter auf Beutetour. Sie versuchten zu retten, was zu retten war, bevor es ein Raub der Flammen würde. Paradox, sie raubten sich Dinge zusammen, nur damit sie nicht vom Feuer verzehrt wurden. Dabei schien ihnen völlig egal zu sein, welcher Gefahr sie sich aussetzten. Gier konnte den Verstand abschalten.

Er hielt sich im Lager bei seinem Bruder auf. Sie beide gingen nicht auf Beutetour, sondern wollten in sicherer Entfernung abwarten, was geschehen würde. Napoleon wartete auf einen Kurier des Zaren, der ihm Verhandlungen anbieten würde. Bisher war nichts geschehen und während dieses Flammeninfernos, das in der Stadt wütete, würde auch kein berittener Bote kommen. Sie würden abwarten müssen bis die Flammen gelöscht waren oder von selbst erloschen. Das konnte dauern. Die dicht bebauten Straßen Moskaus boten dem Feuer eine ausgezeichnete Nahrung. Immer weiter fraßen sich die Flammen durch die Viertel. Von vielen Häusern standen nur noch verkohlte Gerippe.

Die Rauchwolke, die über Moskau hing, war kilometerweit zu sehen. Selbst hier im Lager bereitete ihnen der Rauch Beschweren, ließ sie husten und jeder Atemzug schmerzte.

Je länger das Feuer andauerte, desto unruhiger wurde er. Er hatte keinen Befehl im Lager ausharren zu müssen bis der Brand gelöscht war oder die Flammen sich von selbst erstickten, aber er zog die Sicherheit der Zelte vor. Sein Bruder war bei ihm. Für den kam es überhaupt nicht in Frage, auch nur einen Fuß aus dem Lager zu setzen, solange es nicht sicher war in der Stadt umherzugehen und man nicht Gefahr lief, von den Flammen eingeschlossen zu werden. Doch ihn hielt hier nichts mehr. Er wollte wissen, was mit Irina war, ob sie sicher war.

Es war seltsam, er kannte sie kaum und wusste dennoch alles über sie. Sie war ihm wichtig. So wie ihm seine Mutter und sein Bruder etwas bedeuten, so bedeutete auch sie etwas für ihn. Er konnte nicht benennen was es sein mochte, aber dieses Gefühl hatte er noch nie gehabt. Irina brauchte keinen Schutz, dennoch wollte er zu ihr, bei ihr sein, ihr Gesicht sehen, ihre Stimme hören.

Sie hatte ihm etwas gegeben, ob aus Dank oder damit er wieder zu ihr ging, wusste er nicht zu sagen. Niemandem sollte er davon etwas sagen, nicht einmal seinem Bruder. Er hatte sich daran gehalten, auch wenn er nicht verstand, was diese Geheimniskrämerei zu bedeuten hatte. Irina würde ihre Gründe haben. Sie tat nie etwas grundlos. Bei ihr hatte alles einen Sinn.

Jetzt sah er keinen Sinn mehr darin, im Lager darauf zu warten, dass der Brand unter Kontrolle gebracht wurde. Er wollte zu ihr, wollte mit ihr sprechen, ihre Stimme hören, in ihre wunderschönen grünen Augen sehen.

Sein Bruder betrachtete ihn misstrauisch, als er sich seinen Uniformrock anzog und zuknöpfte.

"Wo willst du hin?", fragte dieser schließlich, als er die Absicht erkannte.

"Ich wollte mich erkundigen, was wir heute zu essen erwarten dürfen."

"Irgendwelches eingemachtes Zeug aus der Dose, falls sie diese aufbekommen. Ich weiß nicht, warum wir so ein Zeug mit uns schleppen mussten, wenn wir gar nicht das richtige Werkzeug dafür besitzen. Schmecken tut's auch nicht."

"Komm schon, Heinrich, so schlecht ist die Erfindung nicht. Das gibt es noch nicht so lange, da gibt es eben Probleme bei der Handhabung. Wenn es diese Büchsen längere Zeit geben wird, werden wir ihren Vorteil schon erkennen."

"Ich wüsste nicht, dass ich mir auf Reisen eine Dose mitnehme und die unterwegs öffne. Ein frisches Mahl in einem Gasthaus ziehe ich diesem Fraß jedenfalls vor."

Er zuckte mit den Schultern und ließ seinen Bruder reden. In gewisser Weise hatte er recht, die Blechbüchsen zu verteufeln. Geschmacklich war deren Inhalt wirklich nicht besonders, auch wenn es sättigte. Es hielt die Speisen für mehrere Monate genießbar. Das war auch der einzige Vorteil, den man daraus ziehen konnte. Öffnen ließen sie sich mehr schlecht als recht. Was nützte eine Blechbüchse, wenn man sie nicht öffnen konnte, um den Inhalt herauszuholen? Das konnte nicht im Sinne des Erfinders sein. Ob der überhaupt so weit gedacht hatte, dass man irgendwann an den Inhalt wollte?

Er verließ das Zelt und schlug den Weg ein, als wolle er sich tatsächlich erkundigen, was es heute zu Essen geben würde. Als er aus Sichtweite ihres Zeltes war, bog er ab und näherte sich dem Brandherd, der Moskau momentan war.

Er war noch nicht weit gekommen, als er das Gefühl hatte, verfolgt zu werden. Unauffällig blickte er hinter sich, konnte niemanden entdecken. Das Lager wirkte wie ausgestorben. Wer nicht in der Stadt war, hielt sich in seinem Zelt auf und kam nicht heraus. Er ging weiter, dennoch blieb das Gefühl, dass jemand ihn beobachtete und hinter ihm herlief.

Seitdem er sich von Irina verabschiedet hatte, war jemand hinter ihm her. Nie hatte er jemanden gesehen und doch war er sicher, dass jemand ihn auf Schritt und Tritt verfolgte. Einmal hatte es so ausgesehen, als wäre jemand im Zelt gewesen und hätte dort nach etwas gesucht. Er hatte keinen Beweis dafür, weil alles noch an seinem Platz lag, wie er und sein Bruder das Zelt verlassen hatten. Dennoch hatte ein Geruch in der Luft gelegen, der dort normalerweise nicht zu riechen war.

Was suchten sie bei ihm? Reichtümer hatten sie im Gegensatz zu ihren Kameraden nicht an sich gerafft. Das konnte es nicht sein. Hatte jemand mitbekommen, wie Irina ihm die Karte gegeben hatte? Das hatte sie im Haus getan und dort war niemand außer ihnen beiden gewesen. Wieso wurde er seitdem verfolgt? Irgendjemand musste etwas mitbekommen haben, anders konnte es nicht sein. Warum verfolgte man ihn?

Hatte das Beobachten gar nichts mit der Karte zu tun, sondern war einfach nur Zufall? Waren der Franzose und sein Kumpane hinter ihm her, um ihm eine Abreibung zu verpassen? Dieser widerliche Franzmann hatte noch eine Rechnung mit ihm offen. Einmal hatte er ihn gedemütigt, das andere Mal war er ihm und seinen Freunden entwischt.

Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, das sichere Lager zu verlassen und sich auf den Weg zu Irina zu machen. Aber es ließ ihm keine Ruhe. Er musste wissen, was mit ihr war, ob das Feuer auch ihr Zuhause bedrohte.

Wenn er sich vorsah, würde nichts passieren. Am besten ging er weiter, als sei nichts geschehen, zeigte seinen Verfolgern nicht, dass er wusste, er wurde beobachtet.

Dennoch beschleunigte er, versuchte Haken zu schlagen. Dabei musste er immer aufpassen, dass er sich dem Feuer nicht näherte. Der Wind lag in seinem Rücken, konnte jederzeit die Richtung wechseln und von vorne kommen. Die Flammen würden dann auf ihn zukommen. Vom Feuer wollte er nicht eingeschlossen werden. Es musste ein furchtbarer Tod sein, wenn man lebendig von den Flammen geröstet wurde. Solange er sich vom Feuer fernhielt, konnte ihm nichts passieren.

Wo er entlang ging gab es nicht mehr viel, was einem Raub der Flammen werden könnte. Das Feuer hatte hier bereits gewütet. Von den ehemals prächtigen Häusern standen nur noch Gerippe. Verkohlte Balken ragten in den Himmel, erinnerten daran, dass hier einmal ein Haus gestanden hatte.

Es war gruselig, wie es hier aussah. Eine Straße nach der anderen war vom Feuer niedergemacht worden. Es wirkte wie eine Geisterstadt, die vor vielen Jahren verlassen worden war. Nur hatten hier bis vor wenigen Tagen noch Menschen gelebt. Jetzt zeugte nichts mehr davon.

Ihm lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Doch unbeirrt setzte er seinen Weg fort.

Vielleicht hätte er nicht allein gehen, sondern sich von seinem Bruder begleiten lassen sollen. Der würde zwar nicht verstanden haben, warum er unbedingt ins brennende Moskau wollte und dabei sein Leben riskierte, aber er hätte höchstwahrscheinlich seiner Bitte entsprochen. Sein Bruder hatte ihrer Mutter versprochen, gut auf ihn aufzupassen und ihn wieder lebend nach Hause zu bringen. Ein schwerwiegendes Versprechen, dass er hatte abgeben müssen. Er wollte nicht wissen, wie die Mutter reagieren würde, falls sein Bruder ohne ihn nach Hause heimkehrte.

Was machte er sich darüber Gedanken? Das war fast so, als würde er hier nicht lebend rauskommen. Am besten dachte er darüber nicht mehr nach. Doch eine leise Stimme in seinem Inneren warnte ihn weiterzugehen. Er solle lieber umkehren, bevor es zu spät sei.

Er hörte nicht darauf. Wenn er immer auf seine innere Stimme gehört hätte, würde er längst in einem kühlen Grab liegen. Seine Knochen würden vor sich hinmodern und seine Mutter um ihn trauern. Nein, man sollte nicht immer auf das hören, was einem die Eingebung sagte. In den Fällen, wo sich seine innere Stimme zu Wort gemeldet hatte, war es meist besser gewesen, aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Es hatte ihm eher geholfen, vor allem war er jedes Mal mit heiler Haut davon gekommen.

Die Schritte hinter ihm waren nun deutlich zu hören. Da gab sich niemand mehr die Mühe, sich unauffällig zu verhalten. Er sollte wissen, dass er verfolgt wurde.

Langsam beunruhigte es ihn. Was bezweckte sein Verfolger damit? Wollte er ihm Angst einjagen? Sollte er in Panik verfallen und Entscheidungen treffen, die er bei klarem Verstand nicht getätigt hätte? Was sollte das nur?

Er wollte in einem normalen Tempo weitergehen, doch seine Beine reagierten nicht auf ihn. Sie setzten immer schneller auf dem Boden auf. Bevor ihm klar wurde, was geschah, lief er bereits die Straßen entlang. Auch sein Verfolger war in einen Laufschritt verfallen.

Nun hörte er es. Das war nicht nur eine Person, die hinter ihm her war, sondern mehrere. Zwei oder drei, genau konnte er es nicht heraushören.

Ihn überlief ein kalter Schauer.

War das tatsächlich der Franzose, der ihm Rache geschworen hatte? Wie hatte er ihn im Lager ausfindig machen können, ohne dass er es bemerkte?

Er lief weiter, so schnell er nur konnte. Diesem Pack durfte er keinesfalls in die Hände fallen, da sie sonst mit ihm kurzen Prozess machen würden. Einmal hatte er ihnen dank Irinas Hilfe entkommen können. Heute würde er nicht so viel Glück haben. Irina könnte sich vor dem Feuer in Sicherheit gebracht und die Stadt verlassen haben. Er war ganz auf sich allein gestellt.

Wo sollte er nur hin?

Die Frage erübrigte sich, denn einige Meter vor ihm züngelten die Flammen aus einem Gebäude. Ohne darauf zu achten, wohin er lief, war er genau in Richtung des Feuers gelaufen. Wenn er weiter darauf zuhielt, würde er irgendwann direkt die Flammen vor sich haben. Der Rückweg wäre durch seine Verfolger abgeschnitten.

Er musste jetzt schnell handeln, um aus dem Gefahrenbereich zu kommen.

Die nächste Abzweigung, an der er vorbeikam, nahm er und lief nun parallel zum Feuer. Auf seiner rechten Gesichtshälfte spürte er die Hitze, obwohl er ein gutes Stück davon entfernt war.

Irgendwo musste er links abbiegen, um dem Feuer zu entkommen. Um seine Verfolger machte er sich im Augenblick weniger Gedanken. Momentan zählte nur, dass er aus dem Gefahrenbereich kam. Wie schnell könnten die Flammen die Richtung wechseln. Er würde keine Chance haben, wenn der Wind drehte. Schneller als er laufen konnte, würde er vom Feuer eingeschlossen werden. Das musste er verhindern. Er wollte leben und nicht bei lebendigem Leib geröstet werden. Dem heiligen Laurentius mochte dies widerfahren sein, aber er war kein Märtyrer.

Endlich tat sich vor ihm eine größere Kreuzung auf. Ohne weiter zu überlegen, bog er nach links ab. Er sah sich nicht nach hinten um, es hätte ihn wertvolle Zeit gekostet. Weit war er noch nicht gekommen, als aus einer Gasse jemand heraustrat. Zu seinem Schrecken musste er feststellen, dass es tatsächlich der Franzose war, den er von Irina heruntergerissen und der ihm blutige Rache geschworen hatte. Das war unmöglich, wie konnte der auf einmal vor ihm sein? Hatte er einen anderen Weg eingeschlagen, dass er nun an anderer Stelle herausgekommen war?

Er verlangsamte seinen Schritt, um dem anderen nicht in die Arme zu laufen. Grinsend kam dieser langsam auf ihn zu. Er warf einen Blick über die Schulter und erstarrte in der Bewegung. Hinter ihm kamen zwei Gestalten auf ihn zu. Sie trugen dasselbe hämische Grinsen im Gesicht wie ihr Kumpan.

Er steckte in der Falle, was machte er jetzt nur? Irina würde ihm dieses Mal nicht helfen können, er war vollkommen auf sich allein gestellt.

Der Abstand zwischen ihm und seinen drei Verfolgern verringerte sich von Sekunde zu Sekunde. Was konnte er tun, um ihnen zu entkommen? Fieberhaft überlegte er, was er tun konnte. Sollte er versuchen, an dem Franzosen vorbeizukommen, mit dem der ganze Ärger angefangen hatte? Er war nicht besonders schlau und wenn man es klug anstellte, ließ er sich leicht übertölpeln. Nur fragte er sich, ob es ihm heute ein weiteres Mal gelingen würde. Er könnte es versuchen. Schließlich entschied er sich dagegen, das Risiko war ihm zu hoch.

Ihm blieb nichts als sein Heil in der Flucht zu suchen, aber wohin und vor allem wie? Da entdeckte er nur wenige Meter von sich entfernt eine kleine Gasse. Unauffällig schielte er dort hin, versuchte sich zu vergewissern, dass dort nicht noch ein weiterer Verbündeter der drei Franzosen stand. Niemand zu sehen, die Luft schien rein zu sein.

Ohne weiter darüber nachzudenken, lief er los und stürzte in die Gasse. Er stolperte über einen Stein, geriet ins Straucheln, fing sich wieder. Hinter sich hörte er seine drei Verfolger fluchen, dass ihm abermals die Flucht geglückt war.

Er lief so schnell, wie ihn seine Füße tragen konnten. Ein paar Haken musste er schlagen, damit er ihnen entkam. Bis zum Lager würde er es nicht schaffen. Zu weit entfernt war er davon. Hätte er nur seinen Bruder mitgenommen. Zu zweit hätten sie sich wehren können, aber allein konnte er sein Heil nur in der Flucht suchen.

Wie oft er bereits abgebogen war, wusste er nicht mehr. Vielleicht war er auch im Kreis gelaufen, obwohl er mal links und dann mehrmals rechts den Weg eingeschlagen hatte. Sicher fühlte er sich immer noch nicht, doch er rannte nicht mehr so schnell wie vorhin, als er vor seinen Verfolgern davonlief.

Das Feuer hatte er hinter sich gelassen, auch wenn er den Rauch deutlich in der Nase hatte. Hier hatte es noch nicht gewütet, was ihn einigermaßen hoffnungsfroh stimmte. Am besten suchte er sich nun ein Versteck und harrte dort bis zum Abend aus. Solange würden die drei Franzosen nicht nach ihm suchen und sich lieber weiter ihren Plünderungen widmen.

Suchend wandte er den Blick hin und her. Er hatte Glück, dort drüben war eine Tür offen. Da würde er sich verstecken. Je näher er auf das Gebäude zukam, desto bekannter wurde es ihm. Das war das Lazarett der Armee. Dort lagen die schwerletzten Soldaten, die sich nicht mehr auf den eigenen Beinen halten konnten oder nur auf ihren erlösenden Tod warteten.

Im ersten Augenblick wollte er umkehren, doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihm die Idee, sich unter den Kranken und Todgeweihten zu verstecken. Wer würde ihn dort vermuten? Hier würde niemand nach ihm suchen. Zur Not gab er sich als einer der Kranken aus. Irgendwo würde bestimmt ein Bett frei sein. Ein dicker Leinenverband um seinen Kopf würde genügen, um sein Gesicht unkenntlich zu machen. Niemand würde ihn erkennen.

Die Idee gefiel ihm. So würde er es machen.

Er trat über den Flur in einen großen Raum, wo viele Betten an den Wänden nebeneinander gestellt worden waren. In ihnen lagen diejenigen, die noch von Borodino verletzt oder gar versehrt waren. Er sah abgetrennte Arme, manchem schien ein Bein zu fehlen. Einige Kranken waren unruhig, andere lagen wie tot in den Kissen. Es war ein grauenhafter Anblick. Noch schlimmer allerdings war das Stöhnen und Schreien, das ihn bereits empfangen hatte, als er über den Flur gegangen war. Nie hätte er gedacht, dass es so furchtbar sein könnte.

Am besten kehrte er um und suchte sich einen anderen Zufluchtsort aus. Möglicherweise gelang es ihm, sich unerkannt ins Lager zurück zu schleichen, ohne dass seine Verfolger seine Spur wieder aufnahmen.

Nein, hier konnte er nicht bleiben. Der Anblick der Versehrten war schon schlimm, noch schrecklicher waren die Schreie der Sterbenden. Er musste hier raus. Egal, was geschehen mochte, sobald er einen Fuß nach draußen setzte, aber hier drin konnte er keine Sekunde länger verweilen.

Schnell drehte er sich um, um den Raum zu verlassen. Eine Hand griff nach seinem Arm und hielt ihn fest. Er versuchte sich loszureißen, aber der Griff war erstaunlich fest.

"Es geht zu Ende!", sagte der Mann, der ihn festhielt. Er sprach bayerisch, musste aus einer der Kompagnien kommen, die die größten Verluste bei Borodino erlitten hatten. Der sächsischen Armee war es nicht besser ergangen. Sein Bruder und er gehörten zu den wenigen, die mit heiler Haut davon gekommen waren.

Die Augen des Mannes blickten glasig, so als wäre er bereits nicht mehr von dieser Welt, sondern kurz davor in die andere überzutreten. Dennoch besaß er noch genug Kraft, um ihn den Arm so fest zu drücken, dass es schmerzte.

"Niemand wird dieses Totenhaus lebendig verlassen", sagte der Bayer mit klarer fester Stimme. Es sollten seine letzten Worte sein.

Der Griff um seinen Arm lockerte sich und der Körper des bayerischen Soldaten erschlaffte. Starr ging sein Blick zur Decke.

Es grauste ihn, in dieses Totenanlitz zu blicken. Schnell drehte er sich um und wollte weiter, als er plötzlich den untrüglichen Geruch von Rauch wahrnahm.

Hatte der Wind gedreht? Trug er den Qualm und die Flammen nun in diesen Teil der Stadt?

Panik wallte in ihm auf. Er musste hier raus! Musste so schnell es ging zum Ausgang und aus dem Haus. Wenn er überleben wollte, durfte er nicht hierbleiben.

Wie von Sinnen rannte er den Gang zwischen den beiden Bettreihen entlang. Am Ende des Saals angekommen, versperrten ihm zwei dicke Holztüren den weiteren Weg. Die waren vorhin noch geöffnet gewesen. Wer hatte sie geschlossen?

Mit ungutem Gefühl griff er nach der Klinke und drückte sie runter. Nichts geschah, die Tür ließ sich nicht öffnen. So sehr er auch an ihr rüttelte, sie bewegte sich nur wenige Millimeter. Wer hatte die Tür abgeschlossen? Wer wollte, dass er nicht entkommen konnte? Waren es seine Verfolger gewesen? Hatten sie, von ihm unbemerkt, seine Spur aufgenommen und waren ihm gefolgt? War das ihre Rache, dass er einen von ihnen gedemütigt hatte?

Ein Stöhnen ließ ihn herumfahren. Voller Panik sah er auf die Kranken und Schwerverletzten. Sie waren alle mit ihm gefangen und würden nicht fliehen können.

Fenster gab es nicht in diesem Raum, sonst hätte er versuchen können, aus einer dieser Öffnungen zu fliehen. Er saß in der Falle und mit ihm mehr als zwei Dutzend Verletzte.

War das beabsichtigt? Hatte man sie auf Befehl eingeschlossen? Waren sie ihren Vorgesetzten so unwichtig geworden, dass man ihren Tod billigend in Kauf nahm? Wollte man durch das Feuer den Tod beschleunigen, der ohnehin bei den meisten eintreten würde? Das konnte nicht wirklich so sein. Man würde nicht einfach Menschen bei lebendigem Leib verbrennen lassen, nur weil sie nutzlos geworden waren.

Ihm wurde bewusst, dass er diesen Raum nicht mehr lebend verlassen würde. Er konnte sich in die hinterste Ecke verkriechen und hoffen, dass bis dahin die Flammen nicht kämen. Mit nassen Tüchern könnte er eine Barriere bauen. Vielleicht würde es helfen.

Das war Blödsinn und dennoch fiel ihm auf die Schnelle nichts Besseres ein. Wenn die Flammen sich durch das Gebäude fraßen, würden sie nicht vor einer Barriere aus nassen Lappen zurückweichen.

Er brauchte sich keinen Illusionen hingeben. Er war verloren! Sein Leben würde im Lazarett enden. Beinahe musste er darüber lachen. Jede Schlacht hatte er überlebt, nur einige Kratzer davongetragen. Nun sollte er sein Leben im Krankenlager beenden - als Gesunder!

Er wurde wieder ernst, als ihm bewusst wurde, dass er seine Mutter, seinen Bruder und vor allem Irina nicht wiedersehen würde. Wahrscheinlich machte sich sein Bruder bereits Sorgen um ihn, weil er nicht zurückgekehrt war. Ob er losgezogen war, um ihn außerhalb des Lagers zu suchen? Hoffte er immer noch, dass er in den nächsten Minuten zurückkommen würde?

Er würde hier verbrennen, sein Bruder würde nie erfahren, dass er hier gewesen war. Würde er weiter nach ihm suchen? Würde er die Hoffnung nicht aufgehen, ihn wiederzusehen?

Unsanft wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als sich das Stöhnen der Kranken und Verletzten in ein Schreien und Kreischen verwandelte. Sie mussten den Rauch bemerkt haben, den Geruch des Feuers. Einige hatten ihre Betten verlassen, humpelten den Gang entlang oder krochen auf dem Boden, wenn sie nicht die Kraft zum gehen besaßen. Sie alle wollten das Gebäude verlassen, doch es würde für sie kein Entkommen geben. Im Gegensatz zu ihnen, wusste er bereits, dass man sie eingeschlossen hatte. Diesen Saal würde niemand mehr lebend verlassen. Sie alle waren zum Tode verdammt.

Nun schienen sie gemerkt zu haben, dass die Tür verschlossen war. Er sah, wie sie abwechselnd an der Tür rüttelten, sich gegen das Holz warfen.

Er hörte ihr Brüllen, ihre Verzweiflung und verstand doch nicht, was sie sagten.

Hört auf, wollte er ihnen sagen, doch seine Stimme versagte. Er fand keine Worte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er sprachlos.

Obwohl er in Panik hätte verfallen müssen, angesichts der Tatsache, dass man ihn und die anderen in diesem Saal eingeschlossen hatte und ihren Tod billigend in Kauf nahm, war er ganz ruhig. Er hatte akzeptiert, dass er sterben würde. Nur um seinen Bruder tat es ihm leid, der sein Versprechen gegenüber der Mutter nicht erfüllen könnte, ihn lebend nach Hause zu bringen. Es war nicht die Schuld seines Bruders, dass er hier den Tod fand. Schuld war Napoleon mit seiner Gier nach Macht. Nur wie würde ihre Mutter das sehen? Er hoffte, dass sie seinen Bruder nicht büßen lassen würde, das Versprechen nicht erfüllt zu haben. Er konnte wirklich nichts dafür. Es war seine Schuld, dass er sich in diesem Raum befand und sich nicht vor dem Feuer in Sicherheit bringen konnte.

Der Rauch sammelte sich in dem Raum. Je dichter der Qualm wurde, desto mehr gerieten die Kranken, die noch nicht besinnungslos waren, in Panik. Verzweifelt schlugen sie gegen die Tür, gegen die Wände, schrien um Hilfe und schienen zu wissen, dass sie den Krankensaal nicht mehr lebendig verlassen würden.

Er nur hatte die Tür abgeschlossen? Waren es tatsächlich seine Verfolger gewesen? Nur was versprachen sie sich davon, unschuldige Menschen mit in den Tod zu reißen? Sie mussten gesehen haben, dass es sich um das Lazarett handelte.

Ein Aufschrei aus einer Handvoll Kehlen ließ ihn aufblicken. Große Flammen züngelten an der Tür. Die Kranken waren vor Schreck zurückgewichen. Einer schien es nicht mehr rechtzeitig geschafft zu haben oder er war durch die Anstrengung des Aufstehens besinnungslos geworden, sein Leinenhemd begann zu brennen und ging auf den Körper über. Schnell roch es nach verkohltem Fleisch. Niemand versuchte den Brand zu löschen. Waren alle dermaßen vor Angst erstarrt, dass sie nichts tun konnten? Sahen sie seelenruhig zu, wie ihr Kamerad ein Opfer der Flammen wurde? Er tat selbst nichts, um dem armen Kerl das Leben zu retten. Wie es aussah, war er längst tot. Einen Mucks hatte er nicht von sich gegeben, seitdem die Wut sich an ihm labte. Es musste höllische Schmerzen bereiten und dennoch war er so ruhig, als würden Daunenfedern auf ihn fallen.

Kein Zweifel, der Mann war bereits tot gewesen, bevor die Flammen an ihm fraßen.

Langsam fraßen sich die Flammen weiter, fanden weitere Opfer. Er hatte ihr schrilles Schreien in den Ohren, konnte sich vorstellen, wie sie sich wanden, auch wenn er nicht hinsah. Das wollte er nicht sehen, er wollte es nicht hören. Dieses Schreien war unerträglich. Er steckte sich seine Finger in die Ohren. Nun war das Gekreische nur noch etwas, was in weiter Ferne zu geschehen schien.

Der Rauch brannte in seiner Kehle, löste einen Hustenreiz aus. Er hielt sich den Ärmel vor Mund und Nase, versuchte durch den Stoff zu atmen. Es brachte nur ein wenig Linderung.

Der Saal hatte sich mit Rauch gefüllt, man konnte kaum etwas sehen. Überall hustete und röchelte jemand. Schreien tat niemand mehr.

Müsste er nicht längst die Hitze des Feuers spüren? Müsste er nicht das Knistern der Flammen hören? Da war nichts, da war nur Rauch, der ihm das Atmen schwer machte.

Er hob seinen Kopf, versuchte durch den Qualm einen Blick zur Tür zu erhaschen. Tränen traten aus seinen Augen, sorgten dafür, dass er nichts sehen konnte.

War das Feuer ausgegangen? Hatte es keine Nahrung mehr gefunden? Er musste es herausfinden.

Mit seiner Hand wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und fing sofort zu husten an, als der Ärmel nicht mehr Nase und Mund schützte. Seine Kehle fühlte sich wund an, als sei er erkältet. Das Schlucken fiel ihm schwer, dazu gesellte sich eine Müdigkeit, die es ihm schwer machte, noch einen klaren Gedanken fassen zu können.

Er musste nach vorne zur Tür, musste sehen, ob es nicht einen Weg nach draußen gab.

Mühsam kroch er auf allen vieren vorwärts. Er kam nur langsam voran. Das Stöhnen und Röcheln der Kranken und Verletzten hörte er schon gar nicht mehr. Es ging ihm nur noch darum, aus dieser Hölle zu entfliehen.

Wie lang war es denn noch bis zur Tür? Hatte er nicht schon eine gute Strecke zurückgelegt? Es konnte nicht mehr weit sein, aber ihm kam es unendlich fern vor.

Er sackte zusammen, sein Kinn schlug unsanft auf dem Boden auf. Es brachte ihn wieder zur Besinnung. Erneut raffte er sich auf, kroch ein weiteres Stück vorwärts. In dem Qualm und mit den tränenden Augen sah er nicht, dass er falsch abgebogen war und sich einer Wand näherte. Als er mit dem Kopf dagegen stieß, wurde er auf seinen Irrtum aufmerksam. Langsam drehte er sich um. Wieder sackte er zusammen, stemmte seinen Körper hoch bis er in eine aufrechte Position kam.

Wie sehr ihn seine Kehle schmerzte. Jeder Atemzug tat ihm weh und wie müde er war.

Die Augen fielen ihm zu. Eine angenehme Wärme breitete sich in seinen Gliedern aus. Langsam sackte sein Kopf nach unten. Da war sein Vater, der ihm zuwinkte. Er wollte etwas rufen, doch seine Stimme versagte ihm. Wieso blieb sein Vater nicht stehen? Er musste auf ihn warten. Schnell lief er hinter ihm her, aber er war zu langsam, konnte seinen Vater nicht einholen. Dafür wurde das Gras immer dichter, die Bäume verschwanden aus seinem Blickfeld, sobald er fast auf ihrer Höhe war.

Wo war sein Vater abgeblieben? Hatte er sich versteckt? War er bereits so weit vorausgelaufen, dass er ihn nicht mehr sehen konnte? Befand er sich hinter dem Licht, das sich vor ihm auftat, als würde er auf die Sonne zulaufen?

Das Licht zog ihn magisch an. Seine Beine fühlten sich so leicht an, als würde er kaum den Boden berühren. Als würde er schweben.

Nur noch wenige Schritte war er von diesem seltsamen Licht entfernt. Da war auch sein Vater. Er stand davor und winkte ihn zu sich. Jetzt lief er nicht mehr weg.

"Vater!", hörte er sich sagen und fasste nach dessen Hand.

Gemeinsam schritten sie auf das Licht zu und schritten hindurch.

Der Körper des Soldaten fiel zur Seite. Er lag auf dem Boden und rührte sich nicht mehr. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln.

Noch einmal ging ein Ruck durch ihn, dann setzte der Atem aus. Der junge Soldat in Napoleons Diensten war tot, erstickt an dem Rauch, den das Feuer mit sich gebracht hatte.

Die Flammen waren nicht weit gekommen, hatten nur am Eingang des Lazaretts gewütet. Die tödlichen Dämpfe hatten sich in dem Saal ausgebreitet und jedes Leben erstickt. Wer einen Blick hier reinwerfen würde, käme es so vor, als würden die Kranken und Verletzten nur schlafen. Nur wer genauer hinsah, dem würde auffallen, dass es sich um den ewigen Schlaf handelte.

Im Zeichen des Denkmals

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