Читать книгу Im Zeichen des Denkmals - Helen Dalibor - Страница 18
14
ОглавлениеHamburg-Stellingen
Karla saß vor ihrem Computer im Haus ihrer Freundin und ahnte nicht, was sich in Leipzig gegen sie zusammenbraute.
Der Artikel war geschrieben und an die Redaktion geschickt worden. Nun hatte sie noch einen freien Tag, den sie nutzen würde, um sich von all dem Schrecken zu erholen.
Die angehende Wissenschaftsjournalistin konnte noch immer kaum glauben, was ihr widerfahren war. Normalerweise passierte es nur Isis, dass ihr irgendein Artefakt oder eine uralte Handschrift in die Hände fiel, dass auch andere für sich beanspruchten. Nur war diesmal sie es gewesen und Karla wünschte sich zum wiederholten Mal, dass sie ihrer Neugier nicht nachgegeben und das Buch aufgeschlagen hätte. Einiges wäre ihr erspart geblieben. Wenn sie ehrlich war, fragte sie sich, wie Isis es immer geschafft hatte mit heiler Haut davon zu kommen. Auch wenn sie es nicht offen zugeben wollte, so stimmte es, dass ihre Freundin viel abgebrühter war und aus jeder aussichtslosen Situation einen Ausweg fand. Zwar war Karla selbst kein Hasenfuß, aber was Verfolgungsjagden betraf, war sie auf so etwas nicht vorbereitet, wie sie erst gestern hatte feststellen müssen.
Es reichte nicht aus, sich mit verschiedenen Computerspielen auszukennen und dort jede Gefahr zu wittern. In der Realität war alles vollkommen anders. Dort musste sie genauso schnell reagieren, von einer Sekunde zur anderen eine Entscheidung treffen, auch wenn es kein Spiel war. Doch im Gegensatz zur virtuellen Welt, konnte sie in der Realität nicht einfach wieder aufstehen, als sei nichts geschehen, wenn jemand sie niedergeschlagen hatte. Ihr Energiespeicher ließ sich nicht erst mit mehreren Schlägen in einen kritischen Bereich senken und konnte durch irgendwelche Erst-Hilfe-Paket sofort wieder aufgefrischt werden. In der Wirklichkeit musste sie sich erst einmal erholen. Deshalb war es angebracht, wenn sie von vornherein auf alles Mögliche gefasst war.
Sie sollte sich den Kopf nicht weiter darüber zerbrechen. Zwar mochte sie eine Lawine losgetreten haben, aber ihre Verfolger waren nicht an die Tagebuchseiten gelangt. Hoffentlich würden sie nun Ruhe geben, wo sie erkannt hatten, dass man sie nicht so leicht überlisten konnte. Das meiste mochte der Verdienst ihrer Freundin gewesen sein, aber das mussten ihre Verfolger nicht unbedingt wissen. Es reichte, wenn sie glaubten, dass sie beide nicht naiv waren und man sich nicht mit ihnen anlegen sollte.
Karla hörte, wie unten die Haustür zugeschlagen wurde. Das konnte nur eine sein: Mona. Ihrer Meinung nach klemmte die Haustür, weshalb sie sich nur schließen ließe, wenn man sie ordentlich zuhaute. Mochte bei ihr funktionieren, aber es reichte schon, wenn man die Tür mit heruntergedrückter Klinke fest in den Türrahmen drückte. Auf diese Weise schloss die Tür genauso wie bei Monas rabiater Methode. Im Grunde genommen musste die Tür einmal aus ihren Angeln genommen und die Unterkante vom Dreck befreit werden. Doch sie trauten sich nicht zu, die schwere Eichentür aus ihren Angeln zu heben, weil sie daran zweifelten, dass sie sie jemals wieder in die Halterungen bekamen. Und so klemmte die Tür weiterhin beim Schließen und Mona würde mit ihrer rabiaten Methode fortfahren.
"Isis?", drang Monas energische Stimme durchs Haus. Offensichtlich war sie schlecht gelaunt. Hatte sie wieder irgendwelche Zahlenreihen überprüfen müssen? Das mochte sie überhaupt nicht, weil sie sich darauf konzentrieren musste, nicht in der Reihe zu verrutschen.
Isis kam wortlos aus dem Wohnzimmer geschlichen. Auch ihr war nicht entgangen, dass ihre Freundin alles andere als gut gelaunt war.
"Na, alles gut?", wollte sie wissen.
"Von wegen! Ich habe Blut und Wasser geschwitzt, als ich den Test durchgeführt habe. Wie ich das wieder erklären soll, weiß ich langsam nicht mehr. Andauernd bringst du mir was, dass ich überprüfen soll. So geht das nicht mehr, Isis. Das kann mich den Job kosten."
Das Argument hatte Mona öfters zur Hand, als Isis sie um einen Gefallen bat. Dabei brauchte Mona nun wirklich nicht fürchten, rausgeworfen zu werden. Isis könnte notfalls ihre Aufträge auch offiziell machen. Aber Mona jammerte nun einmal gern. Ihre Freundin sollte sich wirklich nicht so anstellen, sonst würde sie es nie zu etwas bringen. Denn nur mit unorthodoxen Methoden kam man weiter, zumindest war das meistens der Fall.
"Hast du etwas herausgefunden?", überging Isis die Klagen ihrer Freundin.
"Ja, habe ich", sagte Mona und holte aus ihrer Schultertasche die Mappe mit den Tagebuchseiten heraus.
Seitdem sie arbeitete, war sie von einem Plastikbeutel zu einer Schultertasche gewechselt, das Isis mit bissigen Worten kommentiert hatte. Dass ein Rucksack praktischer sei, war noch einer der harmloseren Kommentare gewesen. Mona hatte gekontert, dass ihre Freundin machen könne, was sie wolle, aber ihr nicht den eigenen Modecodex aufdrängen könne. Danach hatte Isis nie wieder etwas zu der Schultertasche gesagt, auch wenn sie diese noch immer genauso affig fand wie übergroße Portemonnaies.
"Auf der letzten Seite lässt sich etwas erkennen. Ich habe dir einen Ausdruck davon gemacht."
"Und was steht da?", wollte die Archäologin begierig wissen.
"Keine Ahnung, wird wohl ein Name sein, Timothäus oder so. Ich habe wirklich nicht die Zeit, auch noch diese, deine Arbeit zu erledigen."
"Schon gut, zeig mal her."
Mona überreichte Isis die Mappe.
"Das war das letzte Mal", betonte sie noch einmal, bevor sie in der Küche verschwand.
Isis hatte ihr schon gar nicht mehr zugehört, sondern stolperte blindlings die Treppe hoch, den Blick auf den Ausdruck geheftet.
"Pass auf, dass du nicht an einer Stufe hängen bleibst und die Treppe runterfällst, dann ist es das mit deiner Forscherkarriere gewesen", warnte Karla ihre Freundin.
"Ich bin diese Treppe schon hochgeklettert, als du noch gar nicht geboren warst", erwiderte die Ägyptologin und spielte damit auf ihren Altersunterschied von knapp elf Monaten an.
"Du mich auch", brummte die Wissenschaftsjournalistin und ging nach unten ins Erdgeschoss.
Isis machte es einem wirklich nicht leicht, sie zu mögen, so kratzbürstig, wie sie manchmal war. Wenigstens hatte es auch sein Gutes, dass sie nie mit ihrer Meinung hinter dem Berg hielt. Die Ägyptologin belog sie nicht.
Ohne weiter auf Karla zu achten, war Isis in ihr Zimmer gestürmt und hatte den Ausdruck auf ihrem Schreibtisch gelegt. Sie hatte das Licht ihrer Schreibtischlampe eingeschaltet, um besser sehen zu können. Anschließend hatte sie eine Folie aus ihrer Ablage geholt und diese über den Ausdruck gelegt.
Nun saß sie an ihrem Schreibtisch und fuhr mit einem Filzstift die blassen Konturen nach, die einen Namen zu bilden schienen. Schon nach wenigen Strichen musste sie Mona zustimmen. Nur stand dort nicht Timothäus, sondern Thomas. Der Nachname war Kalditz, wenn sie es richtig entziffert hatte.
Thomas Kalditz, damit hatte sie einen Namen - endlich! So musste der Tagebuchschreiber also geheißen haben.
"Mal sehen, ob ich was über dich finde", sagte Isis und fuhr ihren PC hoch. Nachdem sie ihr Passwort eingegeben hatte, öffnete sie den Internet-Browser und gab in das Feld der Suchmaschine - die ihre Suchmaschine war - den Namen Thomas Kalditz ein.
Zu ihrer großen Überraschung fand sie tatsächlich etwas. Auf einer Seite, die sich mit Kriegsgräbern und Tafeln gefallener Soldaten beschäftigte, tauchte der Name auf.
Der Soldat Thomas Kalditz, in Diensten der Grande Armée, war am 18. September 1812 in Moskau zu Tode gekommen.
Enttäuscht starrte die Archäologin auf den Namen auf der Folie. Kein Zweifel, dort stand Thomas Kalditz. Sie hatte sich nicht geirrt und auch nicht verschrieben. Wieso war er in Moskau umgekommen, wenn er dieses Tagebuch auch noch nach seinem Tod weitergeführt hatte? Da konnte etwas nicht stimmen!
Hektisch blätterte Isis die Tagebuchseiten durch, die sie einzeln in Klarsichtfolien gelegt hatte, um sie vor gröberen Verschmutzungen zu schützen.
Nach mehrmaligem Überfliegen der Seiten fand sie den Namen Heinrich. Es war der Name des Bruders des Tagebuchschreibers, der so geheißen hatte. Aber wie hieß nun der Verfasser des Buches und warum war der Name seines Bruders auf der letzten Seite verzeichnet?
Isis nahm sich die letzte Seite noch einmal genauer vor und las sie sich mehrmals langsam und gründlich durch. Sie gehörte nicht zu den anderen Seiten zuvor, sondern schien viel später verfasst worden zu sein, wie es schien. Diesen Eintrag hatte jemand anderes geschrieben. Beide Schriften unterschieden sich deutlich, was ihr gestern Abend allerdings noch nicht aufgefallen war.
"Niemand wird finden, was Napoleon für sich beanspruchte und das am Ende seinen Untergang bedeutete. Es ruht für alle Zeiten", las die Archäologin die letzten Sätze halblaut vor. "Ich habe gute Arbeit geleistet. Thomas Kalditz."
Nachdenklich legte Isis die Klarsichtfolie mit dem wertvollen Inhalt auf den Schreibtisch zurück und starrte nachdenklich auf die Schrift.
Der Verfasser der letzten Seite war nicht mit dem Tagebuchschreiber identisch. Wahrscheinlich waren beide irgendwie miteinander verwandt gewesen, auch wenn der Bruder in Moskau zu Tode gekommen war. Vielleicht war es der Sohn des Verfassers. Da Isis kein Datum auf der letzten Seite gefunden hatte, konnte sie nicht sagen, ob es der Sohn oder vielleicht der Enkel gewesen sein mochte, der diese Zeilen verfasst hatte.
Der Nachname brachte Isis auf eine Idee. Sie gab diesen mit dem Schlagwort Völkerschlacht ins Suchfeld der Suchmaschine ein und drückte auf Enter. Nach nicht einmal einer Sekunde war die Suche bereits beendet und die Ergebnisse wurden angezeigt. Viele waren es nicht. Die Seite mit Kriegsgräbern und Tafeln war auch wieder dabei, doch der Blick der Archäologin fiel auf die darunter angezeigte Seite. Sie behandelte die Geschichte des Völkerschlachtdenkmals.
Hastig überflog die Archäologin die Seite. So erfuhr sie, dass noch acht Veteranen der Völkerschlacht gelebt hatten, darunter ein Heinrich Kalditz, die in den Verein zum Bau eines Denkmals als Ehrenmitglieder aufgenommen worden waren.
"Jawohl!", sagte Isis in die Stille hinein und musste unwillkürlich grinsen. Sie hatte den Namen des Verfassers der Tagebuchseiten gefunden.
Wenn sie seinen Namen herausgefunden hatte, dürfte es nicht allzu schwer werden, herausfinden, was dieser Heinrich Kalditz für einen Fund in Moskau gemacht hatte, dass Napoleon es unbedingt besitzen wollte und dafür seine Macht verspielte.
Die fehlenden Tagebuchseiten würden ihr sicherlich weiterhelfen. Aber dieser Kalditz war gewiss nicht der einzige Soldat, der Tagebuch geführt hatte. Irgendeiner der anderen Soldaten musste doch mitbekommen haben, dass es Napoleon nur um irgendeinen Karren samt Inhalt ging. Und genau das würde er niedergeschrieben haben. Diese Tagebücher galt es zu finden.
"Karla!", rief sie und trat an die Treppe. Sie hörte, wie ein Stuhl über den Fußboden rutschte und kurz darauf trat Karla kauend aus der Küche.
"Was ist?", wollte sie mit vollem Mund wissen. Es war ihr deutlich anzusehen und anzuhören, dass ihr die Störung ungelegen kam. Karla mochte es ganz und gar nicht, wenn man sie beim Essen störte. Darauf konnte Isis keine Rücksicht nehmen. Sie wurde schließlich auch am Morgen mit allerhand Belanglosigkeiten vollgeplappert, obwohl sie ihre Ruhe haben wollte.
"Du musst doch noch einen Artikel über die Völkerschlacht schreiben, wenn ich mich recht erinnere. Wie weit bist du damit? Hast du dafür bereits etwas recherchiert?"
"Das steht noch aus", sagte Karla, die ihren Bissen endlich hinuntergeschluckt hatte. "Wieso interessiert dich das?"
Misstrauisch sah sie Isis an, die als erste die Augen senkte und die Treppe runterkam.
Bloß nichts anmerken lassen, sonst blockt Karla alles ab, ging es der Archäologin durch den Kopf.
"Was soll ich für dich recherchieren? Ob irgendwo während der Völkerschlacht ein Schatz vergraben wurde? Ohne mich, dass kannst du selbst herausfinden."
"Ach ja?", fragte Isis leicht gereizt und baute sich vor ihrer Freundin mit verschränkten Armen auf. "Wer hat denn die Tagebuchseiten gefunden und mich um Hilfe gebeten? Wer hat sich dem Schlamassel ausgesetzt und musste gerettet werden? War ich das? Nein, ich war's nicht, sondern Karla, immer wieder Karla."
"Ja, schon gut", gab sich die Wissenschaftsjournalistin geschlagen.
"Schön, du willst wissen, was der Tagebuchschreiber entdeckte und Napoleon unbedingt haben wollte, dass er sich zu der Viermächteschlacht hinreißen ließ - und alles verlor. Deshalb suchst du mir in Augenzeugenberichten und Tagebüchern alles heraus, was du über seltsame Holzkarren, die besonders bewacht wurden, und einen Heinrich Kalditz finden kannst."
"Das muss ich mir aufschreiben", sagte Karla und ging zu einem Regal, in dem ein Notizblock stand. Sie nahm einen Zettel heraus und den Kugelschreiber, der daneben lag in die Hand.
"Kalditz sagtest du. Ist das nicht der Name, den Mona auf einer der Seiten sichtbar gemacht hat?"
"Jein, der Nachname stimmt, aber der Vorname ist ein anderer. Thomas Kalditz war der verstorbene Bruder des Tagebuchschreibers. Außerdem muss einer der Nachfahren ebenfalls diesen Namen erhalten haben. Vielleicht der Sohn oder Enkel, denn die letzte Seite wurde in einer völlig anderen Handschrift, zu einem völlig späteren Zeitpunkt verfasst."
"Wenn ich nach einem anderen Kalditz suchen soll, heißt das, du hast", Karla stockte, "du hast den Namen des Tagebuchschreibers herausbekommen?"
"Ja, das habe ich", erwiderte Isis stolz und wurde sogleich ein paar Zentimeter größer. "Sein Name war Heinrich Kalditz."
"Hör einmal zu, Karla", kam es aus der Küche.
Mona hatte schon immer Karlas Oberflächlichkeit geärgert. Ändern würde es sich wahrscheinlich nicht mehr.
"Der Name stand im Internet auf einer Website, die sich mit dem Bau des Völkerschlachtdenkmals beschäftigt. Er war einer der letzten überlebenden Teilnehmer der Völkerschlacht, die Ehrenmitglieder des Vereins zum Bau eines Völkerschlachtdenkmals wurden."
"Was es nicht alles gibt. Senile Greise werden Ehrenmitglieder, bloß weil sie irgendwo mitgemacht haben, was später von großer Bedeutung war. Aber dieses Mal ist uns das sehr nützlich, nicht wahr, Isis?"
"Richtig, dieses bedeutende Ereignis hat uns den Namen des Tagebuchschreibers gebracht. Und wenn wir den haben, sollte es nicht schwierig sein, weitere Informationen über ihn zu finden, auch wenn uns das allseits geliebte Internet nicht weiterhelfen kann. In irgendeinem Bericht oder Tagebuch wird er wohl vermerkt worden sein."
"Weißt du eigentlich, wie viele Berichte es gibt?"
"So einige, schätze ich", kam es lapidar von Isis, denn sie ahnte, worauf Karla hinauswollte.
"Genau, die kann ich gar nicht alle durchsehen. Da bin ich Weihnachten noch mit beschäftigt - Weihnachten in fünf Jahren."
"Wenn du jeden Eintrag ganz genau liest, wirst du tatsächlich so lange beschäftigt sein, aber wenn du alles überfliegst, brauchst du viel weniger Zeit und hast alles in Nullkommanix durchgearbeitet. Vielleicht hast du Glück und es gibt digitalisierte Berichte und Tagebücher aus der Zeit. Da kannst du mit der Volltextsuche noch viel mehr Zeit einsparen. Du wirst nicht länger als zwei Tage brauchen, wenn überhaupt."
"Es ist immer wieder interessant, wie du einem mit schönen Worten eine lästige Aufgabe überträgst."
"Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann."
Karla sah sie für einen Moment verdutzt hat. Ihre Freundin hatte sie wieder einmal überrumpelt.
"Du verzögerst meinen Artikel über die Völkerschlacht. Aber wenn es digitalisierte Artikel gibt, kannst du diese selbst nach diesem Soldaten überprüfen."
Isis gab sich geschlagen.
"Ja, ja, schon gut. So lange ich nicht deinen Artikel werde schreiben müssen", sagte sie und lief die Treppe hinauf, damit ihre Freundin sie nicht beim Wort nehmen würde.