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6. Der Stand der neuesten Historiographie
ОглавлениеIn jüngster Zeit hat die österreichische Freimaurerforschung besonders intensiv publiziert und wichtige Forschungslücken schließen können, vor allem sind auch umfangreichere Monographien herausgekommen. Die Veröffentlichungen weisen ein sehr professionelles und qualitativ hochwertiges wissenschaftliches Niveau auf, das durchaus mit profanen Forschungen Schritt halten kann. Bedeutsam war in diesem Zusammenhang auch die Auffindung des Wiener Großlogenarchivs im Deutschen Sonderarchiv in Moskau. Helmut Reinalter hat hier gleich nach der Wende mit Genehmigung der Russischen Akademie der Wissenschaften die Freimaurerakten eingesehen und sie als ehemaliges Archiv der Großloge von Wien identifiziert. Ein Teil dieser Akten (leider mit vielen Duplikaten) kam dann über Initiative von Stefan Karner und Bernd Gallob in Kopien zurück in das Archiv der Großloge von Wien. Helmut Reinalter stellte den Aktenfund auch im Detail dem Großbeamtenrat der Großloge von Wien in schriftlicher Form vor.
Unter den neuesten Forschungen müssen vor allem die beiden Historiker Helmut Reinalter45 und Marcus G. Patka46 genannt werden. Marcus Patka war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Exil im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands und ist seit 1989 Kurator am Jüdischen Museum Wien. Dort ist er zuständig für Ausstellungen, den Aufbau des digitalen Medienarchivs und für Kultur- und Zeitgeschichte. Seit 2012 ist er auch am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien als Dozent tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die jüdische Geschichte, der Nationalsozialismus und die Exilgeschichte. Helmut Reinalter war bis zu seiner Emeritierung Prof. für Geschichte der Neuzeit und Politische Philosophie an der Universität Innsbruck, leitete dort viele Jahre die internationale Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa“ und gründete 2000 das private Forschungsinstitut für Ideengeschichte, das sich neben der Demokratieforschung auch mit der Erforschung der Freimaurerei und Geheimgesellschaften beschäftigt.47 Seine Forschungsschwerpunkte umfassen neben der Freimaurerei, Ideengeschichte, Politische Geschichte, Sozialgeschichte, Politische Philosophie, Ethik und Theorien und Methoden der Geisteswissenschaften. Er war auch vorübergehend Leiter der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Freimaurerei, die zu einer überregional bedeutsamen Forschungseinrichtung und Koordinierungsstelle geworden ist, aber dann leider nach einigen Jahren aufgelöst werden musste. Er war 15 Jahre Leiter der Freimaurerakademie der Großloge von Österreich und wurde zum Ehrenmitglied der Großloge ernannt. Im Rahmen des Instituts für Ideengeschichte gibt er auch die Zeitschrift für Internationale Freimaurer-Forschung48 und vier wissenschaftliche Reihen, „Quellen und Darstellungen zur europäischen Freimaurerei“49, „Interdisziplinäre Forschungen“50, „Schriftenreihe der Forschungsstelle Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770–1848/49“ und gemeinsam mit Anton Pelinka die Reihe „Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit“ heraus.51 Von ihm sind ab 1982 mehrere Monographien zur Freimaurerei erschienen52, wie: Geheimbünde in Tirol. Von der Aufklärung bis zur Französischen Revolution, Bozen 1982 (2. Aufl., Innsbruck 2011); Die Rolle der Freimaurerei und Geheimgesellschaften im 18. Jahrhundert, Innsbruck 1995; Die Freimaurer, München 2000 (7. Aufl. 2016, Türkische Lizenzausgabe 2008 und Japanische Lizenzausgabe 2016, Bestseller); Reflexive Aufklärung als Denkmodell für Freimaurer, Wien 2004; Aufklärung und Moderne, Innsbruck 2008; Die Weltverschwörer. Was Sie eigentlich alles nie erfahren sollten, Salzburg 2010 (Bestseller); Aufklärungsdenken und Freimaurerei, Zürich 2014; Der aufgeklärte Mensch. Das neue Aufklärungsdenken, Würzburg 2016 (2. Aufl. 2016); Aufklärung, Humanität und Toleranz. Die Geschichte der österreichischen Freimaurerei im 18. Jahrhundert, Innsbruck 2017; Freimaurerei, Politik und Gesellschaft. Die Wirkungsgeschichte des diskreten Bundes, Wien 2018 und Die Zukunft der Freimaurerei, Leipzig 2018.
Auch als Herausgeber von Sammelbänden und Akteneditionen war Helmut Reinalter sehr aktiv. Zu nennen wären hier vor allem: Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa, Frankfurt / M. 1983 (4. Aufl. 1996); Joseph II. und die Freimaurer im Lichte zeitgenössischer Broschüren, Wien-Köln-Graz 1987; Joseph von Sonnenfels, Wien 1988; Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert, München 1989; Die Aufklärung in Österreich. Ignaz von Born und seine Zeit, Frankfurt / M. – Bern – New York – Paris 1991; Die Zukunft der Freimaurerei, Lausanne 1992; Aufklärung und Geheimgesellschaften: Freimaurer, Illuminaten und Rosenkreuzer – Ideologie, Struktur und Wirkungen, Bayreuth 1992; Aufklärungsgesellschaften, Frankfurt / M. – Bern – New York – Paris – Wien 1993; Freimaurerische Historiographie im 19. und 20. Jahrhundert, Forschungsbilanz – Aspekte – Problemschwerpunkte, Bayreuth 1996; Der Illuminatenorden (1776–1785/87). Ein politischer Geheimbund der Aufklärungszeit, Frankfurt / M. – Berlin – Bern – New York – Paris – Wien 1997; Freimaurerische Wende vor 200 Jahren: 1798 – Rückbesinnung und Neuanfang, Köln 1998; Die deutschen und österreichischen Freimaurerbestände im Deutschen Sonderarchiv in Moskau (heute Aufbewahrungszentrum der historisch-dokumentarischen Kollektionen), Frankfurt / M. 2002; Handbuch der freimaurerischen Grundbegriffe, Innsbruck 2002; Verschwörungstheorien. Theorie – Geschichte – Wirkung, Innsbruck 2002; Typologien des Verschwörungsdenkens, Innsbruck- Wien- München – Bozen 2004; Freimaurerische Kunst – Kunst der Freimaurerei, Innsbruck 2005; Mozart und die geheimen Gesellschaften seiner Zeit, Innsbruck 2006 (Türkische Lizenzausgabe und Übersetzung 2010); Selbstbilder der Aufklärung, Innsbruck 2007; Freimaurerei und europäischer Faschismus, Innsbruck – Wien – Bozen 2009; Wege und Hindernisse religiöser Toleranz. Zur friedenschaffenden Kraft der Religionen, Weimar 2013; Freimaurerische Persönlichkeiten in Europa, Innsbruck 2014; Freimaurer und Geheimbünde im 19. und 20. Jahrhundert, Innsbruck 2016; Deutsche und österreichische Freimaurer-Forscher, Innsbruck 2016; Freimaurerei. Geheimnisse – Rituale – Symbole. Ein Handbuch, Leipzig 2017; Handbuch der Verschwörungstheorien, Leipzig 2018; Freimaurerische Texte. Ein wissenschaftliches Lesebuch, Innsbruck 2020; Geheimbünde, Ditzingen 2020; Die Geschichte der Freimaurerei in den europäischen Staaten, Innsbruck 2020.53 Mit der Monographie „Freimaurerei, Politik und Gesellschaft“ liegt nun die erste moderne und wissenschaftlichen Standards entsprechende umfassende Wirkungsgeschichte der Freimaurerei vor. In zwei Bänden wird demnächst auch die Geschichte der österreichischen Freimaurerei abgeschlossen sein. Der erste Band, der bereits erschienen ist, behandelt das 18. Jahrhundert, der zweite Band das 19. und 20. Jahrhundert. Dazu kommen noch zahlreiche kleinere Studien und Aufsätze, darunter auch Lexikonbeiträge mit den Themenschwerpunkten Freimaurerei und Aufklärung, Französische Revolution, Josephinismus, Freimaurerische Historiographie, Forschungs- und Literaturberichte, Nationalsozialismus, Verschwörungstheorien, Aufgeklärte Sozietäten, Geheimbünde, Demokratie, Mozart, Ignaz von Born, Modernisierung, Biographien, Forschungs- und Literaturberichte, „Reflexive“ Aufklärung, Vernunft und Vernunftkritik, Lebenskunst, Symbolik und Ritualistik, Esoterik und Hermetik, freimaurerische Grundbegriffe und Ziele, Projekt Weltethos, Ursprünge und Anfänge der europäischen Freimaurerei u.a.m.54
Marcus G. Patka, Mitglied und Leiter der Forschungsloge Quatuor Coronati Wien, veröffentlichte vor allem zeitgeschichtliche Bücher zur österreichischen Freimaurerei. Zwei Werke von ihm sind besonders hervorzuheben: „Österreichische Freimaurer im National-sozialismus. Treue und Verrat“ und „Freimaurerei und Sozialreform. Der Kampf für Menschenrechte, Pazifismus und Zivilgesellschaft in Österreich 1868–1938“.55 Mit diesen beiden Publikationen hat Patka eine Forschungslücke in der freimaurerischen Historiographie geschlossen, zumal vom Autor wichtiges Quellenmaterial verwendet wurde. Darüber hinaus hat er eine ganze Reihe von wichtigen Aufsätzen zur österreichischen Bruderkette geschrieben, darunter auch im Jahrbuch der Quatuor Coronati Wien.56 Mehrere freimaurerische Publikationen verdanken wir auch dem Historiker Rainer Hubert, der Meister vom Stuhl der Quatuor Coronati Loge war und neben Hans Wagner und Ernest Krivanec sich um den Aufbau dieser Deputationsloge Verdienste erwarb. Er verfasste mehrere kleinere Studien und publizierte Aufsätze im Quatuor Coronati-Jahrbuch und in Ausstellungskatalogen. Er kuratierte auch mehrere Sonderausstellungen im Freimaurermuseum Schloss Rosenau57.
Der Schriftsteller und ehemalige Großmeister der Großloge von Österreich, Axel Giese, verfasste zwei Bücher über die Freimaurerei als Einführung.58 Er gab auch den Reprint „Journal für Freimaurer“ 1988 heraus. Auch Norbert Knittler hat sich in zwei Bänden mit der Geschichte der österreichischen Freimaurerei während des Nationalsozialismus und mit Briefen aus der Emigration nach 1945 beschäftigt.59 Eugen Semrau beschäftigte sich in einem spannenden Buch, das 2021 herausgekommen ist, mit den Einflüssen der Esoterik auf die Entwicklung der Wiener Moderne.60 Günter K. Kodek hat die Chronik der Freimaurerei in Österreich und die Mitglieder der österreichischen Freimaurer-Logen zusammengefasst und damit eine wichtige Grundlage für künftige Forschungen geschaffen. Insgesamt sind von ihm sechs Bände erschienen.61 Robert A. Minder veröffentlichte 2004 ein Lexikon über Freimaurer als Politiker.62 Dieses Lexikon wurde nach einer Einleitung über die Frage, wie viel Macht die Freimaurer haben, nach Ländern gegliedert: England, Irland, Schottland, Frankreich, Benelux-Staaten, Deutschland, Italien, Österreich, Ungarn, Tschechien und Slowakei, Schweiz, Skandinavien, Spanien, Portugal, Osteuropa, Griechenland, Türkei, Israel, Nordamerika, Zentral- und Südamerika, Asien, Afrika, Australien und Neuseeland. Erwähnt werden auch die freimaurerischen Nobelpreisträger. 2011 erschien die zweite Auflage des vom ehemaligen Großmeister Michael Kraus herausgegebenen Buches „Die Freimaurer“, in dem mehrere wichtige Themenbereiche der Bruderkette bearbeitet wurden. Vor allem geht es darin um die Beantwortung der Frage, was Freimaurerei überhaupt heute bedeutet. Die einzelnen Beiträge sind von verschiedenen Brüdern der Bruderkette verfasst worden. Die einzelnen Kapitel befassen sich mit Wesen und Werte, mit dem Innenleben der Logen, mit dem Verhältnis der Freimaurerei zu Religion, Politik, Neoliberalismus, Fundamentalismus und Aufklärung, mit der Entwicklung der Freimaurerei in Österreich und mit einem Überblick über die Weltfreimaurerei.63 Erst vor kurzem legte Michael Heinrich Weninger ein umfangreiches und sehr detailliertes Werk über das Verhältnis der regulären Freimaurerei zur katholischen Kirche vor.64 Weninger hat alle wesentlichen Quellen aus dem Vatikan und aus den österreichischen und deutschen Freimaurer-Archiven für sein Buch herangezogen und verwertet. Es ist ihm gelungen, das komplexe Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Freimaurerei historisch überzeugend darzustellen. Aus Anlass „300 Jahre Freimaurer“ fand schließlich in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien eine Ausstellung 2017/2018 statt, zu der auch ein stattlicher Katalog erschienen ist, der sich u.a. mit Legenden und Fakten, Aufklärern, Verschwörungstheorien und mit der Zukunft der Freimaurerei beschäftigt.65 Im Studienverlag in Innsbruck sind in der „Edition zum rauhen Stein“, herausgegeben von Michael Kernstock, mehrere Reprints von älteren Büchern über die Freimaurerei herausgekommen.66
Bei diesem Forschungsüberblick wurde eine repräsentative Auswahl an Publikationen über die Freimaurerei getroffen. Alle Veröffentlichungen konnten leider nicht berücksichtig werden, die wichtigsten Forschungen wurden aber erwähnt und dokumentiert. Hilfreich ist hier vor allem der Sammelband „Deutsche und österreichische Freimaurerforscher“, der die wichtigsten Historiographen biographisch mit ihren Werken vorstellt.67 Dieser Sammelband wurde aus Anlass des 300. Gründungstages der Großloge von England von Helmut Reinalter herausgegeben. Es geht darin um eine Würdigung der wissenschaftlichen Bedeutung, deutscher, schweizerischer und österreichischer Freimaurerforscher. Der Zeitraum der berücksichtigten Persönlichkeiten reicht vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Ihre Bedeutung für die masonische Geschichtsschreibung ist weitgehend unbestritten, auch wenn diese methodisch und theoretisch verschieden gearbeitet und divergierende Ansichten über die Freimaurerei entwickelt haben. Zweifelsohne handelt es sich bei diesem Band um ein wissenschaftliches Desiderat und um eine wichtige historiographische Grundlage für weitere masonische Forschungen.