Читать книгу Verbot, Verfolgung und Neubeginn - Helmut Reinalter - Страница 16

9. Richtungen, Schulen und Tendenzen der Geschichtsschreibung

Оглавление

Für die historische Forschung sind auch die verschiedenen neuen Richtungen innerhalb der Geschichtswissenschaft wichtig geworden.76 In der neueren Geschichtswissenschaft erlangte die wirklichkeitsbegründende Kraft von Vorstellungen, mit denen frühere Gesellschaften ihre Welt für sich bedeutungsvoll machten, immer mehr an Boden, wobei einzelne Beobachtungen oft mit den Annahmen einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie übereinstimmen. Dass die Welt des Menschen deren Konstruktion ist, scheint plausibel und hat in der Historikerzunft bereits Fuß gefasst. Es fehlen aber noch Versuche, solchen Einsichten einen stärkeren theoretischen Rahmen zu geben. Gibt es überhaupt eine konstruktivistische Geschichtsschreibung, ein Modell, das in der Lage wäre, verschiedene Methoden und Betrachtungsweisen zu integrieren? Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass in der Geschichtswissenschaft die Ebene der Beschreibung mit der eigentlichen Ebene der Realität zusammenläuft. Da funktionierende Modelle keinen Aufschluss darüber geben, wie die Welt wirklich beschaffen ist, beschreiben sie nur einen gangbaren Weg. In einer konstruktiven Historiographie wird zwar auch gesehen, dass Menschen in der Vergangenheit anders lebten, handelten und dachten als in der Gegenwart, eine objektive Kenntnis historischer Ereignisse, Zusammenhänge oder Weltbilder ist aber dem Historiker/ der Historikerin und den damals handelnden Personen unzugänglich. Darauf folgt, dass die Produkte der Arbeit des Historikers/ der Historikerin nicht davon ausgehen können, eine Abbildung von geschichtlicher Realität zu sein. Historische Forschungsergebnisse sind lediglich Konstrukte, die in keiner Repräsentationsbeziehung zu einer historischen Wirklichkeit stehen. Selbstverständlich existieren aber Qualitätsunterschiede zwischen historiographischen Konstrukten.

Wenn die Historiographie auf die Einsichten des Konstruktivismus ernsthaft eingeht, so müsste dies auch Konsequenzen auf die Konzeption des Gegenstandsbereichs der Geschichte haben. Wenn Realität auf die Ebene der Beschreibung verlagert wird, dann ergibt sich daraus, dass neben den faktischen Ereignissen auch deren Wahrnehmung durch die Zeitgenossen in das Blickfeld des Historikers rückt. Ideologien, Werte, Normen, Einstellungen und Gefühle werden zwar heute von der Mentalitäts- und Alltagsgeschichte genauer untersucht, doch gilt der Status der „perzipierten Wirklichkeit“ gegenüber der tatsächlichen geschichtlichen Wirklichkeit solange als sekundär und subsidiär, wie die Erkennbarkeit des objektiven historischen Geschehens nicht grundsätzlich bezweifelt wird. Aus konstruktivistischer Perspektive wird in diesem Zusammenhang vor allem betont, dass durch verzerrte Wahrnehmungen, durch Vorurteile und durch aus heutiger Sicht überholte Theorien Ansichten der Zeitgenossen als kognitive Wirklichkeit gesehen werden, auch dann, wenn neue Forschungen ein anderes Bild dieser Wirklichkeit entwerfen.77

Solche Unterschiede zwischen der Sicht der Akteure in der Geschichte und dem Geschichtsmodell, das ein Historiker heute von den gleichen geschichtlichen Ereignissen konstruiert, werden sehr verschieden bewertet. Die an mentalitäts- und alltagsgeschichtlichen Themen interessierte Historiker/innen entscheiden sich z.B. bewusst für die Wirklichkeitssicht der Zeitgenossen als historischen Forschungsgegenstand, weil sie auch der Perzeption von Wirklichkeit historische Realität zusprechen. Sozial- und Wirtschaftshistoriker/innen wiederum beurteilen verzerrte und uniformierte Ansichten von Zeitgenossen kritisch bis abschätzig. In einer konstruktivistischen Geschichtswissenschaft verstehen sich die jeweiligen Forschungsergebnisse gleichermaßen als Konstrukte des/der Historikers/in und können sinnvoll aufeinander bezogen werden. Die Perspektiven sind komplementär, weil die Konstrukte, die sich auf die Wirklichkeitssicht der Zeitgenossen beziehen bzw. die Modelle, die Historiker/innen von geschichtlichen Ereignissen entwerfen, zunächst lediglich unterschiedliche Gegenstände beschreiben. Allerdings wird dabei die jeweilige Wirklichkeitsperzeption der Handelnden stark aufgewertet, weil ihnen eine Realität sui generis zugeschrieben wird. Bei der Differenzierung zwischen der faktischen Ebene der Geschichte und der historischen Wirklichkeitsperzeption der Beteiligten stellt sich die Frage, ob historische Theorien die Wirklichkeitssicht der Zeitgenossen oder die historischen Umstände erfasst werden. Mit Hilfe sozialwissenschaftlicher und historischer Methoden können zwar Hypothesen entwickelt werden, welche Ursachen beispielsweise eine Wirtschaftskrise hatte und in welchem Ausmaß gesellschaftlicher Aufstieg in bestimmten Berufen möglich war. Die Entscheidungen von einzelnen Personen, bestimmte Berufe zu ergreifen, können aber besser durch konstruktivistische Konzepte der Ideengeschichte geklärt werden.

Wolfgang J. Mommsen hat 1988 betont, dass eine Rekonstruktion der mentalen Horizonte und Weltbilder der Akteure sehr wichtig sei, um die Zielsetzung von Handlungen besser zu verstehen.78 Dieser Auffassung ist zuzustimmen, weil die Beschäftigung mit Theorien, Modellen, Methoden und dem Wissensstand, mit denen Menschen in verschiedenen historischen Epochen umgingen, stärker in den Bereich der Geistes- und Mentalitätsgeschichte gehört.

Die Gründung der Neuen Geschichtswissenschaften ist eng mit der „Historischen Sozialwissenschaft“ verbunden, ein Begriff von Hans-Ulrich Wehler, der zur Umschreibung eines neuen geschichtswissenschaftlichen Paradigmas dient und der sich kritisch gegen traditionelle Geschichtsschreibung wendet. Auch der Schule der „Annales“ kommt hier große Bedeutung zu. Die Historische Sozialwissenschaft untersucht in erster Linie Strukturen und Prozesse als Bedingungen und Folgen von Ereignissen, Entscheidungen und Handlungen. Diese Richtung beruft sich auf den deutschen Soziologien Max Weber79, insbesondere auf dessen Gesellschaftsbegriff und erachtet die Anwendung theoretischer Modelle im Sinne von „Idealtypen“ als notwendig. Die Historiographie wird hier als eine spezifische soziale Wissenschaft verstanden. Die Wissenschaftlichkeit misst sich demnach an der Fähigkeit, Ereignisse mit Hilfe von idealtypischen Begriffen zu erklären.80 Als Lucien Febvre und Marc-Bloch 1929 in Straßburg eine Zeitschrift gründeten, waren ihre Motive sehr vielfältig. Die Geschichtsschreibung sollte aus ihrer Routine und inneren Erstarrung herausgeführt und ihre Ghettoisierung beendet werden. Febvre empfahl 1932, die alten überholten Schranken niederzureißen, die babylonischen Anhäufungen von Verurteilten, eingefahrenen Verhaltensweisen, irrigen Auffassungen und falsch Verstandenem abzuwerfen. Darüber hinaus wollten beide zwei Forschungsinteressen verstärken: die Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Dieser Ansatz wurde dann durch neue Fragestellungen und Methoden, z.B. im Hinblick auf die Demokratie, die Religionsgeschichte und die Sozialgeschichte, zu einer Historischen Anthropologie erweitert.81

Verbot, Verfolgung und Neubeginn

Подняться наверх